L 11 SB 35/03 -26

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
11
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 5 SB 112/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 11 SB 35/03 -26
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 15. Mai 2003 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung der Bescheide vom 6. Juli 2000 und 17. Mai 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2001 verurteilt, bei der Klägerin ab Antragstellung einen GdB von 70 und ab dem 1. Mai 2006 einen GdB von 80 festzustellen. Die auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" gerichtete Klage wird abgewiesen. Der Beklagte trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin der ersten Instanz. Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen

Tatbestand:

Streitig sind die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) sowie die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" – Befreiung von der Rundfunk- und Fernsehgebührenpflicht -.

Bei der Klägerin war durch (Teilabhilfe)Bescheid des Amtes für Soziales und Versorgung Frankfurt (Oder) vom 2. September 1992 ein GdB von 40 wegen folgender Behinderungen festgestellt worden: 1. Arthrose des rechten Kniegelenks, Krampfadern - GdB 30 - 2. Hypertonie - GdB 20 - 3. Hörstörung rechts mit Tinnitus - GdB 10 -.

Am 24. Februar 1999 stellte die Klägerin einen neuen Antrag auf Feststellung von Behinderungen und verwies auf ein im Rahmen eines Verfahrens nach dem Gesetz über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche (Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz – VwRehaG -) erstelltes Gutachten des Prof. Dr. F vom 15. September 1998, nach welchem ein GdB von 70 angemessen sei. Nachdem in dem Verfahren nach VwRehaG aufgrund "psychotraumatisch eingeengtes Denken und Neigung zu funktionellen Störungen besonders des Magens" eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H. festgestellt und daraus resultierend Rente ab 1. Juli 1994 zuerkannt worden war (Ausführungsbescheid vom 27. April 2000), stellte der Beklagte mit Bescheid vom 6. Juli 2000 nunmehr einen GdB von 50 wegen nachfolgender

Behinderungen fest: 1. Arthrose des rechten Kniegelenks, Krampfadern - GdB 30 – 2. Psychotraumatisch eingeengtes Denken und Neigung zu funktionellen Störungen besonders des Magens - GdB 30 - 3. Hypertonie - GdB 20 - 4. Hörstörung rechts mit Tinnitus - GdB 10 -.

Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen "G") wurde verneint.

In ihrem Widerspruch verwies die Klägerin erneut auf die Feststellungen des Prof. Dr. F und hielt einen GdB von 50 für nicht ausreichend. Nicht berücksichtigt worden sei, dass sie an Migräne, Schwindel, Kniegelenksarthrose beidseits, Harn- und Stuhlinkontinenz, Schwellungen beider Handgelenke und einem Zustand nach Entfernung von Nierensteinen leide. Laufen, Stehen, Gehen und Sitzen seien ihr jeweils nur kurzzeitig möglich. Ihr seien die Merkzeichen "G" und "RF" zuzuerkennen. Der Beklagte holte daraufhin ärztliche Auskünfte des Orthopäden Dr. K vom 6. Oktober 2000, der HNO-Ärztin Dr. S vom 18. September 2000 sowie der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. W vom 20. Dezember 2000 ein. Am 17. Mai 2001 erging ein Abhilfebescheid, mit welchem ab Antragstellung ein GdB von 60 festgestellt wurde wegen folgender Behinderungen: • Funktionseinschränkung beider Beine - GdB 30 - • Bescheid nach dem VwRehaG vom 22. April 2000 - GdB 30 - • Hörminderung beidseits, Tinnitus - GdB 30 - • Hypertonie - GdB 20 - • Diabetes mellitus - GdB 10 -. Die beantragten Merkzeichen "G" und "RF" wurden nicht zuerkannt. Nach Beiziehung der Akten zum VwRehaG wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2001 im Übrigen zurück

Mit ihrer Klage hiergegen vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat die Klägerin ihr Begehren aus dem Verwaltungsverfahren weiter verfolgt. Aufgrund ihrer Leiden sei sie auf Dauer nicht mehr in der Lage, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. An Veranstaltungen habe sie schon seit längerem nicht mehr teilnehmen können, Rundfunk und Fernsehen seien ihre einzige Verbindung nach außen.

Das Sozialgericht hat zunächst die Versorgungsakten (VwRehaG) beigezogen und Befundberichte des behandelnden Lungenfacharztes Dr. C vom 27. Mai 2002, des Orthopäden Dr. K vom 1. Juni 2002 sowie der Allgemeinmedizinerin Dipl.-Med. W vom 11. Juli 2002 eingeholt. Anschließend hat Dr. M im Auftrag des Gerichts ein nervenärztliches Gutachten erstellt. In dem Gutachten vom 18. Januar 2003 gelangt dieser zu dem Ergebnis, auf seinem Fachgebiet seien folgende Gesundheitsstörungen festzustellen: • Posttraumatische Belastungsstörung • Anhaltende somatoforme Schmerzstörung • Gehemmt bis offen verbal aggressiv gestörte Persönlichkeit, was im Wesentlichen dem im Bescheid festgestellten "psychotraumatisch eingeengten Denken und Neigung zu funktionellen Störungen besonders des Magens" entspreche. Dem Abhilfebescheid vom 17. Mai 2001 sei nichts hinzuzufügen, der GdB sei zutreffend mit 60 eingeschätzt worden. Das Gehvermögen der Klägerin werde im Wesentlichen erheblich durch eine Funktionseinschränkung der Beine (Arthrose der Kniegelenke) und ein enormes Übergewicht (130 kg bei 160 cm) mit den entsprechenden Behinderungen der Beweglichkeit eingeschränkt. Sie könne sich nur über kurze Strecken kleinschrittig und rasch aus der Puste kommend voran bewegen. Ihre Körperfülle erlaube es nicht, in übliche Busse oder Bahnen ein- oder aussteigen zu können. Wegstecken von mehr als 50 Metern bewältige sie mit Hilfe eines Gehwagens, auf längeren Wegen bedürfe sie einer Begleitung. Ihre im Laufe der Jahre entwickelte krankhafte Abneigung gegen andere Menschen und Schwierigkeiten, Harn oder Äußerungen ihres Magenleidens unter Kontrolle zu halten, hinderten sie neben ihrer reduzierten Mobilität daran, ihre Häuslichkeit zu verlassen. Sie halte es auch nicht lange im Stehen oder Sitzen aus. Aufgrund der psychischen Störungen mit einem über Jahre gleich bleibend hohen Körpergewicht könne die Klägerin auch weiterhin dauerhaft nicht an öffentlichen Veranstaltungen jeglicher Art teilnehmen. Die Merkzeichen "G" und "RF" seien daher gerechtfertigt.

Mit Urteil vom 15. Mai 2003 hat das Sozialgericht Frankfurt (Oder) den Beklagten verurteilt, unter Änderung der angefochtenen Bescheide bei der Klägerin einen GdB von 80 ab Februar 1999 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "RF" festzustellen. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und unter Berücksichtigung des schon 1998 von Prof. Dr. F erstellten Gutachtens sei ein GdB von 80 gerechtfertigt. Im Gegensatz zu den Schlussfolgerungen des Dr. M halte das Gericht nach den Maßgaben auf Seite 60 der "Anhaltpunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996" (AHP 1996) einen GdB von 40 für die Schädigungsfolgen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet für angemessen. Damit lasse sich ein GdB von 80 insgesamt begründen. Im Übrigen seien die Merkzeichen "RF" und "G" zuzuerkennen. Bereits in dem Gutachten des Dr. T vom 6. Januar 2000 (im Rahmen des Verfahrens nach dem VwRehaG) sei beschrieben worden, wie zurückgezogen die Klägerin lebe und dass sie das Haus kaum verlasse. Dr. M weise auf die krankhafte Abneigung der Klägerin gegenüber anderen Menschen, ihre Schwierigkeiten, Harn und Magengeräusche/Aufstoßen zu kontrollieren sowie ihre erheblichen Fortbewegungsschwierigkeiten aufgrund der Arthrosen sowie der Adipositas hin. Aufgrund des Eindrucks, den die Kammer in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin gewonnen habe, habe die Kammer keinen Zweifel daran, dass die Klägerin dauerhaft daran gehindert sei, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen. Die Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Gliedmaßen im Zusammenhang mit der Adipositas per magna und den degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule rechtfertigten darüber hinaus die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr.

Gegen das am 6. Oktober 2003 zugestellte Urteil richtet sich die am 30. Oktober 2003 eingelegte Berufung des Beklagten insoweit, als ein GdB von 80 sowie das Merkzeichen "RF" zuerkannt worden sind. Es sei aufgrund der vorliegenden Gutachten nicht nachvollziehbar, dass das Sozialgericht zu einem GdB von 80 gelangt sei. vertretbar sei allenfalls ein GdB von 70. In Würdigung der gesamten Sachlage sei auch das Merkzeichen "G" noch vertretbar. Jedoch könne allein aufgrund des Umstandes, dass die Klägerin zurückgezogen lebe, das Haus kaum verlasse und eine krankhafte Abneigung gegen andere Menschen habe, "RF" nicht zuerkannt werden. Medizinisch sei sie sehr wohl in der Lage, das Haus zu verlassen.

Die Klägerin hält das erstinstanzliche Urteil demgegenüber für zutreffend. Allein wegen ihrer Elefantenbeine und der inneren Leiden könne sie Fußwege ohne Schmerzen, Atemnot und Angstzustände nicht mehr zurücklegen und an öffentlichen Veranstaltungen nicht mehr teilnehmen. Sie leide an ständigen Schmerzen sowie einer Inkontinenz. Sie müsse häufig zur Toilette und schaffe es wegen der Probleme beim Aufstehen oft kaum dorthin. Selbst wenn sie die Schmerzen auf sich nähme, wäre ihr die unvermeidliche Geruchsbelästigung peinlich. Zudem bekomme sie bei Ansammlungen vieler Menschen und geschlossenen Räumen, in denen man keine Luft bekomme, Panik und Beklemmungsgefühle. Schließlich hätten sich die Gesundheitsstörungen verschlimmert. Sie sei inzwischen Rollstuhlfahrerin.

Das Gericht hat zunächst die Akte des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) zum Rechtsstreit S 5 VU 24/00 beigezogen und Befundberichte der Urologen Dr. D/Dipl.-Med. T vom 20. Februar 2004 (Konsultation 2000 wegen akuter Schmerzen), der Allgemeinmedizinerin Dipl.-Med. W vom 24. Februar 2004, der HNO-Ärztin N vom 5. März 2004 (leichte Hörverschlechterung), der Augenärztin Dr. Z vom 5. März 2004 (korrigierter Visus bds. 0,8 und Fundus hypertonicus I-II) und 26. September 2004 (korrigierter Visus bds. 0,7 und Fundus hypertonicus II), des Orthopäden Dr. B vom 20. September 2004 (Behandlung erst seit Juli 2004), des Chirurgen Dr. K vom 30. September 2004 (einmalige Konsultation wegen Fettschürzenoperation) sowie des Chirurgen Dr. W vom 18. Oktober 2004 (massive Fettleibigkeit) eingeholt.

Der Beklagte hat daraufhin die Auffassung vertreten, aufgrund einer Sehverschlechterung könne diese nun mit einem GdB von 10 berücksichtigt werden. Dies führe allerdings nicht zu einem höheren Gesamt-GdB als 60.

Das Gericht hat in der Folge Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens von dem Sozialmediziner Dr. A-S. In seinem Gutachten vom 3. Mai 2006 gelangt der Sachverständige zu dem Ergebnis, bei der Klägerin lägen folgende gesundheitliche Beeinträchtigungen vor: a) Psychische Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung mit anhaltendem somatoformen Schmerzsyndrom - GdB 40 – b) Funktionsbehinderung beider Beine - GdB 40 – c) Degeneratives Wirbelsäulensyndrom mit mittleren funktionellen Auswirkungen in mindestens 2 Abschnitten - GdB 30 – d) Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen - GdB 30 - e) Bluthochdruckkrankheit - GdB 20 - f) Diabetes mellitus, mit Diät und oralen Antidiabetika eingestellt - GdB 10 - g) Sehbehinderung - GdB 10 -. Vordergründig sei vom Beklagten das Ausmaß der Gang- und Standunfähigkeit nicht ausreichend gewürdigt worden. Hier handele es sich um hochgradige Gon- und Retropatellararthrosen sowie monströse Lip- und Lymphödeme im Sinne einer Elephantiasis, die zu einer hochgradigen Funktionseinschränkung der Beine führe. Erschwerend trete das chronische Überlastungssyndrom als Folge der Adipositas hinzu. Dies sollte mit einem Einzel-GdB von 40 bewertet werden. Als vollkommen neuer Aspekt sei ein schwerwiegendes Wirbelsäulensyndrom zu berücksichtigen, das mehrere Abschnitte des Achsenskeletts betreffe und für das röntgenologisch ein ausreichendes morphologisches Korrelat gesichert sei. Hierfür sei ein GdB von 30 gerechtfertigt. Unter Berücksichtigung der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit sei der Gesamt-GdB seit Februar 1999 mit 80 einzuschätzen. Aus sozialmedizinischer Sicht sei die Klägerin im Weiteren dauerhaft daran gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.

Daraufhin hat der Beklagte ein Teilanerkenntnis dergestalt abgegeben, dass er sich verpflichtet, die angefochtenen Bescheide aufzuheben und neu zu entscheiden. Hierbei werde davon ausgegangen werden, dass der GdB ab 1. Mai 2006 70 betrage. Die Voraussetzungen für "RF" sowie für einen GdB von 80 lägen nicht vor.

Auf Anforderung des Gerichts hat Dr. A-S mit ergänzender Stellungnahme vom 14. September 2006 die bisher nicht beantworteten Beweisfragen zum Merkzeichen "RF" beantwortet. Unter Bezugnahme auf das ihm vom Gericht übersandte Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. August 1993 – 9/9a RVs 7/91 – hat er ausgeführt, die Klägerin sei trotz eingeschränkter Gang- und Standfähigkeit mit breitbeinig und verlangsamtem Schonhumpeln beidseits durch Unterhaken bei einer Begleitperson oder Zuhilfenahme von Unterarmgehstützen oder eines Rollators in der Lage, Fußwege von 200 bis 300 Metern zurückzulegen. Auch unter Berücksichtigung der psychischen Störungen sei davon auszugehen, dass sie sich länger – ca. 1 Stunde – ununterbrochen in Räumen mit Menschenansammlungen aufhalten könne. Im Vordergrund der psychischen Störung stehe neben der affektiven Labilität mit leichter psychomotorischer Unruhe die Manifestation einer multilokulären somatoformen Schmerzstörung und weniger die von ihr geschilderten Panikattacken. Die Verhaltensauffälligkeiten könnten von ihr unter zumutbarer Willensanstrengung soweit kontrolliert werden, dass ein Aufenthalt in Räumen mit Menschenansammlungen durchaus möglich sei. Wegen des extremen Übergewichts sei die Klägerin nicht in der Lage, länger als 1 Stunde auf einem Standardsessel auszuharren. Auch die degenerativ bedingten Wirbelsäulen- und Gelenkschmerzen verhinderten ein längeres Verharren in Zwangshaltung, so dass die Klägerin zum vorübergehenden Aufstehen gezwungen sei. Über die Dauer einer Pause von 15 Minuten sei sie auch in Massenveranstaltungen in der Lage, sich selbstverantwortlich zu orientieren. Unter Benutzung eines Kraftfahrzeuges mit Begleitperson könne die Klägerin auch wieder vom Veranstaltungsort nach Hause gelangen. Die Teilnahme der Klägerin an einer einstündigen öffentlichen Veranstaltung sei denkbar, wenn sich die Klägerin jeweils auf den äußeren Stühlen einer Sitzreihe platziere, sich vorübergehend immer wieder aufstelle und an die jeweilige Wand lehne. Er nehme daher von seiner bisherigen Beurteilung zu "RF" Abstand.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichtes Frankfurt (Oder) vom 15. Mai 2003 zu ändern und die Klage insoweit abzuweisen, als ab Februar 1999 ein GdB von 80 statt 60 und ab 1. Mai 2006 ein GdB von 80 statt 70 sowie das Merkzeichen "RF" zuerkannt worden sind.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Ausführungen des Sachverständigen Dr. A-.S in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 14. September 2006 für nicht nachvollziehbar und teilweise falsch. Das Urteil des BSG vom 10. August 1993 sei vorliegend nicht anwendbar, denn die Sachverhalte seien nicht vergleichbar. Es gehe hier nicht darum, was der Öffentlichkeit und ihr zugemutet werden könne, sondern dass sie aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigungen sowie ihrer Angstzustände und Panikattacken verbunden mit Atemnot, Herzrasen und Schweißausbrüchen nicht mehr in der Lage sei, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen.

Die Beteiligten haben mit Schreiben vom 31. Januar und 2. Februar 2007 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin erklärt (§ 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte der beigezogenen Verwaltungsakten (Schwerbehinderten- und Versorgungsakten) des Beklagten und der Akte des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) zum Az. S 5 VU 24/00 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Im Einverständnis der Beteiligten konnte der Rechtsstreit durch die Berichterstatterin anstelle des Senats gemäß §§ 155 Abs. 3 und 4 SGG entschieden werden.

Die frist- und formgemäß eingelegte Berufung des Beklagten zulässig aber nur teilweise begründet. Das Ausmaß des Berufungserfolges ergibt sich aus dem Tenor der Entscheidung. Danach war das erstinstanzliche Urteil sowohl hinsichtlich des zuerkannten GdB als auch hinsichtlich des zuerkannten Merkzeichens "RF" abzuändern. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 80 ab Antragstellung im Februar 1999 sowie auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF".

Rechtsgrundlage für die Feststellung des Grades der Behinderung sind im vorliegenden Fall aufgrund der Antragstellung noch im Jahre 1999 die §§ 3 und 4 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) (ab dem 1. Juli 2001: § 69 Abs. 1 Satz Neuntes Sozialgesetzbuch (SGB XI)) in Verbindung mit den AHP 1996 bzw. den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil II SGB IX)" von 2004 (AHP 2004) bzw. 2005 (AHP 2005), die vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (später Bundesminister für Gesundheit und Soziale Sicherung) herausgegeben wurden und im Rahmen des Grundsatzes der Selbstbindung der Verwaltung im Interesse einer Gleichbehandlung aller Antragsteller sowie einer nachvollziehbaren Rechtsprechung grundsätzlich im Gerichtsverfahren als normähnliches antizipiertes Sachverständigengutachten anzuwenden sind.

Nach Auswertung aller medizinischen Unterlagen und Gutachten – insbesondere auch des nervenärztlichen Gutachtens des Dr. Thiel vom 6. Januar 2000 im Rahmen des Verfahrens nach dem VwRehaG - bestehen bei der Klägerin folgende Funktionsbeeinträchtigungen: 1. Psychosomatische Entwicklung – einschließlich einer Fettleibigkeit – bei neurotischer Persönlichkeitsstörung (vgl. Gutachten Dr. Thiel) 2. Funktionsbehinderung beider Beine (hochgradige Gon- und Retropatellararthrosen beiderseits, Lip- und Lymphödeme im Sinne einer Elephantiasis beiderseits) 3. Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Funktionsbehinderungen in 2 Wirbelsäulenabschnitten 4. Schwerhörigkeit mit Tinnitus 5. Bluthochdruck mit Folgeerkrankungen 6. Diabetes mellitus, diätetisch und mit oralen Antidiabetika behandelt 7. Sehbehinderung. Zutreffend haben Dr. T und Dr. A-S nach den Maßgaben der AHP die GdB-Werte auf 1. 40 (Nr. 26.3 S. 60 der AHP 1996; S. 48 der AHP 2004/2005) 2. 40 (Nr. 26.18 S. 151, Nr. 26.9 S. 92 der AHP 1996; S. 126 und S. 75 der AHP 2004/2005) 3. 30 (Nr. 26.18 S. 140 der AHP 1996; S. 116 der AHP 2004/2005) 4. 30 (Nr. 26.5 S. 70ff der AHP 1996; S. 57ff der AHP 2004/2005) 5. 20 (Nr. 26.9 S. 92 der AHP 1996; S. 75 der AHP 2004/2005) 6. 10 (Nr. 26.15 S. 119 der AHP 1996; S. 99 der AHP 2004/2005) 7. 10 (Nr. 26. 4 S. 65 der AHP 1996; S. 52 der AHP 2004/2005) festgelegt.

Erstmals hat Dr. A-S eine zu berücksichtigende Funktionseinschränkung der Wirbelsäule dokumentiert. Zwar finden sich in den Unterlagen verschiedene Röntgenbefunde (vom 20. September 1996, 18. Oktober 2000, 30. November 2000 und 5. Juli 2004), aus denen sich schon seit längerem bestehende deutliche degenerative Veränderungen im Brust- und Lendenwirbelsäulenbereich ergeben. Allerdings ist zur Bewertung des GdB der bildgebende Befund nicht ausschlaggebend, sondern der Nachweis von konkreten andauernden Funktionsbeeinträchtigungen erheblichen und altersunüblichen Ausmaßes. Dieser Nachweis ist erstmals mit dem Gutachten des Dr. A-S gelungen, denn die vorher aktenkundigen Gutachten ergeben keine – über die durch die Fettleibigkeit sowie das Alter bedingten hinausgehenden – funktionellen Beeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule. Den Befundberichten lässt sich zwar immer wieder die Angabe von Beschwerden, jedoch ohne Nennung konkreter Beeinträchtigungen und ihrer Ausmaße, entnehmen. Eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule kann daher erst ab Gutachtenerstellung durch Dr. A-S in die Beurteilung einfließen.

Die Bewertung der Funktionsbehinderung der unteren Extremitäten ergibt sich vorrangig aus den extremen Lip- und Lymphödemen, die alleine einen Einsatz der Extremitäten bereits gravierend beschränken und weiterhin auch die gelenkverschleißbedingten Beschwerden und Funktionseinschränkungen verstärken. Allein hieraus rechtfertigt sich schon der von Dr. A-S angesetzte GdB von 40 (vgl. S. 92 der AHP 19965 bzw. S. 75 der AHP 2004/2005). Der Sachverständige beschreibt ein breitbeiniges und verlangsamtes Gangbild mit Schonhumplen und Abstützen an Möbelstücken. Dr. M sprach von einem kleinschrittigen, langsamen, tapsig sich ausbalancierenden Gangbild mit Festhalten an Möbelstücken. Unter Berücksichtigung aller in den Akten befindlichen Befunde und der Tatsache, dass eine weitere Gewichtszunahme der Klägerin seit Beginn des Verfahrens nicht ersichtlich ist, kommt das Gericht zu dem Schluss, dass die Funktionsbehinderung der unteren Gliedmaßen seit Antragstellung mit einem GdB von 40 zu bewerten ist.

Weitere Funktionsbeeinträchtigungen als die vom Sachverständigen festgestellten ergeben sich aus den Unterlagen nicht. Insbesondere ist eine Harn- oder Stuhlinkontinenz nicht nachgewiesen.

Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so ist ein Gesamt-GdB nach der Gesamtheit der Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen, wobei sich nach den AHP Nr. 19 Abs. 1 die Anwendung jeglicher Rechenmethoden, d. h. insbesondere die schlichte Addition der Einzel-GdB-Werte, verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Beeinträchtigungen überschneiden und damit ineinander aufgehen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen ggf. gegenseitig verstärken. Dabei ist gemäß AHP Nr. 19 Abs. 4 zu berücksichtigen, dass leichte Gesundheitsstörungen, die lediglich einen Einzel-GdB von 10 bedingen, in der Regel nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigungen führen. Darüber hinaus ist es auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderungen zu schließen.

Bei einer Gesamtwürdigung der bis zum Zeitpunkt der Gutachtenerstellung durch Dr. A-S am 28. April 2006 anzusetzenden Einzel-GdB-Werte von zweimal 40 (psychiatrischer Komplex und Funktionsminderung der Beine), 30 (Hörminderung mit Tinnitus), 20 (Bluthochdruck) und zweimal 10 (Diabetes und Sehbehinderung) ist ein Gesamt-GdB von 70 angemessen. Hierbei sind die GdB-Werte für den Bluthochdruck, die Sehminderung und den Diabetes aufgrund ihrer Geringfügigkeit nicht in die Wertung einzubeziehen. Dies entspricht beispielsweise einem Verlust eines Beines im Oberschenkel (Nr. 26.18 S. 148 der AHP 1996 bzw. S. 123 der AHP 2004/2005) oder einer arteriellen Verschlusskrankheit mit Claudicatio intermittens bei einer schmerzfreien Gehstrecke unter 50 Metern (Nr. 26. 9 S. 90 der AHP 1996 bzw. S. 73 der AHP 2004/2005). Mit dem Hinzutreten der Funktionsminderung der Wirbelsäule erhöht sich der GdB auf 80

Die Klägerin erfüllt nicht die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "RF". Die Voraussetzungen der Vergabe dieses Nachteilsausgleichs sind gemäß § 4 Abs. 5 SchwbG (ab 1. Juli 2001: § 69 Abs. 4, 5 SGB IX) i. V. m. § 3 Abs. 1 Nr. 5 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) landesrechtlich geregelt und zwar im Land Brandenburg im Rundfunkgebührenstaatsvertrag vom 6. Dezember 1991 in der Fassung des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags (Gesetz vom 17.03.2005) vom 15. Oktober 2004 (GVBl. I/05, [Nr. 07], S.114, 117) (zuvor: in der Verordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 4. Februar 1992 (GVBl. II S. 63)). Nach § 6 Abs. 1 Nr. 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrags (bzw. § 1 Abs. 1 Nr. 3 der Verordnung sowie) werden auf Antrag von der Rundfunkgebührenpflicht schwerbehinderte Menschen befreit, die nicht nur vorübergehend um wenigstens 80 v. H. in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert sind und wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Hierzu gehören die in Nr. 33 Abs. 2 der AHP 1996 bzw. 2004/2005 genannten behinderten Menschen. Hierzu zählen: • Behinderte Menschen, bei denen schwere Bewegungsstörungen - auch durch innere Leiden (schwere Herzleistungsschwäche, schwere Lungenfunktionsstörung) - bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen können, • Behinderte Menschen, die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung abstoßend oder störend wirken (z. B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können), • Behinderte Menschen mit - nicht nur vorübergehend - ansteckungsfähiger Lungentuberkulose, • Behinderte Menschen nach Organtransplantation, wenn über einen Zeitraum von einem halben Jahr hinaus die Therapie mit immunsuppressiven Medikamenten in einer so hohen Dosierung erfolgt, dass dem Betroffenen auferlegt wird, alle Menschenansammlungen zu meiden, • geistig oder seelisch behinderte Menschen, bei denen befürchtet werden muss, dass sie beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten stören. Dieser Personenkreis muss allgemein von öffentlichen Zusammenkünften ausgeschlossen sein. Es genügt nicht, dass sich die Teilnahme an einzelnen, nur gelegentlich stattfindenden Veranstaltungen bestimmter Art verbietet. Behinderte Menschen, die noch in nennenswertem Umfang an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können, erfüllen die Voraussetzungen nicht.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich der Senat nach eigener Prüfung anschließt, ist eine enge Auslegung von Gebührenbefreiungsvorschriften, wie sie in den maßgeblichen Ländervorschriften geregelt sind, geboten. Danach wird dem Zweck der Befreiung von der Gebührenpflicht für den Rundfunk- und Fernsehempfang dann genügt, wenn der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden ständig, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch von Zusammenkünften politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art ausgeschlossen ist. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn er praktisch an das Haus gebunden ist und allenfalls an einer nicht nennenswerten Zahl von Veranstaltungen teilnehmen kann (BSG Urteil vom 12. Februar 1997 – 9 RVs 2/96 -, veröffentlicht in SozR 3-3870 § 4 Nr. 17 m. w. N.). An dieser engen Auslegung ist auch deshalb festzuhalten, weil der genannte Nachteilsausgleich zunehmend zweifelhaft erscheint. Die Nachteilsausgleiche sollen nach § 48 SchwbG (bzw. § 126 SGB IX) so gestaltet werden, dass sie zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile oder Mehraufwendungen geeignet sind. Telefon, Radio- und Fernsehgeräte können heute aber nicht mehr als Geräte angesehen werden, die hauptsächlich dem Ausgleich bei Alter, Krankheit und Gebrechlichkeit dienen, denn die Ausstattung der Haushalte mit Rundfunk- und Fernsehgeräten hat sich zum Normalfall entwickelt. Sie finden sich nach den statistischen Erhebungen für die Jahre 1988 bis 1991 sowohl in den Zwei-Personen-Haushalten von Rentnern, Sozialhilfeempfängern und Personen mit geringem Einkommen als auch im durchschnittlichen Vier-Personen-Haushalt zu 90 - 97% (Telefon) und zu 97 - 99% (Fernseher) (so BSG SozR 3-3870 § 48 Nr. 2 m. w. N.; zuletzt bestätigt durch Urteil des BSG vom 28. Juni 2000 in SozR 3-3870 § 4 Nr. 26).

Nach diesen Grundsätzen kommt hier die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "RF" nicht in Betracht. Möglich wäre dies sowieso erst mit der Feststellung eines GdB von 80 ab dem Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. A-S am 28. April 2006. Allein aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigungen ist die Klägerin nicht ständig daran gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Den medizinischen Gutachten ist nicht zu entnehmen, dass die Klägerin nicht unter Verwendung ihre Rollstuhls (den sie auch als Sitz bei Veranstaltungen benutzen kann) sowie einer Begleitperson in der Lage wäre, an Veranstaltungen in nennenswerter Anzahl teilzunehmen. Öffentliche Veranstaltungen sind nach allgemeinem Sprachgebrauch alle grundsätzlich jedermann uneingeschränkt oder bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen zugänglich gemachte Veranstaltungen i. S. einer Organisation von Darbietungen verschiedenster Art (vgl. BSG SozR 3870 § 3 Nr. 24). Dies umfasst nicht nur Kino- und Theatervorstellungen, Konzerte, Vorträge, Lesungen, sondern z. B. auch Gottesdienste, Messen, Jahrmärkte, Sportveranstaltungen oder Straßenfeste. Soweit Dr. A-S darauf verweist, dass die Klägerin aufgrund ihrer Körperfülle und der Schmerzen sich aus Standardsesseln immer wieder erheben müsse, so folgt daraus kein genereller Ausschluss an der Teilhabe. Zum einen kann die Klägerin ihren – bequemeren – Rollstuhl verwenden, zum anderen herrscht bei vielen Veranstaltungen (z. B. Messen, Sportveranstaltungen, Open-Air-Konzerten) eine große Toleranz, so dass ein gelegentliches Aufstehen niemanden stört. Auch aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigungen ist die Klägerin nicht ständig an der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen gehindert.

Zwar ist der Nachteilsausgleich "RF" auch grundsätzlich demjenigen zuzuerkennen, der wegen einer psychischen Störung ständig an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen kann (so grundsätzlich BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 26). Gerade dies ist hier jedoch nicht der Fall. Die Klägerin verweist hierzu auf Angst- und Panikattacken verbunden unter anderem mit Schweißausbrüchen, Aufstoßen etc ... Dabei handelt es sich jedoch um eine – nicht untermauerte – Behauptung. Zwar verlässt die Klägerin nach eigener Angabe und derjenigen ihrer Tochter das Haus praktisch nicht. Eine psychische Störung der Qualität, dass die Klägerin auch mit zumutbarer Willensanstrengung das Haus nicht verlassen könnte, ist jedoch nicht nachgewiesen. So schildert beispielsweise Dr. T noch keine – generellen - Angst- und Panikattacken bei Menschenansammlungen. Auch Dr. M beschränkt sich auf die Feststellung einer krankhaften Abneigung gegen andere Menschen, ohne hierzu einen qualifizierten Befund zu erheben. Eine Angsterkrankung, die den Besuch öffentlicher Veranstaltungen im weitesten umfang ausschließen würde, ist somit nicht nachgewiesen. Insbesondere hat der Sachverständige Dr. A-S ausgeführt, die geschilderten Panikattacken stünden nicht im Vordergrund der Störung. Auch unter Berücksichtigung der psychischen Störungen sei davon auszugehen, dass sie sich längere zeit ununterbrochen in Räumen mit Menschenansammlungen aufhalten könne. Es sei ihr unter zumutbarer Willensanstrengung möglich, an öffentlichen Veranstaltungen mit Menschenansammlungen teilzunehmen. Eine fachärztliche oder psychotherapeutische Behandlung der psychischen Störung erfolgt nicht.

Eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ist auch unter dem Aspekt der Zumutbarkeit für die Öffentlichkeit (Aufstehen, Aufstoßen, eventuelle Harngeruch) nicht ausgeschlossen, zumal hier der Klägerin auch zuzumuten ist, beispielsweise die Trinkmenge entsprechend vorher zu regulieren oder Windelhosen zu tragen (vgl. BSG Urteil vom 12. Februar 1997 - RVs 2/96 – veröffentlicht in SozR 3-3870 § 4 Nr. 17 sowie Urteile vom 11. September 1991 - 9a RVs 1/90 - und vom 9. August 1995 - 9 RVs 3/95 -). Der Öffentlichkeit ist im Übrigen ein hohes Maß an Belastung durch behinderungsbedingte Auffälligkeiten zuzumuten, weil das SchwbG die Eingliederung und nicht die Ausgrenzung behinderter Menschen bezweckt (vgl. BSG Urteil vom 10. August 1993 – 9/9a RVs 7/91 – veröffentlicht in SozR 3-3870 § 48 Nr. 2).

Nach alldem war der Berufung des Beklagten in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang teilweise stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und berücksichtigt das Ausmaß des Klageerfolges.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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