L 13 SB 81/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 9 SB 154/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 81/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 29. Mai 2006 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung der Bescheide vom 12. September 2002 und 25. März 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 13. Mai 2003 verpflichtet, über den Antrag der Klägerin vom 26. Juni 2002 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Im übrigen wird die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Der Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 für die Zeit vom 1. April 1999 bis zum 31. Dezember 2001.

Bei der 1948 geborenen Klägerin hatte der Beklagte zunächst mit Bescheid vom 19. März 1999 auf einen am 7. Dezember 1998 gestellten Neufeststellungsantrag einen GdB von 20 wegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen anerkannt, deren verwaltungsinterne Einzel-GdB-Bewertung sich aus den Klammerzusätzen ergibt:

a. Diabetes mellitus (20) b. Bluthochdruck (10) c. Sehminderung (10).

Im anschließenden Widerspruchsverfahren zog der Beklagte ein im Rentenverfahren erstattetes internistisches Gutachten von Dr. S vom 21. Dezember 1998 sowie ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Dr. W vom 16. Februar 1999 bei und holte einen Befundbericht der behandelnden Ärztin F vom 12. September 1999 ein, dem ein Entlassungsbericht der Reha-Klinik H vom 13. Juli 1999 beigefügt war.

Mit Bescheid vom 2. Februar 2000 erkannte der Beklagte daraufhin als weitere Behinderung eine psychosomatische Funktionsstörung an, der Gesamt-GdB betrage 40. Hierzu teilte die Klägerin mit, dass sie zwar ihren Widerspruch zurücknehme, aber zugleich einen Neufeststellungsantrag wegen des Hinzutretens einer Hirnleistungsschwäche stelle. Sie sei wegen ständig schwankender Blutzuckerwerte an die Internistin M überwiesen worden. Dem Antrag war ein Schreiben der die Klägerin seit September 1999 behandelnden Psychologin S beigefügt. Nach Einholung eines Befundberichtes der Internistin M lehnte der Beklagte den Verschlimmerungsantrag durch Bescheid vom 7. Juli 2000 ab.

Im April 2002 stellte die Klägerin einen weiteren Neufeststellungsantrag, mit dem sie eine Verschlimmerung ihres Diabetes geltend machte. Neu hinzugetreten sei eine Dekompensation der Leber. Die Ärztin F gab in einem am 23. Mai 2002 bei dem Beklagten eingegangenen Befundbericht, dem Laborwerte aus der Zeit von Juli 2001 bis März 2002 beigefügt waren, an, die Klägerin an eine Diabetes-Schwerpunktpraxis überwiesen zu haben. Ihres Erachtens erhalte die Klägerin 3x täglich Insulin. Ergänzend beantragte die Klägerin am 26. Juni 2002 die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft ab April 1999. Ihr sei bei der Kur im April 1999 dringend die Einstellung auf Insulin geraten worden, die sie aufgrund einer schwierigen persönlichen und familiären Situation (Altersdemenz der von ihr betreuten Mutter) abgelehnt habe. Trotz Umstellung auf Insulin seien die Blutzuckerwerte nach wie vor schwankend.

Mit Bescheid vom 12. September 2002 erkannte der Beklagte einen GdB von 60 ab 3. April 2002 wegen einer Verschlimmerung der bereits vorliegenden Beeinträchtigungen an. Eine rückwirkende Anerkennung ab April 1999 sei medizinisch nicht belegt und müsse deshalb abgelehnt werden. Dem lag eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. L zugrunde, der ab Änderungsantrag den Diabetes mellitus mit einem Einzel-GdB von 50 bewertete.

Mit ihrem Widerspruch gegen die Ablehnung der rückwirkenden Anerkennung eines GdB von 60 ab April 1999 machte die Klägerin geltend, für diesen Zeitraum seien ärztliche Unterlagen vorhanden. In einem Arztbrief vom 29. Oktober 2002 verwies die Psychologin S auf eine kontinuierliche Behandlung der Klägerin seit November 1999. Die Empfehlung der Reha-Klinik im April 1999 habe wegen massiver Ängste der Klägerin nicht umgesetzt werden können. Die Wechselwirkung des Diabetes mit der seelischen Störung wirke sich dahingehend aus, dass der Diabetes besonders schwer einstellbar sei, weil unter erhöhten seelischen Spannungen, insbesondere Stress, erhebliche Schwankungen im Blutzuckerspiegel aufträten. Im Zusammenhang mit der seelischen Störung hätten panische Ängste gegen die dringend angeratene Insulin-Behandlung bestanden. Die inzwischen erfolgte Einwilligung der Klägerin zur Insulin-Behandlung sei als wesentlicher Behandlungserfolg zu werten. In einem Befundbericht vom 9. Dezember 2002 teilte die Ärztin F die am 22. März 1999 erhobenen Befunde "schlechte diabetische Stoffwechsellage, depressives Syndrom" mit. Nach intensiven ambulanten Therapien und Schulungen habe ständige Müdigkeit, hohes Schlafbedürfnis und eine starke Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit bei leichter körperlicher Belastung bestanden.

Mit Bescheid vom 25. März 2003 erkannte der Beklagte einen GdB von 60 ab 1. Januar 2002 an. Nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Anhaltspunkten) betrage der Einzel-GdB bei einem tablettenpflichtigen Diabetes mellitus maximal 20. Erst seit Januar 2002 erfolge die Gabe von Insulin. Ab diesem Zeitpunkt sei der Einzel- GdB auf 50 zu erhöhen.

Durch Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2003 wies der Beklagte den weitergehenden Widerspruch zurück. Die höhere Bewertung des GdB bei einer Insulintherapie beruhe auf dem behinderungsbedingten Mehraufwand infolge der ständigen Blutzuckerkontrollen und der angepassten Insulinzuführung.

Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Potsdam einen Befundbericht der Internistin M(vom 27. Mai 2004) eingeholt, die die von November 1999 bis Dezember 2001 erhobenen Befunde mitgeteilt und angegeben hat, es habe keine Hinweise auf Hypoglykämien gegeben, die bei der schlechten Stoffwechselsituation auch nicht zu erwarten gewesen seien. Bei späteren Untersuchungen habe sich kein Anhalt für eine diabetische Neuropathie ergebe. Die Ärztin F hat in einem Befundbericht vom 2. Juni 2004 geschildert, die Klägerin habe Sorge gehabt, dass gleiche Schicksal wie ihre Mutter zu erleiden, die über Jahre einen insulinpflichtigen Diabetes gehabt habe. Erst als sich die Stoffwechselsituation u.a. wegen einer existentiellen Bedrohungssituation noch weiter verschlechtert habe, sei kein Weg an einer Insulintherapie vorbeigegangen.

Nachdem der Beklagte auf der Grundlage versorgungsärztlicher Stellungnahmen von Dr. W vom 23. März 2004 und 14. Juli 2004 bei seiner Auffassung verblieben war, hat das Sozialgericht weitere Befundberichte der Fachärztin für Neurologie J (vom 24. Februar 2005) und der Psychologin S (vom 14. Februar 2005) eingeholt und Dr. F mit der Erstattung eines internistisch/diabetologischen Gutachtens vom 2. Mai 2005 beauftragt. Dieser hat keinen Anhalt für eine diabetische periphere Polyneuropathie gefunden. Erstmals im Jahr 2005 sei die erste Diabetesfolgeerkrankung an den Augen festgestellt worden. Eine sonografisch gesicherte Fettleber, die regelhaft durch die schlecht eingestellte Zuckerstoffwechselsituation entstehe, habe für den fraglichen Zeitraum noch keine GdB-Relevanz. Es liege ein schwer einstellbarer Diabetes mellitus vor, der allein durch die Vorgaben der Anhaltspunkte nicht hinreichend gewürdigt werde. Bereits 1999 sei er schwer einstellbar gewesen. Auch heute sei der Diabetes schwer einstellbar, wie die aktuellen Blutzucker- und HbA 1c-Werte unter einer komplizierten Insulintherapie zeigten. Zum anderen sei der Bluthochdruck nicht entsprechend den Richtlinien der Diabetes-Fachgesellschaft zur Verhinderung von Diabetes-Folgeerkrankungen eingestellt. Die in den Vorgutachten immer wieder genannte seelische Störung habe wesentlichen Einfluss auf die Destabilisierung der Blutzuckerwerte und hätten dies auch schon vor April 1999 beeinflusst. Zusammenfassend werde in Abweichung von den Anhaltspunkten 2004 empfohlen, rückwirkend einen GdB von 60 ab April 1999 anzuerkennen.

Dr. W hat hierzu in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 31. Mai 2005 die Auffassung vertreten, selbst wenn man den Einzel-GdB des Diabetes mellitus wegen der schlechten Einstellbarkeit auf 30 erhöhen würde, ergebe sich kein Gesamt-GdB von 50.

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 14. Oktober 2005 hat Dr. F darauf verwiesen, dass es durch einen schlecht eingestellten Diabetes in aller Regel zu einer Beeinträchtigung der psycho-physischen Leistungsfähigkeit zur Verstärkung von vorbestehenden Verstimungszuständen komme. Insofern könne der schlecht eingestellte Diabetes durchaus die Leistungsfähigkeit beeinflusst haben. Weitere Beschwerden wie Kopfschmerzen, Antriebsarmut etc. seien ebenfalls Ausdruck der Erkrankung und hier teilweise auch nachweisbar. Des weiteren hat er unter dem 14. Februar 2006 darauf hingewiesen, viele Parallelfälle aus seiner Praxis gezeigt hätten, dass eine intensivierte Insulintherapie für sich einen GdB von 50 nach sich gezogen hätte.

Durch Urteil vom 29. Mai 2006 hat das Sozialgericht den Beklagten unter Änderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, einen GdB von 50 im Zeitraum vom 1. April 1999 bis zum 31. Dezember 2001 festzustellen. Der Einzel-GdB für den Diabetes mellitus sei mit 40 einzuschätzen. Nach Ziffer 26.15,S. 99 der Anhaltspunkte 2004 betrage der GdB für einen Diabetes mellitus Typ II, der allein durch Diät oder durch Diät und orale Antidiabetika und ergänzende oder alleinige Insulinbehandlung ausreichend einstellbar sei, 30. Da es sich nach Einschätzung von Dr. F um einen nur schwer und nicht ausreichend einstellbaren Diabetes handle, sei der Wert um 10 zu erhöhen, um der Erkrankung der Klägerin gerecht zu werden. Dies sei bereits 1999 der Fall gewesen. Die Ärztin F habe in ihrem Befundbericht vom 9. Dezember 2002 die schwere Einstellbarkeit bestätigt und als Grund hierfür die seelische Erkrankung der Klägerin benannt. Die Schwierigkeiten bei der Einstellung würden auch dadurch dokumentiert, dass trotz Insulintherapie der Stoffwechsel schlecht eingestellt sei. Entgegen der Ansicht des Beklagten sei nicht entscheidend, dass die Klägerin den Diabetes im streitigen Zeitraum nicht mit Insulin therapiert habe. Die Anhaltspunkte würden nicht nach dem Therapieaufwand unterscheiden, sondern stellten im Wesentlichen auf den Typ, die Einstellbarkeit und das Ausmaß der Erkrankung ab. Es komme nur darauf an, ob der Diabetes gut oder schwer einstellbar sei, nicht aber, ob er gut oder schlecht eingestellt sei. Die Notwendigkeit der Insulintherapie sei bereits im Entlassungsbericht der Reha-Klinik vom 13. Juli 1999 als dringlich angegeben. Die seelische Störung der Klägerin sei mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten, der Gesamt-GdB betrage 50, weil sich die psychische Erkrankung besonders nachteilig auf den Diabetes mellitus auswirke, indem die seelische Belastung wesentlichen Einfluss auf die Destabilisierung der Blutzuckerwerte habe. Mit seiner Berufung macht der Beklagte geltend, der Annahme des Sozialgerichts, dass ein höherer Einzel-GdB als 30 für den Diabetes bereits ab April 1999 gegeben sei, könne nicht gefolgt werden. Dies gelte insbesondere, weil die Rückwirkung eines Antrages auf Anerkennung eines höheren GdB auf offenkundige Fälle beschränkt sei, in denen auch bei Anwendung des § 44 Abs. 2 SGB X das pflichtgemäße Ermessen die rückwirkende Aufhebung eines Bescheides gebieten könne. Ein offenkundiger Fall liege nicht vor, da angesichts der erst 2002 aufgenommenen Insulintherapie nur darüber spekuliert werden könne, ob der Diabetes im zurückliegenden Zeitraum unter Insulin ausreichend hätte eingestellt werden können. Maßgebliches Kriterium für die Bewertung eines schwer einstellbaren Diabetes seien gelegentliche ausgeprägte Hypoglykämien bzw. Organkomplikationen, die sich zwangsläufig bei einem über eine lange Zeit schlecht eingestellten Diabetes manifestierten. Abzustellen sei auf den jetzigen medizinischen Kenntnisstand, weil zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse nicht unberücksichtigt bleiben könnten.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 29. Mai 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die vorliegenden medizinischen Befunde und ärztlichen Berichte würden die schwere Form der Erkrankung für die Zeit ab April 1999 belegen.

Der Senat hat die Tagungsprotokolle des Sachverständigenbeirates beim Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 12./13. November 1997, 28./29. April 1999, 3./4. November 1999, 7./8. November 2001, 24./25. April 2002, 26. März 2003 und 5. November 2003 beigezogen, soweit sie Erörterungen zur Bewertung des Diabetes mellitus enthalten.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Verwiesen wird außerdem auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der Schwerbehindertenakte des Beklagten, die vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Zutreffend ist das Sozialgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die angefochtenen Bescheide rechtswidrig sind, soweit der Beklagte davon ausgeht, dass im streitigen Zeitraum kein GdB von 50 vorlag. Eine Rücknahme des Bescheides vom 7. Juli 2000 für die Vergangenheit steht jedoch im Ermessen des Beklagten, so dass seine Berufung insoweit Erfolg hat.

Der Beklagte hat es mit Bescheid vom 25. März 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 13. Mai 2003 zu Unrecht abgelehnt, eine Ermessenentscheidung darüber zu treffen, ob der Bescheid vom 7. Juli 2000 (mit dem eine Änderung des Teil-Abhilfe-Bescheides vom 2. Februar 2000 wegen einer Änderung der Verhältnisse abgelehnt worden war) mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird.

Entgegen der vom Beklagten vertretenen Rechtsauffassung sind die Tatbestands-Voraussetzungen für die Rücknahme des Bescheides vom 7. Juli 2000 gegeben. Die Voraussetzungen der Rücknahme des bestandkräftigen Bescheides richten sich nach § 44 Abs. 2 SGB X, da es sich bei der Feststellung der Schwerbehinderten-Eigenschaft um eine Status-Feststellung handelt, auf die § 44 Abs. 1 SGB X nicht anwendbar ist. Denn § 44 Abs. 1 SGB X betrifft nur Fälle, in denen die Aufhebung die nachträgliche Erbringung von Sozialleistungen zur Folge hat (vgl. BSG, Urteil vom 29.5.1991, 9a/9 RVs 11/89, = Soz R 3-1300 § 44 Nr. 3).

Nach § 44 Abs. 2 SGB X ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Einer Rücknahme steht nicht entgegen, dass der Beklagte mit der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft eine Statusentscheidung trifft, die grundsätzlich nur für die Zukunft wirkt. Denn eine Rückwirkung eines Antrags ist nach Maßgabe des § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAwV möglich, wenn auf Antrag des schwerbehinderten Menschen nach Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses festgestellt worden ist, dass ein anderer Grad der Behinderung oder ein oder mehrere gesundheitliche Merkmale bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen haben. Dann ist zusätzlich das Datum einzutragen, von dem ab die jeweiligen Voraussetzungen mit dem Ausweis nachgewiesen werden können. Ein besonderes Interesse an einer rückwirkenden Feststellung eines GdB von 50 besteht, da die Klägerin, wenn sie schon am 16. November 2000 schwerbehindert war, zum geschützten Personenkreis der rentenrechtlichen Übergangsvorschrift des § 236 a SGB VI gehört. Die Rückwirkung ist nach der Rechtsprechung des BSG (a.a.O.) auf offenkundige Fälle zu beschränken.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Allerdings soll die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch dann nicht offenkundig sein, wenn der GdB nur durch Einholung eines oder mehrerer fachärztlicher Gutachten unter Berücksichtigung und Würdigung sämtlicher vorhandener medizinischer Unterlagen festgestellt werden kann (LSG für das Saarland v. 05.11.2002, Az: L 5 B 12/01 SB, zitiert nach Juris). Im vorliegenden Fall ist zwar ein medizinisches Gutachten eingeholt worden, das zu dem Ergebnis gelangt ist, bereits ab April 1999 habe der Einzel- GdB für den Diabetes mellitus bereits 40 betragen. Durch dieses Gutachten wurden jedoch nicht rückwirkend medizinische Zusammenhänge neu erhellt, sondern der Sachverständige hat auf der Grundlage der schon im Verwaltungsverfahren zur Akte gelangten Unterlagen dargestellt, dass der Diabetes mellitus bereits seit 1996 schlecht einstellbar gewesen sei und ab April 1999 der Insulintherapie bedurft hätte. Des weiteren hat er dargelegt, dass auch unter Insulintherapie der Diabetes schwer einstellbar gewesen sei. Ein schwer einstellbarer Diabetes war nach den Vorgaben der Anhaltspunkte 1996, die hier als antizipierte Sachverständigengutachten maßgeblich sind, mit einem GdB von 40 zu bewerten.

Entgegen der vom Beklagten und dem Sozialgericht vertretenen Auffassung ist nicht auf die Vorgaben der Anhaltspunkte 2004 abzustellen. Denn für die Zeit bis zur Veröffentlichung der Anhaltpunkte 2004 im April 2004 sind die Anhaltspunkten 1996 nach ihrem vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (jetzt: Bundesministerium für Arbeit und Soziale Sicherung) als Herausgeber bestimmten Geltungswillen anzuwenden. Der Senat folgt hierbei der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 1. 9. 1999, B 9 V 25/98 R= SozR 3-3100 § 30 Nr. 22). Unabhängig davon ist allerdings stets die Frage zu prüfen, ob die Anhaltspunkte in der jeweils anzuwendenden Fassung dem Gesetz widersprechen, ob sie dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen und ob ein Sonderfall vorliegt, der aufgrund der individuellen Verhältnisse einer gesonderten Beurteilung bedarf (vgl BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr. 6). Bei dieser Prüfung kann sich zwar herausstellen, dass neuere medizinische Erkenntnisse, die in den Anhaltspunkten 2004 zu einer Neubewertung des GdB geführt haben, schon lange vor dem 1. April 2004 vorgelegen haben. Dann sind aber nicht die Anhaltspunkte 2004 rückwirkend anzuwenden, sondern die Anhaltspunkte 1996 sind zu korrigieren. Ein Korrekturbedarf besteht im vorliegenden Fall jedoch nicht, weil sich der Sachverständigenbeirat wiederholt mit den Vorgaben für die Bewertung eines Diabetes mellitus befasst hat. Hierbei hat er insbesondere schon im November 1997 darauf hingewiesen, dass maßgeblich nicht die tatsächlich durchgeführte Behandlung sei, sondern es auf die notwendige Behandlung ankomme. Dies ist durch den Beschluss des Sachverständigenbeirates vom 7./8. November 2001 nochmals ausdrücklich klargestellt worden. "Die GdB-Bewertung ist primär vom Typ sowie der jeweiligen Ausprägung und Auswirkung der Stoffwechselstörung abhängig". Demgegenüber hat der Sachverständigenbeirat gerade nicht darauf abgestellt, dass eine höhere Bewertung des GdB bei einer Insulintherapie auf dem behinderungsbedingten Mehraufwand infolge der ständigen Blutzuckerkontrollen und der angepassten Insulinzuführung beruhe. Ist danach die notwendige Behandlung, nicht aber ihre tatsächliche Durchführung maßgeblich, war der Einzel-GdB für den Diabetes mellitus ab April 1999 mit 40 zu bewerten.

Den Einwendungen des Beklagten gegen diese Bewertung kann nicht gefolgt werden. Soweit er geltend macht, ein maßgebliches Kriterium für einen schwer einstellbaren Diabetes seien gelegentliche ausgeprägte Hypoglykämien bzw. Organkomplikationen, hätte dies zur Folge, dass die vom Gutachter beschriebenen typischen Folgen einer schweren Einstellbarkeit wie Kopfschmerzen, Antriebsarmut und subjektive Leistungseinschränkung unberücksichtigt blieben. Des weiteren müssten, würde dieser Auffassung gefolgt, erst Organkomplikationen eingetreten sein, die nach den Anhaltspunkten jedoch gerade zusätzlich zu bewerten sind.

Auch ist die Auffassung des Beklagten, es sei spekulativ, inwieweit eine frühere Insulintherapie im streitigen Zeitraum gewirkt hätte, im Hinblick auf die seit 2002 festgestellte schwere Einstellbarkeit nicht nachvollziehbar. Vielmehr ist aufgrund der Tatsache, dass bereits 1999 eine Insulinpflichtigkeit festgestellt wurde, mit dem Sachverständigen F davon auszugehen, dass der Diabetes auch schon seit April 1999 unter Insulintherapie schwer einstellbar war. Demgegenüber ist die Annahme, dass eine Aufnahme der Therapie zu einem früheren Zeitpunkt eine bessere Einstellbarkeit bewirkt hätte, als spekulativ anzusehen, da die in der Zeit ab 2002 zur Akte gelangten Unterlagen hierfür keine Anhaltspunkte bieten.

War nach alledem der Einzel-GdB für den Diabetes mellitus ab April 1999 mit 40 zu bewerten, bestand bereits seit diesem Zeitpunkt auch ein Gesamt-GdB von 50. Die von dem Beklagten im Bescheid vom 2. Februar 2002 ab Antragstellung (Dezember 1998) aufgeführte psychosomatische Funktionsstörung wurde verwaltungsintern mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet. Wegen der auch vom Sachverständigen beschriebenen wechselseitigen negativen Beeinflussung der beiden Funktionsstörungen lag ein Gesamt-GdB von 50 vor. Ausgehend von diesem Tatbestand hat der Beklagte nach § 44 Abs. 2 SGB X eine Ermessensentscheidung dahingehend zu treffen, ob er den Bescheid vom 2. Februar 2002 für die Zeit ab 1. April 1999 zurücknimmt. Dabei wird er zu beachten haben, dass nach der Rechtsprechung des BSG (SozR 3- 1300 § 44 Nr. 3, a.a.O.) bei einem offenkundigen Fall, der hier –wie bereits ausgeführt- vorliegt, das pflichtgemäße Ermessen die rückwirkende Aufhebung sogar "gebieten könnte".

Nach alledem hatte die Berufung des Beklagten teilweise Erfolg. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und berücksichtigt, dass die Berufung des Beklagten, soweit das Vorliegen eines GdB von 50 bereits ab April 1999 bestritten wurde, keinen Erfolg hatte.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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