L 13 SB 107/06

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 33 SB 2224/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 107/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juni 2006 wird zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid vom 19. Januar 2007 wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "außergewöhnliche Gehbehinderung" (aG).

Bei dem 1941 geborenen Kläger hatte der Beklagte zuletzt mit Bescheid vom 30. September 2002 einen Grad der Behinderung (GdB) von 60 wegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen anerkannt, deren verwaltungsinterne Einzel-GdB-Bewertung sich aus dem Klammerzusatz ergibt:

a. Chronisch obstruktive Atemwegserkrankung, Emphysem (50) b. Vertebragenes Schmerzsyndrom, Osteoporose, Arthritis urica (30) c. Reizkolon (10) d. Degenerative Veränderungen beider Hüft- und Kniegelenke (10)

sowie die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festgestellt. Die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" seien nicht erfüllt.

Mit seinem im November 2003 gestellten Neufeststellungsantrag wies der Kläger darauf hin, dass sich u.a. die chronisch obstruktive Atemwegserkrankung verschlimmert und die Osteoporose zu einem Wirbelköperbruch geführt hätten. Nach Einholung von Befundberichten der Fachärztin für innere Medizin B, dem u.a. eine Lungenfunktionsdiagnostik von Dr. F vom 18. November 2003 beigefügt war, und des Arztes für Orthopädie Dr. Fö lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 10. Mai 2004 eine Neufeststellung ab. Lediglich aus Gründen der Vollständigkeit würden die Funktionsbeeinträchtigungen nunmehr wie folgt bezeichnet: a. chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Lungenemphysem b. Kalksalzverarmung sowie degenerative Veränderungen der Wirbelsäule mit Funktionsbehinderungen und Schmerzsyndrom c. Degenerative Veränderungen der Beingelenke, Arthritis urica d. Reizkolon, Divertikulose e. Schwindel. Die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "B" und "aG" seien nicht erfüllt.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren holte der Beklagte u.a. einen Befundbericht von Dr. F ein, dem die Ergebnisse mehrerer Lungenfunktionsuntersuchungen beigefügt waren, in denen jeweils eine mittelgradige obstruktive Ventilationsstörung festgestellt wurde. Der Kläger reichte weitere Unterlagen zur Befundverschlechterung der Osteoporose ein.

Durch Widerspruchsbescheid vom 2. September 2004 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die geklagten Beschwerden durch Osteoporose und das Lungenemphysem seien bereits angemessen bewertet worden.

Mit seiner dagegen vor dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" zu erfüllen, da er sich nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen könne.

Das Sozialgericht hat Befundberichte von Dr. F (vom 9. Dezember 2004), dem Orthopäden Dr. S (vom 25. November 2004) und der Internistin Dr. Z vom (21. Januar 2005) eingeholt. Dr. F hat die Frage, ob der Kläger sich praktisch von den ersten Schritten an nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb eines KFZ bewegen könne, verneint. Sodann hat das Sozialgericht ein Gutachten des Arztes für Allgemein- und Arbeitsmedizin L vom 31. Oktober 2005 eingeholt, der darauf hingewiesen hat, dass der dynamische Lungenfunktionsparameter (relativer 1 Sekundentest FEV 1/VC) immer noch einer Einschränkung der Lungenfunktion mittleren Grades entspreche. Auffällig sei eine Luftnot bereits bei leichter Belastung und Ausatmen gegen erhöhten Lippenwiderstand. Bei der durchgeführten Gehprobe sei eine Strecke von rund 240 Metern mit acht Pausen zurückgelegt worden. Eine außergewöhnliche Erschöpfung sei am Ende der Wegstrecke nicht festgestellt worden. Das Gehvermögen sei schwer, aber nicht auf das Schwerste eingeschränkt. Der Kläger erfülle die Voraussetzungen der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Anhaltspunkte) 2004, Nr. 31 nicht.

Auf der Grundlage dieses Gutachtens hat der Beklagte mit Bescheid vom 28. Februar 2006 einen GdB von 90 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "B" anerkannt. Dem lag eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. D vom 20. Februar 2006 zugrunde, der eine Verschlechterung der Lungenfunktionsbefunde annahm, die zu einer Bewertung der Lungenerkrankung mit einem Einzel-GdB von 70 führe.

Durch Urteil vom 19. Juni 2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger sei zwar eindeutig erheblich gehbehindert. Das Ausmaß der Behinderung erreiche aber nicht die erforderliche Gehstreckenlimitierung für eine außergewöhnliche Gehbehinderung, insbesondere nicht im Vergleich zu Personen, denen aufgrund der gleichen Grunderkrankung, aber schwersten Auswirkungen das Merkzeichen "aG" zustehe. Es sei auch nicht festzustellen, dass die mögliche Gehstrecke mit 50 Metern ende.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er macht geltend, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechtert habe. Seine behandelnde Ärztin habe nunmehr eine hochgradige ob- struktive Ventilationsstörung festgestellt und halte einen Einzel-GdB von 80 für das Lungenleiden für gegeben.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juni 2006 sowie den Bescheid des Beklagten vom 10. Mai 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2. September 2004 und der Bescheide vom 28. Februar 2006 und 19. Januar 2007 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" - außergewöhnliche Gehbehinderung - festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 19. Januar 2007 abzuweisen.

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und verweist auf eine Stellungnahme von Dr. D vom 28. Februar 2007, nach der sich auch bei den schlechteren Befunden keine Reduzierung der statischen und dynamischen Messwerte der Lungenfunktion um mehr als zwei Drittel gegenüber den Sollwerten bzw. eine respiratorische Globalinsuffizienz zeige.

Der Senat hat ein Gutachten des Arbeitsmediziners Dr. G vom 27. Juni 2007 eingeholt, der keine Ruhedyspnoe hat feststellen können. Im Lungenfunktionsbefund vom 18. Januar 2007 seien die Funktionsparameter schlechter als bei der vorangegangenen Prüfung vom November 2006 ausgefallen, während sie am 7. Mai 2007 wieder besser seien. Es müsse betont werden, dass es bei den Kontrollen der Lungenfunktionsparameter Schwankungen gebe, aus denen sichtbar werde, dass gegenüber 2003 eine Verschlechterung eingetreten sei. Bei Mittlung der schwankenden Werte würden die für den Nachteilsausgleich geforderten Werte unter 33% des Solls nicht erreicht. Die Messwerte seinen nur bis zu 2/3 niedriger als die Sollwerte. Es sei "nicht angenehm, hier so genau auf die gemessenen Werte zu schauen, wenn man sieht, welche Einschränkungen bei dem Kläger vorliegen". Die Lungenfunktionsbefunde seien nach den Anhaltspunkten noch der Gruppe mittleren Grades zuzuordnen. Die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" seien nicht erfüllt.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Außerdem wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die vorlag und Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung und die Klage gegen den Bescheid vom 19. Januar 2007 sind unbegründet. Über den während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheid vom 19. Januar 2007 hatte der Senat im Wege der Klage zu entscheiden, § 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 96 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" feststellt.

Nach § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) stellen die Versorgungsämter neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung) und die den von dem Kläger begehrten Zugang zu straßenverkehrsrechtlichen Parkerleichterungen eröffnet.

Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüft-exartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind. Eine derartige Gleichstellung setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (Urteil vom 11. März 1998, B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht um einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein kann. Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppeloberschenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er längere Wege zu Fuß wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung zurücklegen kann. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang in seiner neusten Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 29. März 2007, B 9a SB 5/05 R) zum Ausdruck gebracht, dass grundsätzlich für die Gleichstellung bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen sei, wobei sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren lasse. Maßgeblich ist nach dieser Rechtsprechung, unter welchen Bedingungen dem Behinderten die Zurücklegung eines Weges nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Gradmesser kann u.a. die Intensität der Luftnot nach dem Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke sein.

Auf diese recht unpräzisen Vorgaben, die der Kläger als erfüllt ansieht, kann jedoch vorliegend nicht abgestellt werden. Denn nach Nr. 31 Abs. 4 der Anhaltspunkte 2004 bzw. 2005, S. 139 f. rechtfertigen Erkrankungen der inneren Organe eine Gleichstellung nur bei einer erheblichen Schwere, beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades (siehe Nummer 26.8). Eine Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades liegt nach Nr. 26.8, S. 68 der Anhaltspunkte unter drei verschiedenen Kriterien vor: bei Atemnot bereits bei leichtester Belastung oder in Ruhe oder statischen und dynamischen Messwerten der Lungenfunktionsprüfung um mehr als 2/3 niedriger als die Sollwerte oder aber bei respiratorischer Globalinsuffizienz.

Derartig schwere Einschränkungen der Lungenfunktion sind bei dem Kläger nicht gegeben. Hierauf hat Dr. G unter Bezugnahme auf die Vorgaben der Anhaltspunkte nachvollziehbar hingewiesen. Der Sachverständige hat weder eine Atemnot in Ruhe bestätigt, noch eine Atemnot bereits bei leichtester Belastung festgestellt, indem er zwar ein Schweratmen nach cirka 10 Metern, aber lediglich eine leichte Dyspnoe beim Entkleiden und beim Gang zur Waage beschrieben hat. Auch rechtfertigen die Lungenfunktionswerte nach den Ausführungen des Sachverständigen noch nicht die Zuerkennung des Merkzeichens. Diese Werte erreicht der Kläger nicht. Denn die letzten Befunde weisen einen FEV 1 VC Wert von 38% auf und liegen deshalb oberhalb der erforderlichen Reduktion auf 33%. Hierbei handelt es sich auch nicht um ausnahmsweise "gute" Werte, sondern der Sachverständige hat zugleich nachvollziehbar ausgeführt, dass es bei den Kontrollen der Lungenfunktionsparametern im Vergleich Schwankungen gebe, aus denen zwar sichtbar werde, dass gegenüber 2003 eine Verschlechterung eingetreten sei. Es werde aber noch nicht der Grenzwert von 2/3 des Sollwertes erreicht. Dem steht nicht entgegen, dass die Lungenfachärztin eine hochgradig obstruktive Ventilationsstörung mit hochgradigsten Einschränkungen im Bereich der peripheren Atemwege angibt. Denn diese Schweregradabstufung orientiert sich, wie die zugrunde gelegten Befunde belegen, nicht an den Vorgaben der Anhaltspunkte.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Einwand des Klägers, Dr. Ghabe nicht die aktuellen Befunde berücksichtigt, da der Sachverständige auch die Ergebnisse der letzten Lungenfunktionsprüfung vom 7. Mai 2007 beurteilt hat.

Auch die dritte Alternative, bei deren Vorliegen nach den Anhaltspunkten von einer dauernden Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades ausgegangen wird, eine respiratorische Globalinsuffizienz, konnte nicht festgestellt werden, da den Unterlagen zufolge der pO2-Wert als akzeptabel angegeben und keine Erhöhung des CO2-Gehaltes des Blutes festgestellt worden sind.

Nach alledem hat die Berufung keinen Erfolg.

Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Berufung keinen Erfolg hat.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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