L 1 B 516/07 KR ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 36 KR 2028/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 B 516/07 KR ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2007 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch für das Beschwerdeverfahren zu tragen.

Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn vorläufig bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens als freiwilliges Mitglied zu führen.

Der im Jahre 1942 geborene Antragsteller, der an psychotischen endogenen Depressionen leidet, befand sich von November 1999 bis Februar 2000 in der Psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses N. Am 18. Mai 2001 ist für ihn Frau E H vom Amtsgericht Neukölln zur Betreuerin mit dem Aufgabenbereich Besorgung der Renten- und Pflegegeldangelegenheiten, Vertretung vor Behörden, Wohnungsangelegenheit und Vermögenssorge bestellt worden.

Der Antragsteller war vom 01. Januar 2005 bis zum 22. Februar 2007 bei der Antragsgegnerin versichertes Mitglied wegen des Bezuges von Arbeitslosengeld II Alg II -. Mit Ablauf dieses Tages endete der Leistungsbezug und die Antragsgegnerin führt den Antragsteller seither als Leistungsberechtigten nach § 264 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch SGB V. Seit 23. Februar 2007 bezieht der Antragsteller Grundsicherung nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch SGB XII - und seit 01. März 2007 Regelaltersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Am 08. März 2007 meldete die Betreuerin den Antragsteller bei der Antragsgegnerin zur Krankenversicherung der Rentner nach § 201 Abs. 1 SGB V.

Mit Bescheid vom 09. März 2007 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, dass eine Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner nicht möglich sei, da die zeitlichen Voraussetzungen (Vorversicherungszeiten) hierfür nicht vorlägen.

Daraufhin erklärte die Betreuerin den Beitritt des Antragstellers zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung bei der Antragsgegnerin am 02. April 2007.

Mit Bescheid vom gleichen Tage teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, eine freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung sei nicht möglich, da der Antragsteller unmittelbar vor dem Ende der Pflichtversicherung nicht ununterbrochen zwölf Monate pflichtversichert gewesen sei. Dabei blieben Versicherungszeiten, in denen eine Versicherung allein deshalb bestanden habe, weil Alg II zu Unrecht bezogen worden sei, unberücksichtigt. Irgendwelche medizinischen oder sonstigen Ermittlungen dazu, weshalb der Antragsteller Alg II zu Unrecht bezogen habe, sind in dem Bescheid nicht genannt und lassen sich dem Vorgang der Antragsgegnerin nicht entnehmen.

Gegen diesen Bescheid richtete sich der Widerspruch des Antragstellers vom 27. April 2007, zu dem der Grundsicherungsträger, das Bezirksamt Neukölln von Berlin, diesen veranlasste. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens holte die Beklagte ein Attest des behandelnden Allgemeinmediziners und Psychotherapeuten Herrn H vom 14. Juni 2007 ein und leitete dieses dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen MDK zur Stellungnahme zu. Der MDK vertrat am 25. Juli 2007 die Auffassung, der Antragsteller sei "mit hinreichender Wahrscheinlichkeit" ab dem 01. Januar 2005 nicht in der Lage gewesen, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Am 27. Juni 2007 zeigte die Betreuerin die Pflichtversicherung des Antragstellers nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V bei der Antragsgegnerin an.

Am 05. Juli 2007 hat die Betreuerin für den Antragsteller beim Sozialgericht Berlin den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Klärung seiner Krankenversicherung beantragt. Das Sozialgericht hat dies als Hauptantrag zur vorläufigen Feststellung der Pflichtmitgliedschaft und als Hilfsantrag zur vorläufigen Feststellung der freiwilligen Mitgliedschaft bei der Antragsgegnerin ausgelegt.

Mit Beschluss vom 19. Juli 2007 hat das Sozialgericht dem Hilfsantrag entsprochen und vorläufig festgestellt, dass der Antragsteller seit dem 23. Februar 2007 bei der Antragsgegnerin freiwillig krankenversichert sei.

Im Übrigen hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt.

In Bezug auf die Ablehnung des Antrages, also die Pflichtversicherung betreffend, hat das Sozialgericht dies damit begründet, dass gemäß § 5 Abs. 8 a Satz 2 in Verbindung mit Satz 1 SGB V nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V pflichtversichert ist, wer wie der Antragsteller laufend Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII bezieht.

Soweit das Sozialgericht dem Antrag entsprochen hat, hat es dies damit begründet, dass der Antragsteller vom 01. Januar 2005 bis zum 22. Februar 2007 wegen des Bezuges von Alg II bei der Antragsgegnerin versicherungspflichtig gewesen sei und somit die Zwölfmonatsfrist nach § 9 Abs. 1 Ziffer 1 SGB V ebenso erfülle wie die Dreimonatsfrist des Abs. 2 dieser Vorschrift. Die Frage, ob Alg II gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 2. Halbsatz SGB V rechtswidrig bezogen worden sei oder nicht, habe nicht der Träger der Krankenversicherung, sondern der Träger der Arbeitslosenversicherung zu prüfen. Solange ein Bewilligungsbescheid bestünde, sei er für die Krankenkassen beachtlich und gegebenenfalls hätten diese die gemeinsame Einigungsstelle gemäß § 44 a Sozialgesetzbuch Zweites Buch SGB II anrufen müssen. Somit liege ein Anordnungsanspruch vor. Auch ein Anordnungsgrund sei gegeben, da der Antragsteller aufgrund ärztlicher Verordnungen für die Zeit vom 01. Juli 2007 bis zum 31. Dezember 2007 laufend häusliche Krankenpflege benötigte. Einer Verweisung des Antragstellers auf § 264 Abs. 2 SGB V stünde die Subsidiarität der Sozialhilfe entgegen.

Gegen diesen ihr am 25. Juli 2007 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin vom 17. August 2007, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (Nichtabhilfeentscheidung vom 20. August 2007).

Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, das Sozialgericht habe zu Unrecht sowohl das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs als auch eines Anordnungsgrundes bejaht. Die Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 2. Halbsatz SGB V setze nicht voraus, dass die Bewilligung der Alg II Zahlung aufgehoben worden sei. Die Krankenkassen hätten das Einigungsverfahren gemäß § 44 a Abs. 1 SGB II nur während des laufenden Bezuges von Alg II und der damit verbundenen Leistungsverpflichtung der Krankenkasse, nicht jedoch nach dessen Abschluss durchzuführen.

Ein Anordnungsgrund liege deshalb nicht vor, weil der Antragsteller zumutbar auf Leistungen gemäß § 264 Abs. 2 SGB V verwiesen werden könne, ohne dass dem die grundsätzliche Subsidiarität der Sozialhilfe entgegenstehe.

Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2007 zu ändern und den Antrag abzuweisen.

Die Beigeladene und der Antragsteller beantragen sinngemäß,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie halten den angefochtenen Beschluss für zutreffend.

Die Betreuerin hat mitgeteilt, dass der Antragsteller derzeitig nicht krankenversichert sei, die Pflegestation arbeite ohne Entgelt.

Der Senat hat ihr daraufhin mitgeteilt, dass ein Antrag der Antragsgegnerin auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2007 gemäß § 199 Sozialgerichtsgesetz SGG - mit Beschluss vom 29. August 2007 abgelehnt wurde. Nach dem Ausführungsbescheid vom 08. Oktober 2007 führt die Antragsgegnerin den Antragsteller bis zum Ausgang des Rechtsstreits im Hauptsacheverfahren und vorbehaltlich einer abweichenden Entscheidung des Landessozialgerichts in dem einstweiligen Anordnungsverfahren als freiwilliges Mitglied.

II.

Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht vorläufig festgestellt, dass der Antragsteller seit dem 23. Februar 2007 bei der Antragsgegnerin freiwillig krankenversichert ist.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzungen sind ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund (§ 86 b Abs. 2 in Verbindung mit § 920 Zivilprozessordnung ZPO ). Der Anordnungsanspruch ist das materielle Recht, für das vorläufiger Rechtsschutz beantragt wird, der Anordnungsgrund ist im Fall der hier zu treffenden Regelungsanordnung die Notwendigkeit zur Abwendung wesentlicher Nachteile.

Der erkennende Senat teilt nicht die Auffassung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts (Beschluss vom 19. September 2006 L 5 B 376/06 KR ER ) sowie des 9. und 24. Senats des erkennenden Gerichts (Beschlüsse vom 14. Februar 2007 L 9 B 541/06 KR ER sowie vom 01. Oktober 2007 L 24 B 477/07 KR ER ), sondern hält die Auffassung des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 17. August 2006 L 5 B 41/06 KR ER ) für überzeugend. Die freiwillige Mitgliedschaft in einer Gesetzlichen Krankenkasse wird mit dem Zugang der Beitrittsanzeige ohne weiteres wirksam, ohne dass es einer förmlichen Feststellung der Mitgliedschaft durch die Krankenkasse in Bescheidform bedarf (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg L 24 B 477/07 KR ER ).

Die richtige Klageart im Hauptsacheverfahren wäre somit, wenn die Krankenkasse wie hier eine freiwillige Mitgliedschaft verneint, die Feststellungsklage. Dementsprechend ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine einstweilige Feststellung zu treffen, denn ein streitiges Rechtsverhältnis im Sinne von § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann auch die hier streitige freiwillige Mitgliedschaft in der Krankenversicherung sein. Für eine Differenzierung dahingehend, dass zu unterscheiden sei zwischen der Feststellung einer freiwilligen Mitgliedschaft und der vorläufigen Feststellung des (aus ihr resultierenden) behaupteten Krankenversicherungsschutzes besteht keine Veranlassung. Wer nicht Mitglied ist, dem hat die Kasse keine Leistungen zu gewähren. Die Abwicklung eines mitgliedschaftslosen Krankenversicherungsschutzes jeweils nach dem Ausgang des Hauptsacheverfahrens stellt sich als identisch mit der einer vorläufigen Mitgliedschaft dar, so dass eine solche Differenzierung keinen Sinn macht.

Ob die Voraussetzungen für den Beitritt zur freiwilligen Krankenversicherung gemäß § 9 Abs. 1 Ziffer 1 SGB V im Hauptsacheverfahren festgestellt werden können oder nicht, ist derzeit offen und sowohl vom Rechtlichen als auch vom Tatsächlichen her umstritten. Ob, wie die Antragsgegnerin meint, ein Einigungsverfahren nach Beendigung des Alg II Bezuges nicht mehr durchzuführen ist, ob die Krankenkasse ein materiell-rechtliches Prüfungsrecht hat oder nicht und ob, wenn eine materielle Prüfung der Voraussetzungen des Bezuges von Alg II beim Antragsteller im entscheidenden Zeitraum durchgeführt wird, dieses dazu führt, dass dieser, obwohl er lediglich in hausärztlicher Behandlung war, tatsächlich nicht in der Lage war, einer Erwerbstätigkeit von mindestens drei Stunden täglich nachzugehen oder nicht, lässt sich im summarischen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht überprüfen. Ausschlaggebend ist somit, ob es nach den Umständen des Einzelfalles für den Antragsteller zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens weitgehend offen, sind die Folgen abzuwägen, die auf der einen und der anderen Seite entstehen würden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch besteht, oder auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erließe, sich aber im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch nicht besteht.

Der Antragsteller benötigt aufgrund seiner gesundheitlichen Situation durchgehend Leistungen der Krankenversicherung.

Es ist ihm zur Überzeugung des Senats nicht zumutbar, während des Hauptsacheverfahrens auf Leistungen gemäß § 264 Abs. 2 SGB V verwiesen zu werden.

Dafür sprechen zweierlei Gründe:

1. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist die von der Antragsgegnerin in Abrede gestellte Subsidiarität der Leistung nach § 264 Abs. 2 SGB V im Gesetz deutlich zum Ausdruck gebracht. Die Antragsgegnerin selbst führt aus: "Wenn keine gesetzliche Krankenversicherung besteht, wird die Krankenbehandlung von Empfängern von Sozialhilfe von der Krankenkasse gegen Kostenerstattung durch das Sozialamt übernommen." Diese, wenn dann Verknüpfung zeigt eindeutig auf, dass für eine Regelung nach § 264 Abs. 2 SGB V nur dann Raum ist, wenn keine Gesetzliche Krankenversicherung besteht, also Voraussetzung hierfür gerade wäre, dass der Antragsteller nicht Mitglied bei der Antragsgegnerin ist. Dies ist jedoch streitig. Zunächst hat der Antragsteller seinen Beitritt wirksam angezeigt und der Verwaltungsakt, mit dem die Antragsgegnerin die Wirksamkeit bestreitet, ist bislang nicht bestandskräftig.

2. Der Leistungsanspruch nach § 264 Abs. 2 SGB V stellt keinen gleichwertigen Leistungsanspruch dar wie derjenige als freiwilliges Mitglied bei einer Krankenkasse. Dies ergibt sich bereits aus Folgendem: Gemäß § 264 Abs. 5 SGB V haben die Träger der Sozialhilfe Leistungsempfänger bei der jeweiligen Krankenkasse abzumelden, wenn diese nicht mehr bedürftig im Sinne des SGB XII sind, und die Krankenversicherungskarte einzuziehen. Das heißt: Wenn der Antragsteller auch nur vorübergehend für wenige Tage etwa durch eine kleinere Zuwendung, eine kleinere Erbschaft, ein Geschenk, den Verkauf von Gegenständen nicht mehr bedürftig ist, wäre dies der Beigeladenen mitzuteilen, die ihn dann bei der Antragsgegnerin abzumelden und seinen Krankenversicherungsausweis einzuziehen hätte. Unabhängig davon, ob dieser Fall häufig eintritt oder nicht, zeigt dies, dass hier kein gleichwertiger Leistungsanspruch besteht, sondern eine zumindest latente fortdauernde Unsicherheit darüber, ob im Leistungsfall entsprechende Leistungen in Anspruch genommen werden können und von wem.

Daher hat der Antragsteller ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens die freiwillige Mitgliedschaft besteht. Umgekehrt werden berechtigte Interessen der Antragsgegnerin nicht berührt. Wenn der Antragsteller im Hauptsacheverfahren unterliegt, so erhält sie eine vollständige Kostenerstattung nach § 264 Abs. 2 SGB V von der Beigeladenen.

Die Kostenentscheidung entspricht dem Ausgang des Verfahrens und beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.

Gegen diesen Beschluss findet die Beschwerde an das Bundessozialgericht nicht statt (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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