L 27 P 2/08

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 76 P 311/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 P 2/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 8. April 2003 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung von Pflegegeld bei häuslicher Pflege nach der Pflegestufe I ab dem 1. August 2000.

Der 1935 geborene Kläger ist Mitglied der Beklagten. Er leidet u. a. an einer Adipositas per magna, einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus, einer chronischen Herz- und Niereninsuffizienz, erheblichen Einschränkungen des Stütz- und Bewegungsapparates sowie einer Sehbehinderung. Er ist seit Jahren mit einem Grad der Behinderung von 90, der im Jahre 2007 auf 100 erhöht worden ist, als Schwerbehinderter anerkannt und berechtigt, Nachteilsausgleiche im Zusammenhang mit den Merkzeichen "G" und "RF" in Anspruch zu nehmen. Ferner ist ihm vom Versorgungsamt empfohlen worden, ein Verkehrsschutzzeichen zu tragen. Er lebt allein in einer 2-Zimmer-Wohnung mit einer Größe von 40 m² und wird von seinem Bruder gepflegt.

Im August 2000 beantragte er bei der Beklagten, ihm Pflegegeld bei häuslicher Pflege zu gewähren. Die Beklagte ließ ihn durch den Medizinischen Dienst BEV begutachten, für den die Ärztin für Allgemeinmedizin G in ihrem Gutachten vom 9. November 2000 ausführte: Der Kläger sei nicht pflegebedürftig. Denn er benötige Hilfen von durchschnittlich 20 Minuten pro Tag nur in der hauswirtschaftlichen Versorgung, nicht jedoch in der Grundpflege. Gestützt auf dieses Gutachten lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers mit ihrem Bescheid vom 16. November 2000 ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies sie nach nochmaliger Einschaltung des Medizinischen Dienstes BEV mit ihrem Widerspruchsbescheid vom 11. April 2001 als unbegründet zurück.

Mit seiner Klage hat der Kläger Atteste seines behandelnden Internisten Dr. S vom 23. Juli 2001 und seines behandelnden Orthopäden Dr. N vom 26. Juli 2001 überreicht und ausgeführt: Die Beklagte habe den pro Tag erforderlichen durchschnittlichen Hilfebedarf unzureichend eingeschätzt. Angesichts der bei ihm vorliegenden gravierenden Funktionsbeeinträchtigungen belaufe sich dieser Hilfebedarf auf mindestens 90 Minuten täglich, von denen mehr als 45 Minuten täglich auf die Grundpflege entfielen.

Das Sozialgericht hat den Arzt für Innere Medizin Dr. E mit der Erstattung eines medizinischen Sachverständigengutachtens beauftragt. Dr. E ist in seinem Gutachten vom 20. März 2002 zu dem Ergebnis gelangt: Abweichend von dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten könne er zwar in der Grundpflege einen Hilfebedarf beim Duschen sowie beim Verlassen der Wohnung zu Arzt- und Bankbesuchen erkennen. Dieser Hilfebedarf liege jedoch wöchentlich im Tagesdurchschnitt bei 7,5 Minuten plus 0,833 Minuten und damit deutlich unter 45 Minuten. Den Hilfebedarf in der hauswirtschaftlichen Versorgung schätze er auf 60 Minuten täglich.

Mit seinem Gerichtsbescheid vom 8. April 2003 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach der Pflegestufe I lägen nicht vor. Wie der gerichtlich bestellte Sachverständige Dr. E nachvollziehbar dargelegt habe, erreiche der Hilfebedarf in der Grundpflege nicht den für die Pflegestufe I erforderlichen Zeitaufwand von mehr als 45 Minuten täglich.

Gegen diesen – dem Kläger am 16. Mai 2003 zugestellten – Gerichtsbescheid richtet sich die am 16. Juni 2003 bei Gericht eingegangene Berufung des Klägers. Der Kläger überreicht von ihm selbst gefertigte Aufstellungen über seinen täglichen Pflegebedarf für die Monate Januar 2003 bis Juli 2003 und Januar 2004 bis Oktober 2007, ein Attest seines behandelnden Internisten Dr. S vom 29. Juli 2003 sowie Arztbriefe der Neurologin S vom 1. Juli 2004 und der Radiologen Dres. M u. a. vom 28. Juni 2004. Zur Begründung seiner Berufung macht er geltend: Dem Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. E könne nicht gefolgt werden. Denn abgesehen davon, dass der Sachverständige unter Hörproblemen gelitten habe, habe er auch nicht alle Befunde und Röntgenbilder ausgewertet. Zudem habe er die bei ihm bestehenden funktionellen Einschränkungen insbesondere im Bereich des Stütz- und Bewegungsapparates sowie im koronaren Bereich nicht ausreichend gewürdigt und sei deshalb bei der Bemessung des Pflegebedarfs zu fehlerhaften Ergebnissen gelangt. Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 8. April 2003 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16. November 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2001 zu verurteilen, ihm Pflegegeld bei häuslicher Pflege nach der Pflegestufe I ab dem 1. August 2000 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angegriffenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Auf Antrag des Klägers, einen bestimmten Arzt gutachtlich zu hören, hat das Landessozialgericht den Orthopäden Dr. W mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dr. W hat in seinem Gutachten vom 15. August 2007 ausgeführt: Der Hilfebedarf des Klägers sei im Laufe des Verfahrens angestiegen. Im Bereich der Grundpflege sei jedenfalls bezogen auf den Begutachtungszeitpunkt der für die Anerkennung der Pflegestufe I erforderliche Hilfebedarf von durchschnittlich 45 Minuten pro Tag nunmehr erreicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie den Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid die Klage abgewiesen. Denn sie erweist sich ebenfalls als zulässig, aber unbegründet.

Der mit der Klage angegriffene Ablehnungsbescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld bei häuslicher Pflege nach der Pflegestufe I für die Zeit ab dem 1. August 2000 nicht zu.

Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 – 3 des Elften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XI) setzt der Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld bei häuslicher Pflege nach der Pflegestufe I u. a. voraus, dass der Anspruchsteller pflegebedürftig ist und mindestens der Pflegestufe I zugeordnet werden kann. Pflegebedürftigkeit liegt hierbei nach § 14 Abs. 1 XI vor, wenn der Betroffene wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedarf, die nach § 14 Abs. 3 SGB XI in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen besteht. Als gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im vorgenannten Sinne gelten nach § 14 Abs. 4 SGB XI im Bereich der Körperpflege, der neben den Bereichen der Ernährung und der Mobilität zur Grundpflege gehört, das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- oder Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen. Die Zuordnung zur Pflegestufe I setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XI voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss hierbei wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen.

Jedenfalls an der letzten Voraussetzung fehlt es im Fall des Klägers, was sich zur Überzeugung des Senats aus den Gutachten der gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. E und Dr. W ergibt. So hat zunächst Dr. E in seinem Gutachten vom 20. März 2002 in sich stimmig und nachvollziehbar dargelegt, dass der erforderliche Hilfebedarf des Klägers in der Grundpflege wöchentlich im Tagesdurchschnitt deutlich unter 45 Minuten liegt, weil der Kläger bei den zur Grundpflege gehörenden Verrichtungen Hilfe nur beim Duschen sowie beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung im Zusammenhang mit Arzt- und Bankbesuchen benötigt. An der Richtigkeit dieser Einschätzung zu zweifeln, sieht der Senat keinen Anlass. Denn diese Einschätzung beruht auf einem ausführlichen Gespräch des Sachverständigen mit dem Kläger über dessen Wohn- und Betreuungssituation, einer körperlichen Untersuchung des Klägers in dessen häuslicher Umgebung nebst Befunderhebung sowie einer Auswertung der in den Akten vorhandenen ärztlichen Stellungnahmen. Sie deckt sich zudem hinsichtlich der festgestellten Diagnosen im Wesentlichen mit den von den behandelnden Ärzten des Klägers mitgeteilten Gesundheitsstörungen und fußt des Weiteren auf einer differenzierten Darstellung der hieraus abzuleitenden Funktionsbeeinträchtigungen, auf die es für die Ermittlung des konkreten Hilfebedarfs allein ankommt. Soweit der Sachverständige den seiner Einschätzung nach allein erforderlichen Hilfebedarf beim Duschen und beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung im Zusammenhang mit Arzt- und Bankbesuchen auf täglich 7,5 Minuten plus 0,833 Minuten täglich und damit auf deutlich unter 45 Minuten bemessen hat, erweist sich dies in tatsächlicher Hinsicht als unbedenklich und bedarf allenfalls in rechtlicher Hinsicht einer Korrektur insoweit, als Hilfen beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung bei der Feststellung des täglichen Pflegebedarfs nur dann berücksichtigungsfähig sind, wenn sie mindestens einmal wöchentlich anfallen und erforderlich sind, um das Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen, also Krankenhausaufenthalte und die stationäre Pflege in einem Pflegeheim vermeiden (vgl. BSG SozR 3 – 3300 § 14 Nr. 16). Ob Letzteres für die in Rede stehenden Mobilitätshilfen anzunehmen ist, bedarf im Fall des Klägers allerdings keiner Entscheidung. Denn der Sachverständige ist von einer Berücksichtigungsfähigkeit dieser Hilfen ausgegangen, so dass eine Nichtberücksichtigung den für den Grundpflege insgesamt anerkannten Wert von deutlich unter 45 Minuten täglich nur noch weiter absenken würde.

Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich ein Grundpflegebedarf von mehr als 45 Minuten täglich auch nicht aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. W vom 15. August 2007 ableiten. Denn dieser Sachverständige hat zwar auf der Grundlage der von ihm im Rahmen einer körperlichen Untersuchung des Klägers erhobenen Befunde und der hieraus abgeleiteten Diagnosen und Funktionsbeeinträchtigungen in nachvollziehbarer Weise dargelegt, dass der Hilfebedarf des Klägers im Laufe des Verfahrens angestiegen ist. Das von ihm gefundene Ergebnis, dass der für die Zuordnung zur Pflegestufe I erforderliche Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von durchschnittlich 45 Minuten pro Tag nunmehr erreicht sei, kann jedoch der Entscheidung des Rechtsstreits nicht zugrunde gelegt werden, sondern bedarf der Richtigstellung durch den Senat. Denn abgesehen davon, dass der für die Zuordnung zur Pflegestufe I erforderliche Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XI mehr als 45 Minuten täglich betragen muss, ergeben die von dem Sachverständigen mitgeteilten Zeitwerte für die Teilwäsche des Ober- und Unterkörpers von 8 bis 10 Minuten, das Duschen zuzüglich Transfer von (15 + 2 Minuten jeden 2. Tag =) aufgerundet 9 Minuten, das Kämmen von 2 Minuten, die Hilfe bei der Darm- und Blasenentleerung von 5 Minuten, die Hilfe bei der Zubereitung der mundgerechten Nahrung von 2 Minuten sowie die Hilfe beim Ankleiden von 8 Minuten und beim Entkleiden von 5 Minuten keinen Hilfebedarf von 45, sondern nur von maximal 41 Minuten. Von diesem Hilfebedarf ist jedenfalls der Zeitaufwand abzusetzen, den der Sachverständige – ohne sich insoweit in zeitlicher Hinsicht konkret festzulegen – im Zusammenhang mit dem An- und Entkleiden von insgesamt 13 Minuten für das An- und Ablegen der vom Kläger an beiden Unterschenkeln getragenen Wickelbandagen sowie für einen Salbenauftrag und/oder eine Nekrosenabtragung berücksichtigt hat. Denn die zuletzt genannten Verrichtungen sind nicht dem Bereich der Grundpflege, sondern dem Bereich der Behandlungspflege zuzurechnen und als Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege von den Krankenkassen zu erbringen, weil sie weder untrennbarer Bestandteil einer Verrichtung aus dem Katalog des § 14 Abs. 4 SGB XI sind noch mit einer solchen Verrichtung objektiv notwendig in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang stehen (vgl. BSG SozR 3 – 2500 § 37 Nr. 3).

Ob – wie die Beklagte dargelegt hat – der von dem Sachverständigen Dr. W ermittelte Grundpflegebedarf über die dargestellten Korrekturen hinaus noch weiterer Abstriche bedarf, kann hier dahinstehen, weil bereits die durch den Senat vorgenommen Richtigstellungen dazu führen, einen Grundpflegebedarf von mehr als 45 Minuten zu verneinen. Zu diesen Richtigstellungen ist der Senat ohne weiteres befugt, weil er sich insoweit keinen eigenen medizinischen Sachverstand anmaßt, sondern die von dem Sachverständigen mitgeteilten Werte lediglich in rechnerischer Hinsicht korrigiert bzw. aus Rechtsgründen anders würdigt, als der Sachverständige dies getan hat. Weitere Ermittlungen in medizinischer Hinsicht hält der Senat angesichts der beiden vorliegenden Sachverständigengutachten nicht für geboten, zumal der Kläger gegen die medizinischen Feststellungen des Sachverständigen Dr. W Einwendungen nicht erhoben hat und er sich im Übrigen auch nicht darauf berufen hat, dass sich seit der Begutachtung durch Dr. W Verschlechterungen ergeben hätten. Für derartige Verschlechterungen sind Anhaltspunkte auch sonst nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil ein Grund hierfür nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.
Rechtskraft
Aus
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