L 9 B 32/06 KR NZB

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 81 KR 872/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 B 32/06 KR NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1.) Eine Abweichung von einer Entscheidung des BSG liegt nicht schon dann vor, wenn das Sozialgericht einen Rechtssatz nicht beachtet oder unrichtig angewandt hat, sondern erst dann, wenn es diesem Rechtssatz widersprochen, also einen anderen Rechtssatz aufgestellt und angewandt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Berufung wegen Divergenz.

2.) Werden von einem Gericht mehrere selbstständige Begründungen gegeben, die - wie hier - den Urteilsausspruch schon jeweils für sich genommen tragen, muss in der Nichtzulassungsbeschwerde für jede der Begründungen ein Berufungszulassungsgrund geltend gemacht werden.

3.) Ein Abweichen eines Urteils des Sozialgerichts von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts setzt begriffsnotwendig voraus, dass bereits eine anders lautende Entscheidung des Bundessozialgerichts existent ist. Ein "Nachschieben von Gründen" nach Ablauf der Begründungsfrist für die Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht mehr möglich.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Januar 2006 wird zurückgewiesen. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Januar 2006 ist gemäß § 145 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet.

Nach § 144 Abs.1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des Sozialgerichts oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 500 Euro nicht übersteigt. Das ist hier der Fall, weil die Klage auf Erstattung von Kosten der häuslichen Krankenpflege in Höhe von 349,16 Euro gerichtet ist.

Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1), das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr. 2) oder ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Nr. 3). Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

1. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG, weil sowohl die Voraussetzungen der Erstattung der Kosten für das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen als Leistung der häuslichen Krankenpflege in Abgrenzung zu Leistungen der Pflegeversicherung als auch die des Bestehens eines Erstattungsanspruchs im Falle der Unwirksamkeit eines vom Versicherten mit einem Leistungserbringer abgeschlossenen "Selbstbeschaffungsvertrages" durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, nämlich durch die Urteile vom 30. Oktober 2001 (B 3 KR 2/01 R, [SozR 3-2500 § 37 Nr. 3 Rdnrn. 13 ff.]) sowie vom 17. März 2005 (B 3 KR 9/04 R, [SozR 4-2500 § 37 Nr. 4 Rdnrn. 18 ff.]) hinsichtlich der erstgenannten Rechtsfrage und durch das Urteil vom 3. August 2006 (B 3 KR 24/05 R, zitiert nach juris) hinsichtlich der zweiten Rechtsfrage geklärt ist. Dementsprechend beruft sich die Klägerin für die Zulassungsfähigkeit der Rechtssache auch nicht auf ihre grundsätzliche Bedeutung.

2. Das angegriffene Urteil des Sozialgerichts weicht auch entgegen der Auffassung der Klägerin nicht von den vorgenannten Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 17. März 2005 und vom 3. August 2006 ab. Wer sich auf den Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG beruft, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Sozialgericht einerseits und in einer höchstrichterlichen Entscheidung andererseits gegenüberstellen und begründen, weshalb diese miteinander unvereinbar sind (vgl. BSG, Beschluss vom 27.6.2005 - B 1 KR 43/04 B; BSG, Beschluss vom 18.7.2005 - B 1 KR 110/04 B - m.w.N.; BSG, Beschluss vom 24.1.2007 - B 1 KR 155/06 B - RdNr 8 m.w.N. ). Erforderlich ist, dass das Sozialgericht bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt hat und nicht etwa lediglich nur fehlerhaft das Recht angewendet hat (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 15.1.2007 - B 1 KR 149/06 B - RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr. 26 S. 44 f.). Im vorliegenden Fall hätte die Klägerin hierfür darlegen müssen, dass das Sozialgericht einen tragenden Rechtssatz in Abweichung von einem anderen Rechtssatz aufgestellt hat, den das Bundessozialgericht in den zitierten Entscheidungen entwickelt und angewendet hat, und dass die Entscheidung des Sozialgerichts auf dieser Divergenz beruht. Hierzu wäre es notwendig gewesen, den von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichenden Rechtssatz des Sozialgerichts herauszuarbeiten und die Unvereinbarkeit mit einem Rechtssatz des BSG aus den zitierten Urteilen aufzuzeigen. Denn eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das Sozialgericht einen Rechtssatz nicht beachtet oder unrichtig angewandt hat, sondern erst dann, wenn es diesem Rechtssatz widersprochen, also einen anderen Rechtssatz aufgestellt und angewandt hat. Nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Berufung wegen Divergenz (vgl. BSG SozR 1500 § 160a Nr. 14, 21, 29 und 67 sowie Beschluss vom 24. 5. 2007 -B 3 P 7/07 B- zitiert nach Juris). Weder aus der Beschwerde noch sonst ist ersichtlich, dass das Sozialgericht in der angefochtenen Entscheidung von den oben genannten Urteilen des BSG bewusst und im Grundsätzlichen abweichen wollte.

Das Sozialgericht hat sein Urteil unter Hinweis auf die Entscheidung des BSG vom 30. Oktober 2001 darauf gestützt, dass nach § 37 Abs. 2 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) in der bis zum 31. Dezember 2003 gültigen Fassung der Anspruch eines Pflegebedürftigen auf Leistungen der häuslichen Krankenpflege ausgeschlossen sei, wenn - wie im vorliegenden Fall- die benötigten Maßnahmen der Behandlungspflege bereits bei den Leistungen der Pflegeversicherung berücksichtigt worden seien. Zusätzlich hat es die Klage abgewiesen, weil der geltend gemachte Anspruch der Klägerin auf Freistellung von einer Verbindlichkeit nach § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V daran scheitere, dass die Klägerin wegen der Unwirksamkeit des "Selbstbeschaffungsvertrages" keinem Vergütungsanspruch des Leistungserbringers ausgesetzt sei, so dass für sie auch keine erstattungsfähigen Kosten entstanden seien.

Werden von einem Gericht mehrere selbstständige Begründungen gegeben, die - wie hier - den Urteilsausspruch schon jeweils für sich genommen tragen, muss in der Beschwerde für jede der Begründungen ein Berufungszulassungsgrund geltend gemacht werden (BSG Beschluss vom 25. April 2006 - B 1 KR 97/05 B - zitiert nach juris sowie BSG SozR 1500 § 160a Nr. 5 und Nr. 38), d. h. bezogen auf den vorliegenden Fall muss die Divergenz zu den genannten Entscheidungen des Bundessozialgerichts hinsichtlich beider tragender Gründe der angegriffenen sozialgerichtlichen Entscheidung aufgezeigt werden. Das ist der Klägerin aber nicht gelungen.

Zu Unrecht beruft sich die Klägerin für den ersten der tragenden Urteilsgründe des Sozialgerichts auf eine Abweichung der Entscheidung von dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 17. März 2005 Rdnrn. 22. Darin stellt das Bundessozialgericht fest:

"Seit dem 1. Januar 2004 sind Behandlungspflegemaßnahmen, die untrennbarer Bestandteil einer Verrichtung der Grundpflege sind oder mit dieser objektiv notwendig in einem unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang stehen, nur noch dann bei der Berechnung des Umfangs des Pflegebedarfs nach den §§ 14 und 15 SGB XI und damit bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit und der Zuordnung zu einer der Pflegestufen zu berücksichtigen, wenn der Antragsteller (der Pflegebedürftige) sich dafür entschieden hat, die Behandlungspflegemaßnahme in seinem Haushalt durch eine nicht erwerbsmäßig tätige Pflegeperson (§ 19 SGB XI), also durch Familienmitglieder, Nachbarn oder Freunde, und nicht durch einen Pflegedienst (§ 71 Abs. 1 SGB XI) erbringen zu lassen. Hat der Pflegebedürftige in solchen Fällen die Inanspruchnahme eines Pflegedienstes (§ 132a SGB V) für die Durchführung der Behandlungspflege gewählt, entfällt die Zuständigkeit der sozialen Pflegeversicherung für diese Maßnahme; allein zuständig ist die GKV (§ 37 SGB V). Dies gilt für die Zeit vor dem 1. Januar 2004 auch dann, wenn - wie hier - der Versicherte zu jener Zeit ebenfalls nur professionelle Hilfe bei der häuslichen Krankenpflege in Anspruch genommen hat und der Zeitaufwand für diese Hilfe bei der Berechnung des Umfangs des Pflegebedarfs nach den §§ 14 und 15 SGB XI außer Ansatz geblieben ist."

Danach bejaht das Bundessozialgericht in dieser Entscheidung eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für Zeiträume vor dem 1. Januar 2004, um die es hier geht, wenn der Versicherte professionelle häusliche Krankenpflege erhalten hat (1.) und der Zeitaufwand für diese Hilfe bei der Berechnung des Umfangs des Pflegebedarfs unberücksichtigt geblieben ist (2.). Aus der angegriffenen sozialgerichtlichen Entscheidung (Entscheidungsgründe: S. 4 Absatz 3 sowie Tatbestand: S. 2 Absatz 1) ist aber zu entnehmen, dass das Sozialgericht von einer Berücksichtigung des Zeitaufwandes für das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe bei den Leistungen der Pflegeversicherung ausgegangen ist, was auch nach dem wiedergegebenen Urteil des Bundessozialgerichts den geltend gemachten Anspruch und damit eine Divergenz ausschließt. Ob das Urteil des Sozialgerichts in diesem Punkt fehlerhaft ist und insbesondere mit dem bei den Verwaltungsvorgängen befindlichen Pflegegutachten in Übereinstimmung zu bringen ist, mag zweifelhaft sein; damit lässt sich jedoch eine Divergenzrüge nicht begründen.

Ebenso wenig beruht die sozialgerichtliche Entscheidung (hinsichtlich seiner weiteren Begründung) auf einer Abweichung vom Urteil des Bundessozialgerichts vom 3. August 2006. Denn diese Entscheidung ist erst ergangen, nachdem die angegriffene Entscheidung des Sozialgerichts bereits erlassen (10. Januar 2006) und die Frist für die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde bereits abgelaufen war (Zustellung des sozialgerichtlichen Urteils gegenüber der Klägerin am 16. Januar 2006, Fristablauf am 16. Februar 2006). Ein Abweichen eines Urteils des Sozialgerichts von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts setzt aber begriffsnotwendig voraus, dass bereits eine anders lautende Entscheidung des Bundessozialgerichts existent ist (vgl. insoweit BGH NJW 2003, 2319). Ein "Nachschieben von Gründen" nach Ablauf der Begründungsfrist ist nicht mehr möglich (vgl. dementsprechend BAG, Beschluss vom 26. April 1982 - 6 ABN 4/82; BAG, Beschluss vom 14. Februar 1961 - 1 AZR 445/60 = AP Nr. 18 zu § 72 ArbGG 1953 - Divergenzrevision). Dementsprechend gehen der Bundesfinanzhof (vgl. z.B. BFH, Beschluss vom 24. August 2004 - IV B 146/03; Beschluss vom 16. Dezember 1999 - IV B 32/99 - BFH/NV 2002, 1160) und das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Beschluss vom 9. April 1999 - 9 B 21/99; Beschluss vom 14. Februar 1997 - 1 B 3/97; Beschluss vom 6. Februar 1997 - 1 B 4/97; Beschluss vom 20. März 1985 - 3 B 83.84) in ständiger Rechtsprechung davon aus, die Abweichung eines Urteils von einem nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist veröffentlichten Urteil könne der Beschwerdeführer nur rügen, wenn die Nichtzulassungsbeschwerde innerhalb der Frist unter Berücksichtigung der formellen Anforderungen an die Darlegung der grundsätzlichen

Bedeutung begründet worden ist (BSG, Beschluss vom 26. Juni 2006, - B 1 KR 19/06 B -, zitiert nach juris). Daran fehlt es im vorliegenden Fall (vgl. dazu oben zu 1.)

3. Die Berufung gegen das sozialgerichtliche Urteil kann auch nicht gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG zugelassen werden, weil die Klägerin nicht geltend gemacht hat, dass es auf einem der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden Verfahrensfehler beruht, zumal ein solcher auch nicht erkennbar ist

4. Ob das Sozialgericht den Rechtsstreit hingegen richtig entschieden hat, was die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde ebenfalls in Abrede stellt, ist dagegen im vorliegenden Beschwerdeverfahren nicht zu prüfen. Die (von der Klägerin behauptete) sachliche Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung stellt nach § 144 Abs. 2 SGG keinen Grund dar, eine kraft Gesetzes ausgeschlossene Berufung zuzulassen. Vielmehr soll es gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG bei Verfahren mit geringem Streitwert - wie hier - grundsätzlich mit einer gerichtlichen sachlichen Überprüfung des Klagebegehrens sein Bewenden haben.

Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG). Nach § 145 Abs. 4 Satz 5 SGG wird das Urteil des Sozialgerichts mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Landessozialgericht rechtskräftig.
Rechtskraft
Aus
Saved