L 9 B 274/08 KR ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 86 KR 857/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 B 274/08 KR ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. Mai 2008 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat auch die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

I. Die Antragstellerin begehrt die Versorgung mit dem Arzneimittel Revlimid® (Wirkstoff: Lenalidomid) außerhalb seines zugelassenen Anwendungsbereichs zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung.

Die im Jahre 1935 geborene Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Sie leidet unter einer chronischen Knochenmarkserkrankung in Gestalt eines myelodysplastischen Syndroms (MDS) in Verbindung mit einer zytogenetischen Deletion (5q-minus-Syndrom). Die Erkrankung wurde im Mai 2005 erstmalig diagnostiziert. Sie ist fortgeschritten und entwickelt sich zu einer akuten myeloischen Leukämie (AML, Einstufung aktuell als refraktäre Anämie mit Exzess von Blasten in Transformation, RAEB-T), was im Januar 2008 festgestellt wurde.

Das bei der Antragstellerin bestehende MDS wurde bislang durch Transfusion von Erythrozytenkonzentraten behandelt. Als typische Nebenwirkung der laufenden Transfusionen trat eine zunehmende Eisenüberladung ein, der mit eisenausschwemmender Therapie begegnet wurde.

Im Januar 2008 erklärte der behandelnde Onkologe Dr. E gegenüber der Antragsgegnerin, es bestehe eine dringende Indikation zur medikamentösen Therapie mit Revlimid® (Wirkstoff: Lenalidomid), und bat um Kostenübernahme.

Revlimid® ist ein verschreibungspflichtiges Fertigarzneimittel, das in der Europäischen Union am 14. Juni 2007 von der European Medicines Agency (EMEA) für die Behandlung von Patienten mit multiplem Myelom (Krebs der Plasmazellen im Knochenmark) zugelassen wurde. Eine arzneimittelrechtliche Zulassung hatte der Hersteller zunächst auch für die Indikation myelodysplastisches Syndrom (MDS) beantragt, den Antrag aber im Mai 2008 zurückgezogen, weil der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) die Empfehlung abgegeben hatte, das Arzneimittel insoweit mangels ausreichender Patientenstudien und Dokumentation nicht zuzulassen. Für das bei der Antragstellerin vorliegende myelodysplastischen Syndroms (MDS) liegt damit derzeit keine arzneimittelrechtliche Zulassung vor.

Mit Bescheid vom 5. Februar 2008, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 11. April 2008, lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Kostenübernahme ab. Die strikten Kriterien für eine Zulassung des Off-Label-Use seien nicht erfüllt, nachdem die EMEA Bedenken gegenüber der Zulassung des Arzneimittels zur Behandlung des myelodysplastischen Syndroms (MDS) geäußert habe. Der notwendige Anämieausgleich könne durch die Transfusion von Erythrozytenkonzentrat erfolgen.

Am 18. April 2008 hat die Antragstellerin Klage erhoben (S 86 KR 857/08) und um Gewährung von Eilrechtsschutz nachgesucht. Mit Beschluss vom 16. Mai 2008 hat das Sozialgericht Berlin die Antragsgegnerin einstweilen verpflichtet, der Antragstellerin das Arzneimittel Revlimid® (Wirkstoff: Lenalidomid) nach ärztlicher Verordnung für sechs Monate zu gewähren. Gemessen an den höchstrichterlich formulierten Maßstäben zur Versorgung mit nicht für eine bestimmte Indikation zugelassenen Arzneimitteln bestehe ein Anspruch auf die Versorgung mit Revlimid®.

Hiergegen wendet sich die Antragsgegnerin mit der am 11. Juni 2008 erhobenen Beschwerde. Zwar leide die Antragstellerin unstreitig an einer akut lebensbedrohlichen Erkrankung. Doch mit der Transfusion von Erythrzytenkonzentraten stehe eine vertragliche Behandlungsmethode zur Verfügung. Auch sei nicht erwiesen, dass die Behandlung mit Revlimid® den Krankheitsverlauf des MDS relevant beeinflusse.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Antragsgegnerin Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Entscheidungsfindung war.

II.

Die Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig, hat aber keinen Erfolg. Die einstweilige Anordnung ist zu Recht ergangen. Die Antragstellerin hat einstweilen Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Revlimid® (Wirkstoff: Lenalidomid). Zu dieser Einschätzung gelangt der Senat – anders als das Sozialgericht – allerdings nicht durch eine abschließende Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen, die im Hauptsacheverfahren zu erfolgen hat (hierzu unten 1.), sondern mittels einer hier gebotenen Folgenabwägung (unten 2.).

(1.) Grundsätzlich bedarf ein Fertigarzneimittel zur Anwendung bei einem Versicherten der arzneimittelrechtlichen Zulassung für das Indikationsgebiet, in dem es bei ihm angewendet wird, um dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterfallen. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch [SGB V]) nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 27 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz [AMG]) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, vgl. nur Urteil vom 26. September 2006, B 1 KR 14/06 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 9). So liegt es im vorliegenden Fall. Eine arzneimittelrechtliche Zulassung in diesem Sinne besteht nur, wenn das Arzneimittel die Zulassung gerade für dasjenige Indikationsgebiet besitzt, in dem es im konkreten Fall eingesetzt werden soll (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AMG). Das Arzneimittel Revlimid® (Wirkstoff: Lenalidomid) ist zwar ein im Sinne der Krankenversicherung verkehrsfähiges Arzneimittel, jedoch beschränkt sich seine Zulassung gegenwärtig auf die Behandlung von Krebs der Plasmazellen im Knochenmark (multiples Myelom). Es hat weder in Deutschland noch innerhalb der Europäischen Union die erforderliche Arzneimittelzulassung für das Indikationsgebiet myelodysplastisches Syndrom (MDS) in Verbindung mit zytogenetischer Deletion (5q-minus-Syndrom), für das es bei der Antragstellerin eingesetzt werden soll. Ob die Antragstellerin das Medikament nach den Grundsätzen des so genannten Off-Label-Use beanspruchen kann, kann im Eilverfahren nicht abschließend beantwortet werden; im Hauptsacheverfahren werden insoweit verschiedene weiter führende Ermittlungen anzustellen sein. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (a.a.O., Rdnr. 10 ff.), der der Senat nach eigener Prüfung folgt, kann abgesehen von Fällen einer extrem seltenen Erkrankung (diese liegt hier offenbar nicht vor) die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet grundsätzlich in Betracht kommen, wenn es (1.) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2.) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3.) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Arzneimittel ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Dass die Antragstellerin unter einer lebensbedrohlichen Erkrankung leidet, dürfte feststehen. Das seit dem Jahr 2005 bei ihr bekannte myelodysplastische Syndrom (MDS) in Verbindung mit einer zytogenetischen Deletion befindet sich aktuell im Übergang zu einer akuten myeloischen Leukämie. Auch der von der Antragsgegnerin um Stellungnahme gebetene Medizinische Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg (MDK, Dr. B) hält diese Situation in seiner Stellungnahme vom 3. Juni 2008 für akut lebensbedrohlich. Weiterer Aufklärung bedarf dagegen schon die Frage, ob für das Krankheitsbild der Antragstellerin keine andere Therapie verfügbar ist. Die Antragsgegnerin führt, gestützt auf wiederholte Einschätzungen des MDK, insoweit an, möglich sei die weitere Transfusionsbehandlung in Kombination mit einer eisenausschwemmenden Therapie. Hinsichtlich des Therapiezieles – des Ausgleichs der Blutarmut – bestehe kein Unterschied zur Therapie mit Revlimid®. Zwar tritt der behandelnde Oberarzt PD Dr. T. H dem in seiner Stellungnahme vom 9. Juli 2008 substantiiert entgegen. Eine abschließende Entscheidung dieser Frage dürfte angesichts des sehr spezifischen medizinischen Zusammenhangs insoweit aber nur durch Beweiserhebung mittels eines Sachverständigengutachtens möglich sein. Ähnlich offen ist die Frage, ob mit dem betreffenden Arzneimittel bei der Antragstellerin ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Von hinreichenden Erfolgsaussichten kann insoweit allgemein nur ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (vgl. Bundessozialgericht, a.a.O., Rdnr. 12). Eine klinische Prüfung der Phase III liegt für Revlimid® im Hinblick auf die Indikation myelodysplastisches Syndrom (MDS) in Verbindung mit zytogenetischer Deletion (5q-minus-Syndrom) nicht vor. Auch kann gegenwärtig nicht sicher beurteilt werden, ob außerhalb des Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet hinreichende Aussagen zulassen und aufgrund derer Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen besteht. Im Gegenteil liegt die Annahme nahe, dass der Nutzen von Revlimid® für die fragliche Indikation noch nicht hinreichend erforscht ist. So hat der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der europäischen Zulassungsbehörde EMEA am 30. Mai 2008 die Empfehlung abgegeben, das Arzneimittel mangels ausreichender Patientenstudien und Dokumentation nicht für die fragliche Indikation zuzulassen, weshalb der Hersteller den Zulassungsantrag am selben Tage zurückzog, um weitere klinische Forschung zu betreiben und gegebenenfalls später einen erneuten Zulassungsantrag zu stellen. Insgesamt ist damit zweifelhaft, ob die Voraussetzungen des § 86b Abs. 2 SGG vorliegen, d.h. ob die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat. (2.) Jedoch war die einstweilige Anordnung auf Grund einer Folgenabwägung zu erlassen. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. der Rechtschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebietet es, eine Abwägung vorzunehmen, die die verfassungsrechtlich geschützten Belange der Antragstellerin im gebotenen Maße zur Geltung bringt. Dabei waren die Grundsätze anzuwenden, die das Bundesverfassungsgericht für die Fälle entwickelt hat, in denen eine bestehende Lebensgefahr für den Einzelnen durch eine gerichtliche Entscheidung beseitigt oder zumindest verringert werden kann. Aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgt die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen; behördliche und gerichtliche Verfahren müssen der grundlegenden objektiven Wertentscheidung zugunsten des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit gerecht werden (Beschluss des Bundesverfassungs-gerichts vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02, NJW 2003, S. 1236; nachfolgend Landessozialgericht Berlin, Beschluss des 9. Senats vom 28. Januar 2003, L 9 B 20/02 KR ER W02 l). Dabei sind in Gestalt einer Doppelhypothese die Folgen gegeneinander abzuwägen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht eine einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch doch bestanden hätte, und die auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die beantragte einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellte, dass der Anspruch nicht bestand. Sollte die erstgenannte Alternative erfüllt sein, d.h. sollte eine einstweilige Anordnung im Ergebnis zu Unrecht abgelehnt werden, so entstünden der Antragstellerin schwerwiegende, gegebenenfalls nicht rückgängig machbare Nachteile. Nach dem bisherigen Vorbringen der Antragstellerin und den von ihr vorgelegten medizinischen Unterlagen erscheint nämlich nachvollziehbar, dass sich ihr Gesundheitszustand unter der seit dem 2. Juni 2008 erfolgenden Behandlung mit Revlimid® stabilisiert hat (Verbesserung der Hämoglobin-, der Leukozyten- und der Thrombozytenwerte). Vor diesem Hintergrund erscheint es dem Senat unvertretbar, auf die Beschwerde der Antragsgegnerin hin die erstinstanzliche Entscheidung zu korrigieren, selbst wenn diese insoweit fehlerhaft war, als bei Beschlussfassung offenbar keine privatärztliche Verordnung für das begehrte Arzneimittel vorlag, was zur Verneinung des Anordnungsanspruchs hätte führen müssen. Allerdings liegt eine hinreichend spezifische privatärztliche Verordnung nun seit dem 10. Juli 2008 vor, so dass kein Anlass besteht, die erstinstanzliche Entscheidung auch nur teilweise zu korrigieren. Die Folgen, die bei einer zu Unrecht ergangenen einstweiligen Anordnung zum Nachteil der Antragsgegnerin einträten, wiegen demgegenüber weniger schwer. Zwar entstünde der Antragsgegnerin in diesem Falle ein erheblicher finanzieller Schaden. Sie könnte ihn nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 945 Zivilprozessordnung (ZPO) von der Antragstellerin ersetzt verlangen, wenn sich im anschließenden Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis nicht begründet war. Bei sachnaher Betrachtung muss allerdings angenommen werden, dass angesichts der (vermutlich) schwachen finanziellen Situation der Antragstellerin ein solcher Schadensersatzanspruch im Ergebnis nicht durchsetzbar wäre. Weiterhin muss jedoch beachtet werden, dass die Antragsgegnerin auch dann erhebliche Geldmittel aufzubringen hätte, wenn eine stationäre Behandlung der Antragstellerin auf ihre Kosten notwendig würde. Möglicherweise wären diese Kosten sogar nicht geringer als die derzeit durch die ambulante Behandlung mit dem Arzneimittel Revlimid® entstandenen Kosten. Letztlich führt damit die Abwägung eines bloßen finanziellen Schadens der Antragsgegnerin auf der einen Seite und des Schutzes von Leben und körperlicher Unversehrtheit der Antragstellerin auf der anderen Seite zu der aus dem Tenor ersichtlichen Entscheidung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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