L 34 B 1650/08 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
34
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 157 AS 17446/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 34 B 1650/08 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
keine Überschreitung des Richtwertes um bis zu zehn Prozent im Ausnahmefall, wenn die tatsächlichen Kosten durch den Aufschlag nicht gedeckt werden können
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. Juni 2008 wird zurückgewiesen. Die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin vom 1. August 2008 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. Juni 2008, mit dem der sinngemäße Antrag,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin Leistungen für Unterkunft und Heizung unter Anerkennung der tatsächlichen Aufwendungen zu gewähren,

zurückgewiesen worden ist, hat keinen Erfolg.

Die vierundsechzig Jahre alte Antragstellerin, die für ihre 76,24 Quadratmeter große Dreizimmerwohnung monatlich eine Bruttowarmmiete in Höhe von 849,02 EUR an den Vermieter entrichten muss, hat einen Anordnungsanspruch mit der für eine Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit nicht glaubhaft gemacht (§§ 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG], 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]).

Sie kann einen Anordnungsanspruch nicht aus den §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 19 Satz 1, 22 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) herleiten. Nach der zuletzt genannten Vorschrift werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf des alleinstehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft so lange zu berücksichtigen, wie es dem alleinstehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate.

Die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sind hier nicht als angemessen anzusehen. Nach Ziffer 4 Abs. 2 der Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung vom 7. Juni 2005 (AV-Wohnen, ABl. Berlin S. 3743, 3744, zuletzt geändert durch Verwaltungsvorschriften vom 30. Mai 2006, ABl. Berlin S. 2062) gilt ein Betrag von 360,- EUR als Richtwert für die angemessene Bruttowarmmiete eines Einpersonenhaushalts. Dieser Richtwert ist aus den folgenden Gründen jedenfalls nicht zu gering bemessen:

Zur Feststellung der Angemessenheit der Unterkunftskosten bedarf es zunächst der Feststellung der angemessenen Wohnungsgröße. Hier ist die für Wohnberechtigte im sozialen Wohnungsbau anerkannte Wohnraumgröße zu Grunde zu legen, insbesondere die Werte nach dem Gesetz über die soziale Wohnraumförderung (WoFG) in Verbindung mit den landesrechtlichen Bestimmungen (vgl. Bundessozialgericht, Urteile vom 7. November 2006, B 7b AS 10/06 R, SozR 4-4200 § 22 Nr. 2; B 7b AS 18/06 R, SozR 4-4200 § 22 Nr. 3). Danach ist in Berlin – in Ermangelung von Richtlinien zu § 10 WoFG – zum einen an die Bestimmungen zur Vergabe von Wohnberechtigungsscheinen zur Belegung von nach dem WoFG belegungsgebundenen Wohnungen anzuknüpfen, wie sie sich aus der Mitteilung Nr. 8/2004 vom 15. Dezember 2004 der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ergeben. In Berlin wird die maßgebliche Wohnungsgröße für den Wohnberechtigungsschein in der Regel nach Raumzahl bestimmt (Ziff. 8 Abs.1 der Mitteilung Nr. 8/04). Angemessen ist danach grundsätzlich ein Raum für jeden Haushaltsangehörigen, wobei Zweizimmerwohnungen mit einer Gesamtwohnfläche bis zu fünfzig Quadratmetern auch an Einzelpersonen überlassen werden dürfen. In Berlin sind wegen fehlender Bestimmungen über den Mietwohnungsbau die Richtlinien über Förderungssätze für eigengenutztes Wohneigentum der Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr vom 25. Mai 1999 (Eigentumsförderungssätze 1999, ABl. 1999, S. 2918 ff.) heranzuziehen. Gemäß Abschnitt II Ziffer 4 Abs. 3 der Eigentumsförderungssätze 1999 ist für eine Person eine Wohnfläche von maximal fünfzig Quadratmetern förderungsfähig. Nach dieser Maßgabe wäre hier eine Wohnungsgröße von bis zu fünfzig Quadratmetern für die Antragstellerin angemessen.

Für die weitere Feststellung des angemessenen Unterkunftsbedarfs sind die Kosten für eine Wohnung, "die nach Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen und grundlegenden Bedürfnissen genügt und keinen gehobenen Wohnstandard aufweist" (BSG, Urteil vom 7. November 2006, B 7b AS 18/06 R, SozR 4-4200 § 22 Nr. 3), zu ermitteln. Abzustellen ist dabei auf das Produkt aus angemessener Wohnfläche und Standard, welches sich in der Wohnungsmiete niederschlägt (Produkttheorie). Nach den dem Senat im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen eingeschränkten Ermittlungen sind hier die sich aus der Berliner Mietspiegeltabelle 2007 (Amtsblatt Nr. 30 vom 11. Juli 2007, S. 1797) ergebenden durchschnittlichen Mittelwerte für einfache Wohnlagen und Ausstattungen für Neu- und Altbauten zu Grunde zu legen. Für eine Wohnfläche von vierzig bis unter sechzig Quadratmetern ergibt sich daraus eine Nettokaltmiete von gerundet 4,54 EUR/m² (3,42 EUR/m² + 4,35 EUR/m² + 3,30 EUR/m² + 4,77 EUR/m² + 4,43 EUR/m² + 4,41 EUR/m² + 4,56 EUR/m² + 4,96 EUR/m² + 6,70 EUR/m² = insgesamt 40,90 EUR/m² ÷ 9 = durchschnittlich 4,54 EUR/m²), also eine monatliche Gesamtnettokaltmiete in Höhe von 227,- EUR (4,54 EUR/m² x 50 m²). Hierzu sind die durchschnittlichen kalten Betriebskosten, die regelmäßig mit dem Mietzins zu entrichten sind, zu ermitteln. Unter Zugrundelegung der vom Deutschen Mieterbund (DMB) mit dem "Betriebskostenspiegel 2007" veröffentlichten Angaben (www.mieterbund.de), ergeben sich bei Nichtberücksichtigung der für Heizung und Warmwasser angegebenen Kosten durchschnittliche Betriebskosten in Höhe von 1,79 EUR/m² (einschließlich Steuern und Abgaben). Daraus ergeben sich kalte Betriebskosten für eine Wohnung von fünfzig Quadratmetern in Höhe von 87,50 EUR monatlich. Anschließend sind die von dem Antragsgegner nach § 22 SGB II zu leistenden Heizkosten zu ermitteln. Nach dem Betriebskostenspiegel des DMB sind diese mit 0,85 EUR/m² anzusetzen, so dass sich für eine Wohnungsgröße von fünfzig Quadratmetern ein Betrag von 42,50 EUR monatlich ergibt. Zusammengerechnet ergibt dies bei einer Wohnungsgröße von fünfzig Quadratmetern eine angemessene monatliche Bruttowarmmiete in Höhe von insgesamt 357,00 EUR (227,00 EUR + 87,50 EUR + 42,50 EUR).

Die Anerkennung eines höheren Betrages als 360,- EUR ist ausgeschlossen. Zwar können die Richtwerte nach Ziffer 4 Abs. 5 AV-Wohnen bei bestehendem Wohnraum in besonders begründeten Einzelfällen – insbesondere bei über sechzig Jahre alten Hilfeempfängern und einer Wohndauer von mindestens fünfzehn Jahren – um bis zu zehn Prozent überschritten werden. In diesem Zusammenhang ist neben dem Alter der Antragstellerin zu berücksichtigen, dass sie ihre Wohnung ausweislich des vorliegenden Mietvertrages mit Wirkung ab dem 1. März 1982 angemietet hat. Die Überschreitung der Richtwerte kommt jedoch lediglich in solchen Fällen in Betracht, in denen die tatsächlichen Unterkunftskosten durch einen Aufschlag von höchstens zehn Prozent im Ergebnis gedeckt werden können. Denn die Anerkennung eines Unterkunftsbedarfs, der über den Richtwerten liegt, dient lediglich dem Zweck, dem Hilfesuchenden den bestehenden Wohnraum trotz der Überschreitung des angemessenen Betrages ausnahmsweise zu erhalten. Bei einer fortdauernden Unterdeckung des Bedarfes könnte dieser Zweck jedoch nicht erreicht werden, da der Verlust des Wohnraumes dennoch unausweichlich wäre. Im vorliegenden Fall würde ein Aufschlag von zehn Prozent lediglich zur Anerkennung eines Betrages von 396,- EUR führen, mit dem hier die tatsächlichen Unterkunftskosten noch immer nicht ansatzweise bestritten werden könnten.

Die Antragstellerin genießt auch keinen dauernden Bestandschutz nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II. Sie kann sich hierbei nicht auf Ziffer 4 Abs. 9 Buchst. a) und b) AV-Wohnen berufen, wonach Maßnahmen zur Kostensenkung bei Menschen mit schweren Krankheiten oder Behinderungen und bei über sechzig Jahre alten Hilfeempfängern nach längerer Wohndauer in der Regel nicht zuzumuten sind. Diesem Einwand steht bereits entgegen, dass es sich hier wegen der Überschreitung des maßgeblichen Richtwertes um mehr als den doppelten Betrag nicht um einen Regelfall handelt. Der Senat geht zwar unter Berücksichtigung der übersandten ärztlichen Unterlagen davon aus, dass bei der Antragstellerin diverse Erkrankungen vorlagen oder vorliegen, nämlich eine periphere Fazialisparese rechts und arterieller Hypertonus (Bericht des V-Klinikums vom 23. April 2008, vorläufiger Arztbrief der S-Klinik vom 26. Mai 2008) sowie unter anderem eine Skoliose, eine Osteochondrose, eine Spondylose, eine Aortensklerose, eine Bandscheibenprotrusion, eine hypertrophierende Spondylarthrose (Arztbriefe des Radiologen Dr. G vom 16. Juni 2006 und des Radiologen H vom 26. Oktober 2006), schließlich eine Hyperthyreose, Morbus Basedow und AV-Block Grad I (Arztbrief des Radiologen K vom 4. August 2003 und Kurzentlassungsbericht des Klinikums Uvom 12. August 2004). Ob sich aus den älteren Unterlagen auch gegenwärtige Beschwerden ableiten lassen, kann hier offen bleiben. Es bestehen jedenfalls insgesamt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin an solchen gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet, die einem Wohnungswechsel oder einer Untervermietung grundsätzlich im Wege stehen könnten. Sofern eine Untervermietung nicht in Betracht kommt und die Antragstellerin wegen gegenwärtiger Beschwerden einen Umzug nicht durch Eigenleistung oder mit Hilfe aus dem Bekannten- und Freundeskreis bewerkstelligen kann, wozu sie gemäß §§ 2 Abs. 1 Satz 1, 3 Abs. 3 Satz 1, 9 Abs. 1 SGB II vorrangig verpflichtet ist, hat sie gemäß § 22 Abs. 3 SGB II die Möglichkeit, die vorherige Zusicherung der Kostenübernahme für die Beauftragung eines Umzugsunternehmens zu beantragen.

Die Antragstellerin kann auch nicht geltend machen, dass Maßnahmen zur Senkung der Wohnungskosten nach Ziffer 4 Abs. 9 Buchst. c) AV-Wohnen bei kurzfristigen Hilfen in der Regel nicht verlangt werden können. Soweit in diesem Zusammenhang vorgebracht wird, die Antragstellerin werde ohnehin bereits ab dem 1. Juli 2009 eine Altersrente beziehen, so ist ihr entgegenzuhalten, dass die monatliche Altersrente der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg ausweislich der vorliegenden Rentenauskunft vom 6. Oktober 2006 lediglich eine Höhe von 717,51 EUR und die der Pensionskasse für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Z D F ausweislich ihres Schreibens vom 12. September 2008 nur eine Höhe von 52,21 EUR haben werden. Da der Gesamtrentenbetrag in Höhe von 769,72 EUR nicht den Bedarf decken kann, wird die Antragstellerin nach dem Eintritt in den Ruhestand ergänzende Leistungen der Grundsicherung im Alter nach den §§ 41 bis 46 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) beantragen müssen, so dass nicht davon die Rede sein kann, das sie nur noch kurzfristig auf staatliche Fürsorgeleistungen angewiesen sein werde.

Gegen die Kostensenkung kann vor diesem Hintergrund auch nicht eingewandt werden, dass die Behördenentscheidung für die öffentliche Hand unwirtschaftlich und damit unverhältnismäßig sei. Denn hier ist jedenfalls von einer auf unabsehbare Zeit fortdauernden Abhängigkeit von öffentlichen Zuwendungen auszugehen, so dass ein Wohnungswechsel auch bei Berücksichtigung der Kosten, die durch die möglicherweise erforderliche Einschaltung eines Umzugsunternehmens entstehen, auf längere Sicht zu einer deutlichen Entlastung der öffentlichen Leistungsträger führen wird.

Schließlich ist auch der in der Regel sechs Monate dauernde befristete Bestandsschutz im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II abgelaufen. Die Antragstellerin wurde bereits mit Schreiben vom 1. November 2006 eingehend belehrt und zuletzt mit Schreiben vom 4. Oktober 2007 darüber in Kenntnis gesetzt, dass die vollen Unterkunftskosten nur noch bis zum 30. April 2008 übernommen werden könnten. Bis zu der tatsächlichen Absenkung der Unterkunftskosten ab dem 1. Mai 2007, die durch den Bescheid vom 9. April 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. Mai 2008 erfolgte, sind sechs Monate vergangen. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, der Antragstellerin eine noch längere Übergangsfrist einzuräumen. Hierbei sind zwar einerseits zu ihren Gunsten die bestehenden Erkrankungen zu berücksichtigen, insbesondere dass sie am 23. April 2008 sowie vom 26. Mai 2008 bis zum 30. Mai 2008 stationär im Krankenhaus behandelt werden musste und sich deshalb in dieser Zeit nicht um eine Kostensenkung kümmern konnte. Dabei spricht allerdings nichts dafür, dass sie in der übrigen Zeit krankheitsbedingt an Maßnahmen zur Kostensenkung gehindert war. Gegen eine Verlängerung der Regelfrist ist die deutliche Überschreitung der angemessenen Aufwendungen einzuwenden. Der Antragstellerin hätte es sich zudem nicht erst seit dem Belehrungsschreiben vom 1. November 2006, sondern schon seit geraumer Zeit aufdrängen müssen, dass ihre Wohnung zu groß und zu teuer ist. Im Ergebnis ist deshalb jedenfalls die tatsächlich eingeräumte Übergangsfrist als sachgerecht anzusehen.

Aus den vorstehenden Gründen ist auch die zulässige Beschwerde vom 1. August 2008 gegen die mit Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. Juni 2008 erfolgte Versagung der beantragten Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts gemäß §§ 73a Abs. 1 SGG, 114 Satz 1 ZPO wegen fehlender hinreichender Erfolgsaussicht zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO. Dieser Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.
Rechtskraft
Aus
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