Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 73 KR 105/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 198/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Von fachwissenschaftlichen Konsens im Sinne der Off-label-use-Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann bereits dann nicht die Rede sein, wenn der Nutzen des Arzneimittels für die betreffende (neue) Indikation jedenfalls auch beachtlichen Einwendungen unterliegt; letzteres ist derzeit für die Behandlung der adulten ADHS noch der Fall.
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 6. Juli 2004 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Arzneimittel, welches den Wirkstoff Methylphenidat enthält, sowie mit Amphetaminkapseln. Methylphenidat-haltige Arzneimittel wie z. B. Ritalin, Medikinet, Equasym oder AN1 sind in Deutschland bzw. innerhalb der Europäischen Union (EU) als Ganzer nur zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) im Kindes- und Jugendalter zugelassen, nicht aber bei Erwachsenen.
Die 1960 geborene, ihren 1990 geborenen Sohn allein erziehende Klägerin bezog zumindest bis zum 30. September 2006 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aufgrund eines untervollschichtigen Leistungsvermögens für den allgemeinen Arbeitsmarkt. Im Jahre 1999 stellte ihr behandelnder Arzt, der Zeuge Dr. phil. T (Facharzt für Psychiatrie), bei ihr eine ADHS sowie eine rezidivierende depressive Störung mit emotionaler Instabilität fest. Im Einzelnen stellte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen fest: Die Klägerin konnte sich nur für die Dauer von ca. 15 min konzentrieren, unterlag einem ständigen Bewegungsdrang und war sehr unruhig; sie neigte zu impulsiven Wutausbrüchen und zu starken Stimmungsschwankungen sowie einer niedrigen Stresstoleranz. Ferner litt sie an einer Störung des Schlaf- und Wachrhythmus sowie sozialen Defiziten, z. B. der Unfähigkeit, eigene und auch fremde Gefühle wahrzunehmen und einzuordnen. Der Zeuge behandelte die Klägerin in der Folgezeit mit Psychotherapie (verbunden mit strukturierendem Coaching) sowie methylphenidat-haltigen Arzneimitteln – zunächst Methylpheni TAD, zuletzt das Retardpräparat Concerta – und zusätzlich stimmungsstabilisierenden Medikamenten. Im Januar 2003 stellte der Zeuge die Klägerin mit ihrem Einverständnis auf das in den USA zur Behandlung der adulten ADHS zugelassene Arzneimittel Strattera (Wirkstoff: Atomoxetin, 40 mg pro die) um, was nach seinen Angaben zunächst dazu führte, dass die Klägerin – im Unterschied zu den zuvor verordneten Stimulanzien – ruhiger und weniger impulsiv und darüber hinaus auch keine Nebenwirkungen auftraten. Nach einigen Wochen entstehende Antriebsprobleme führten jedoch zu einer ca. 10 Tage dauernden heftigen Depression, sodass die Klägerin Strattera im April 2003 wieder absetzte.
Mit Schreiben vom 12. Dezember 2002 beantragte die Klägerin unter Beifügung einer Stellungnahme des Zeugen T die Versorgung mit methylphenidat-haltigen Medikamenten bzw. Amphetaminsulfat, da dieser sich aufgrund zunehmender Regressansprüche seitens der Kran¬kenkassen außerstande sehe, diese Medikamente weiterhin auf sein Risiko auf Kassenrezept zu verschreiben. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17. Dezember 2002 ab, da die von der Klägerin beantragten Stimulanzien für das Anwendungsgebiet bei Erwachsenen durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bisher nicht zugelassen worden seien und die Voraussetzung für eine Anwendung außerhalb der zugelassenen Indikationen nicht vorlägen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 2003 zurück, da die vom Bundessozialgericht (BSG) für den zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln (Off-Label-Use) aufgestellten Ausnahmekriterien im Falle der Klägerin nicht vorlägen. Ihr Krankheitsbild stelle keine lebensbedrohliche Krankheit wie Krebs oder Aids dar und sei auch nicht mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Schmerzen, die innerhalb kurzer Zeit zu einer drohenden Behinderung oder Pflegebedürftigkeit führten, verbunden.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Auffassung vertreten, sämtliche vom BSG im Rahmen des Off-Label-Use geforderten Voraussetzungen lägen vor: ihre Lebensqualität sei ohne die in den letzten Jahren erfolgte konstante Therapie schwerwiegend eingeschränkt, es gebe keine medikamentöse Alternative und es bestehe in einschlägigen Fachkreisen ein Konsens über den Nutzen und die Wirksamkeit von methylphenidat-haltigen Arzneimitteln bei der Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter. Die Klägerin hat sich hierfür – neben einem von dem Zeugen für die (damalige) Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) erstellten Befundbericht vom 10. März 2003 und einem für die BfA erstellten Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. L vom 14. Juli 2003 – auf diverse Veröffentlichungen aus der Fachliteratur sowie die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) berufen.
Mit von der Beklagten nicht angegriffenem Beschluss vom 7. März 2003 verurteilte das Sozialgericht Berlin die Beklagte, die Klägerin "bis auf weiteres mit einem Medikament zu versorgen, welches den Wirkstoff Methylphenidat, Fenetyllin, Amfetaminsulfat oder Amfetaminil enthält." Seither erhält die Klägerin auf der Grundlage vertragsärztlicher Verordnungen des Zeugen ein methylphenidat-haltiges Arzneimittel. Die Beklagte beabsichtigt nach eigenen Angaben nicht, die Klägerin für die aufgrund der einstweiligen Anordnung erbrachten Arzneimittel in Anspruch zu nehmen.
Die Beklagte hat nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen – MDK – (Herr R) an ihrer Auffassung festgehalten.
Nachdem das Sozialgericht die Befundberichte des Zeugen vom 7. Juli 2003 und die Stellungnahme des BfArM vom 3. September 2003 veranlasst hatte, wies es mit Gerichtsbescheid vom 6. Juli 2004 die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, dass die vom BSG für den Off-Label-Use genannten Voraussetzungen nicht festgestellt werden konnten. Da die Klägerin die Erteilung einer umfassenden Schweigepflichtentbindungserklärung verweigert habe, habe das Gericht die bisherigen Befunde und Diagnosen der behandelnden Ärzte nicht nachvollziehen können.
Gegen diese der Klägerin am 25. August 2004 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 20. September 2004 eingelegte Berufung der Klägerin, mit der sie ihr erstinstanzliches Vorbringen wiederholt und vertieft. Sie ist insbesondere der Auffassung, dass Forschungsergebnisse aus pub¬¬lizierten, formal hochwertigen klinischen Studien vorlägen, die erwarten ließen, dass das Arzneimittel für die beantragte Medikation in Deutschland zugelassen werden könne. Methylphenidat-haltige Arzneimittel zur Behandlung der ADHS bei Erwachsenen seien in Norwegen und Argentinien und seit Mitte 2005 auch in den USA zugelassen. Dort sei darüber hinaus ein Gemisch aus Amphetamin-Salzen für dieses Indikationsgebiet zugelassen, während das Arzneimittel Ritalin (IR) in Norwegen für die Behandlung von ADHS bei Kindern und Erwachsenen zugelassen sei. Darüber hinaus beruft sie sich auf eine Stellungnahme der Janssen-Cilag GmbH vom 27. Februar 2007, demzufolge für die Erwachsenenindikation der ADHS eine Phase-III-Studie durchgeführt worden sei, die im Mai 2007 erstmals auf einem US-ameri–kanischen Kongress vorgestellt werden sollte und die als Grundlage für ein Zulassungsverfahren bei der Europäischen Arzneimittelagentur (European Medicines Agency – EMEA) verwendet werden solle.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Berlin vom 06. Juli 2004 sowie des Bescheides der Beklagten vom 17. Dezember 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 2003 die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die Beschaffung der Medikamente Concerta Retard 54 mg, Methylphenidat 20 mg (Medikinet oder Methylpheni TAD) sowie Amphetaminkapseln 3/6 mg zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat die Stellungnahmen der Janssen-Cilag GmbH vom 27. Februar 2007 und des BfArM vom 14. September 2007 bzw. vom 31. März 2008 veranlasst und im Erörterungstermin vom 15. Dezember 2006 durch den damaligen Berichterstatter den Zeugen zum Beweisthema "Behandlung und Medikation der Klägerin" vernommen; wegen der Aussage des Zeugen wird auf die Niederschrift zu diesem Termin verwiesen.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme, wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Denn die angegriffenen Bescheide erweisen sich als rechtmäßig.
Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin kann von der Beklagten nicht verlangen, mit einem der im Berufungsantrag genannten Arzneimittel versorgt zu werden.
Gemäß §§ 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind, und auf Versorgung mit Verbandmitteln, Harn- und Blutteststreifen. Diese Voraussetzungen liegen im Falle der Klägerin nicht vor.
1. Um vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung erfasst zu sein, bedarf ein Fertigarzneimittel zur Anwendung bei einem Versicherten grundsätzlich der arzneimittelrechtlichen Zulassung für das Indikationsgebiet, in dem es eingesetzt wird. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 27 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz [AMG]) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (ständige Rechtsprechung, vgl. hierzu und zum Folgenden Urteil des Senats vom 4. Juli 2007, L 9 KR 52/05, m.w.N. zur Rspr. des BSG, zitiert nach juris). Die Arzneimittel Concerta, Medikinet und Methylpheni TAD sind zwar im Sinne der Krankenversicherung verordnungsfähige Arzneimittel, jedoch beschränkt sich ihre Zulassung auf die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen mit der Diagnose ADHS. Es hat weder in Deutschland noch innerhalb der Europäischen Union insgesamt die erforderliche Arzneimittelzulassung für das Indikationsgebiet ADS/ADHS im Erwachsenenalter, für das es von der Klägerin eingesetzt wird. Ausnahmsweise ist unter engen Voraussetzungen die Verordnung eines Arzneimittels zwar auch außerhalb des nach den Bestimmungen des AMG vorgegebenen Zulassungsbereichs möglich, jedoch bestimmt § 29 Abs. 3 Nr. 3 AMG, dass die Erweiterung des Anwendungsbereiches eines Arzneimittels einer erneuten Zulassung bedarf, an der es bei den von der Klägerin begehrten Arzneimitteln derzeit mangelt.
Die Klägerin kann die begehrten Arzneimittel auch nicht nach den Grundsätzen des so genannten Off-Label-Use beanspruchen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der der Senat nach eigener Prüfung folgt, kann - abgesehen von Fällen einer extrem seltenen Erkrankung (diese liegt hier nicht vor) - die Verordnung eines Arzneimittels in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet grundsätzlich in Betracht kommen, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht (erste Voraussetzung), wenn keine andere Therapie verfügbar ist (zweite Voraussetzung) und wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Arzneimittel ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (dritte Voraussetzung).
Der Senat kann offen lassen, ob die Klägerin an einer schwerwiegenden Erkrankung in diesem Sinne leidet. Offen bleiben kann auch, ob eine andere Therapie verfügbar ist. Denn jedenfalls fehlt es an der genannten dritten Voraussetzung für einen Off-Label-Use zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Von einer "begründeten Erfolgsaussicht" kann dann ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard und Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsbereich zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Von fachwissenschaftlichem Konsens in diesem Sinne kann bereits dann nicht die Rede sein, wenn der Nutzen des Arzneimittels für die betreffende (neue) Indikation jedenfalls auch beachtlichen Einwendungen unterliegt. Der Senat hat nicht ermittelt, ob die pharmazeutischen Hersteller von Concerta, Medikinet und Methylpheni TAD einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung für die Indikation "ADHS im Erwachsenenalter" gestellt haben; auch die Klägerin hat dies nicht behauptet. Denn fest steht jedenfalls, dass zum jetzigen Zeitpunkt keine Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard und Placebo) veröffentlicht worden sind, die eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive bzw. klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen.
Im Übrigen sind auch keine außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnenen Erkenntnisse veröffentlicht, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsbereich zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen. Insbesondere kann nach bisheriger Datenlage nicht davon ausgegangen werden, dass derzeit in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (ebenso jüngst LSG Hamburg, Beschluss vom 14. August 2008, L 1 B 258/08 ER KR; SG Düsseldorf, Urteil vom 5. März 2008, S 2 KA 84/07; zitiert jeweils nach juris). So hat etwa die Autorin Miriam Alexandra Maier in einer aktuellen, vom Senat ins Verfahren eingeführten Dissertation zum Thema "Die Behandlung der adulten ADHS mit Methylphenidat versus Atomoxetin: systematische Review" (2007) die Effektivität beider genannten Medikamente zur Behandlung der adulten ADHS untersucht (http://tobias-lib.ub.uni-tuebingen.de/volltexte/2007/3053/pdf/Doktorarbeit ENDVERSION 27032007). Sie hat hierbei zahlreiche Studien zu Methylphenidat ausgewertet und festgestellt, dass die Studien "Mängel wie kurze Dauer, kleine Stichproben, fehlende Intention-To-Treat Analyse, uneinheitliche Ausschlusskriterien und ebensolche Messung der Response" aufwiesen. Die Ergebnisse der Studien seien "weit gestreut und teilweise konträr". Das größte Problem bei der Auswertung habe die uneinheitliche Messung der Response auf die Medikation dargestellt. Die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse der Methylphenidatstudien habe auch andere Reviewer vor Probleme gestellt. Es hätten sich zwar Hinweise auf die Effektivität der Behandlung der adulten ADHS finden lassen, wobei die Effektivität von Atomoxetin besser untersucht sei, wenn man die methodischen Mängel der Studien zu Methylphenidat in Rechnung stelle. Es müsse unter Berücksichtigung der Vorteile des Atomoxetins eine Ablösung des Methylphenidats als Standardmedikation für die adulte ADHS in Erwägung gezogen werden (vgl. die Zusammenfassung auf S. 55-58 der Arbeit). Die genannte Arbeit ist im vorliegenden Zusammenhang von besonderer Bedeutung, weil sie in der Auseinandersetzung um die Indikation von Methylphenidat zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter keine Partei ergreift, sondern sich als "Studie über Studien" begreift und analysiert, dass die Studienlage uneinheitlich bis widersprüchlich sei. Gerade deshalb ist die Studie der Autorin Maier, die keine erkennbaren methodischen Mängel enthält, für den Senat von besonderem Gewicht und gerade deshalb sieht der Senat es als erwiesen an, dass ein fachwissenschaftlicher Konsens über den Nutzen von Methylphenidat für die Behandlung der adulten ADHS jedenfalls derzeit nicht besteht; es gibt beachtliche Stimmen, die für einen solchen Nutzen sprechen, doch eben auch nennenswerte Gegenstimmen.
Auch sonst ist keine gesicherte Datenlage ersichtlich, die den Rückschluss auf einen Behandlungserfolg mit methylphenidathaltigen Medikamenten zur Behandlung der adulten ADHS zuließen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat am 20. Dezember 2005 beschlossen, insoweit gemäß § 35 b Abs. 3 SGB V eine Expertengruppe (Off-Label im Fachbereich Neurologie/Psychiatrie) einzusetzen und diese mit der Erstellung von Bewertungen zur Anwendung von Arzneimitteln außerhalb des zugelassenen Indikationsbereichs, u.a. für Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter, beauftragt. Wie sich aus dem von der Klägerin eingereichten, an sie gerichteten Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheit vom 7. März 2007 ergibt, stellte diese beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte gebildete Expertengruppe die Bearbeitung des Auftrags zurück, "um eine parallele Bearbeitung dieser Fragestellung durch Unternehmen und die Expertengruppe zu vermeiden." Die Zurückstellung basiert somit auf sachgerechten, nicht zu beanstandenden Erwägungen.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Verfassungsrechts. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass die Regelungen des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung zur Arzneimittelversorgung insbesondere dann einer verfassungskonformen Auslegung bedürfen, wenn Versicherte an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung leiden, bei der die Anwendung der üblichen Standardbehandlung aus medizinischen Gründen ausscheidet und andere Behandlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen (Beschluss vom 6. Dezember 2005, 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, S. 25 = NJW 2006, S. 891). Diese auf den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beruhenden Grundsätze sind auf den vorliegenden Fall jedoch nicht übertragbar, da die Erkrankung der Klägerin trotz ihrer spürbaren Ausprägung nicht mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden kann oder etwa mit einer akut drohenden Erblindung eines Auges zu vergleichen wäre (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Oktober 2004, B 1 KR 27/02 R, zitiert nach juris).
2. Das gleiche gilt im Wesentlichen auch für die von der Klägerin begehrten Amphetaminkapseln. Derzeit ist kein amphetamin-haltiges Arzneimittel für die Behandlung der adulten ADHS zugelassen. Dass einen Off-Label-Use rechtfertigende Studien für diese Indikation vorliegen, ist weder von der Klägerin vorgebracht worden noch sonst ersichtlich.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreites.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit einem Arzneimittel, welches den Wirkstoff Methylphenidat enthält, sowie mit Amphetaminkapseln. Methylphenidat-haltige Arzneimittel wie z. B. Ritalin, Medikinet, Equasym oder AN1 sind in Deutschland bzw. innerhalb der Europäischen Union (EU) als Ganzer nur zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) im Kindes- und Jugendalter zugelassen, nicht aber bei Erwachsenen.
Die 1960 geborene, ihren 1990 geborenen Sohn allein erziehende Klägerin bezog zumindest bis zum 30. September 2006 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aufgrund eines untervollschichtigen Leistungsvermögens für den allgemeinen Arbeitsmarkt. Im Jahre 1999 stellte ihr behandelnder Arzt, der Zeuge Dr. phil. T (Facharzt für Psychiatrie), bei ihr eine ADHS sowie eine rezidivierende depressive Störung mit emotionaler Instabilität fest. Im Einzelnen stellte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen fest: Die Klägerin konnte sich nur für die Dauer von ca. 15 min konzentrieren, unterlag einem ständigen Bewegungsdrang und war sehr unruhig; sie neigte zu impulsiven Wutausbrüchen und zu starken Stimmungsschwankungen sowie einer niedrigen Stresstoleranz. Ferner litt sie an einer Störung des Schlaf- und Wachrhythmus sowie sozialen Defiziten, z. B. der Unfähigkeit, eigene und auch fremde Gefühle wahrzunehmen und einzuordnen. Der Zeuge behandelte die Klägerin in der Folgezeit mit Psychotherapie (verbunden mit strukturierendem Coaching) sowie methylphenidat-haltigen Arzneimitteln – zunächst Methylpheni TAD, zuletzt das Retardpräparat Concerta – und zusätzlich stimmungsstabilisierenden Medikamenten. Im Januar 2003 stellte der Zeuge die Klägerin mit ihrem Einverständnis auf das in den USA zur Behandlung der adulten ADHS zugelassene Arzneimittel Strattera (Wirkstoff: Atomoxetin, 40 mg pro die) um, was nach seinen Angaben zunächst dazu führte, dass die Klägerin – im Unterschied zu den zuvor verordneten Stimulanzien – ruhiger und weniger impulsiv und darüber hinaus auch keine Nebenwirkungen auftraten. Nach einigen Wochen entstehende Antriebsprobleme führten jedoch zu einer ca. 10 Tage dauernden heftigen Depression, sodass die Klägerin Strattera im April 2003 wieder absetzte.
Mit Schreiben vom 12. Dezember 2002 beantragte die Klägerin unter Beifügung einer Stellungnahme des Zeugen T die Versorgung mit methylphenidat-haltigen Medikamenten bzw. Amphetaminsulfat, da dieser sich aufgrund zunehmender Regressansprüche seitens der Kran¬kenkassen außerstande sehe, diese Medikamente weiterhin auf sein Risiko auf Kassenrezept zu verschreiben. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17. Dezember 2002 ab, da die von der Klägerin beantragten Stimulanzien für das Anwendungsgebiet bei Erwachsenen durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bisher nicht zugelassen worden seien und die Voraussetzung für eine Anwendung außerhalb der zugelassenen Indikationen nicht vorlägen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 2003 zurück, da die vom Bundessozialgericht (BSG) für den zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln (Off-Label-Use) aufgestellten Ausnahmekriterien im Falle der Klägerin nicht vorlägen. Ihr Krankheitsbild stelle keine lebensbedrohliche Krankheit wie Krebs oder Aids dar und sei auch nicht mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Schmerzen, die innerhalb kurzer Zeit zu einer drohenden Behinderung oder Pflegebedürftigkeit führten, verbunden.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Auffassung vertreten, sämtliche vom BSG im Rahmen des Off-Label-Use geforderten Voraussetzungen lägen vor: ihre Lebensqualität sei ohne die in den letzten Jahren erfolgte konstante Therapie schwerwiegend eingeschränkt, es gebe keine medikamentöse Alternative und es bestehe in einschlägigen Fachkreisen ein Konsens über den Nutzen und die Wirksamkeit von methylphenidat-haltigen Arzneimitteln bei der Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter. Die Klägerin hat sich hierfür – neben einem von dem Zeugen für die (damalige) Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) erstellten Befundbericht vom 10. März 2003 und einem für die BfA erstellten Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. L vom 14. Juli 2003 – auf diverse Veröffentlichungen aus der Fachliteratur sowie die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) berufen.
Mit von der Beklagten nicht angegriffenem Beschluss vom 7. März 2003 verurteilte das Sozialgericht Berlin die Beklagte, die Klägerin "bis auf weiteres mit einem Medikament zu versorgen, welches den Wirkstoff Methylphenidat, Fenetyllin, Amfetaminsulfat oder Amfetaminil enthält." Seither erhält die Klägerin auf der Grundlage vertragsärztlicher Verordnungen des Zeugen ein methylphenidat-haltiges Arzneimittel. Die Beklagte beabsichtigt nach eigenen Angaben nicht, die Klägerin für die aufgrund der einstweiligen Anordnung erbrachten Arzneimittel in Anspruch zu nehmen.
Die Beklagte hat nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen – MDK – (Herr R) an ihrer Auffassung festgehalten.
Nachdem das Sozialgericht die Befundberichte des Zeugen vom 7. Juli 2003 und die Stellungnahme des BfArM vom 3. September 2003 veranlasst hatte, wies es mit Gerichtsbescheid vom 6. Juli 2004 die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, dass die vom BSG für den Off-Label-Use genannten Voraussetzungen nicht festgestellt werden konnten. Da die Klägerin die Erteilung einer umfassenden Schweigepflichtentbindungserklärung verweigert habe, habe das Gericht die bisherigen Befunde und Diagnosen der behandelnden Ärzte nicht nachvollziehen können.
Gegen diese der Klägerin am 25. August 2004 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 20. September 2004 eingelegte Berufung der Klägerin, mit der sie ihr erstinstanzliches Vorbringen wiederholt und vertieft. Sie ist insbesondere der Auffassung, dass Forschungsergebnisse aus pub¬¬lizierten, formal hochwertigen klinischen Studien vorlägen, die erwarten ließen, dass das Arzneimittel für die beantragte Medikation in Deutschland zugelassen werden könne. Methylphenidat-haltige Arzneimittel zur Behandlung der ADHS bei Erwachsenen seien in Norwegen und Argentinien und seit Mitte 2005 auch in den USA zugelassen. Dort sei darüber hinaus ein Gemisch aus Amphetamin-Salzen für dieses Indikationsgebiet zugelassen, während das Arzneimittel Ritalin (IR) in Norwegen für die Behandlung von ADHS bei Kindern und Erwachsenen zugelassen sei. Darüber hinaus beruft sie sich auf eine Stellungnahme der Janssen-Cilag GmbH vom 27. Februar 2007, demzufolge für die Erwachsenenindikation der ADHS eine Phase-III-Studie durchgeführt worden sei, die im Mai 2007 erstmals auf einem US-ameri–kanischen Kongress vorgestellt werden sollte und die als Grundlage für ein Zulassungsverfahren bei der Europäischen Arzneimittelagentur (European Medicines Agency – EMEA) verwendet werden solle.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Berlin vom 06. Juli 2004 sowie des Bescheides der Beklagten vom 17. Dezember 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 2003 die Beklagte zu verurteilen, die Kosten für die Beschaffung der Medikamente Concerta Retard 54 mg, Methylphenidat 20 mg (Medikinet oder Methylpheni TAD) sowie Amphetaminkapseln 3/6 mg zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat die Stellungnahmen der Janssen-Cilag GmbH vom 27. Februar 2007 und des BfArM vom 14. September 2007 bzw. vom 31. März 2008 veranlasst und im Erörterungstermin vom 15. Dezember 2006 durch den damaligen Berichterstatter den Zeugen zum Beweisthema "Behandlung und Medikation der Klägerin" vernommen; wegen der Aussage des Zeugen wird auf die Niederschrift zu diesem Termin verwiesen.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme, wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Denn die angegriffenen Bescheide erweisen sich als rechtmäßig.
Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin kann von der Beklagten nicht verlangen, mit einem der im Berufungsantrag genannten Arzneimittel versorgt zu werden.
Gemäß §§ 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V oder durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V ausgeschlossen sind, und auf Versorgung mit Verbandmitteln, Harn- und Blutteststreifen. Diese Voraussetzungen liegen im Falle der Klägerin nicht vor.
1. Um vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung erfasst zu sein, bedarf ein Fertigarzneimittel zur Anwendung bei einem Versicherten grundsätzlich der arzneimittelrechtlichen Zulassung für das Indikationsgebiet, in dem es eingesetzt wird. Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs. 1 Satz 1, § 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 27 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz [AMG]) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (ständige Rechtsprechung, vgl. hierzu und zum Folgenden Urteil des Senats vom 4. Juli 2007, L 9 KR 52/05, m.w.N. zur Rspr. des BSG, zitiert nach juris). Die Arzneimittel Concerta, Medikinet und Methylpheni TAD sind zwar im Sinne der Krankenversicherung verordnungsfähige Arzneimittel, jedoch beschränkt sich ihre Zulassung auf die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen mit der Diagnose ADHS. Es hat weder in Deutschland noch innerhalb der Europäischen Union insgesamt die erforderliche Arzneimittelzulassung für das Indikationsgebiet ADS/ADHS im Erwachsenenalter, für das es von der Klägerin eingesetzt wird. Ausnahmsweise ist unter engen Voraussetzungen die Verordnung eines Arzneimittels zwar auch außerhalb des nach den Bestimmungen des AMG vorgegebenen Zulassungsbereichs möglich, jedoch bestimmt § 29 Abs. 3 Nr. 3 AMG, dass die Erweiterung des Anwendungsbereiches eines Arzneimittels einer erneuten Zulassung bedarf, an der es bei den von der Klägerin begehrten Arzneimitteln derzeit mangelt.
Die Klägerin kann die begehrten Arzneimittel auch nicht nach den Grundsätzen des so genannten Off-Label-Use beanspruchen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der der Senat nach eigener Prüfung folgt, kann - abgesehen von Fällen einer extrem seltenen Erkrankung (diese liegt hier nicht vor) - die Verordnung eines Arzneimittels in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet grundsätzlich in Betracht kommen, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht (erste Voraussetzung), wenn keine andere Therapie verfügbar ist (zweite Voraussetzung) und wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Arzneimittel ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (dritte Voraussetzung).
Der Senat kann offen lassen, ob die Klägerin an einer schwerwiegenden Erkrankung in diesem Sinne leidet. Offen bleiben kann auch, ob eine andere Therapie verfügbar ist. Denn jedenfalls fehlt es an der genannten dritten Voraussetzung für einen Off-Label-Use zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Von einer "begründeten Erfolgsaussicht" kann dann ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard und Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsbereich zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Von fachwissenschaftlichem Konsens in diesem Sinne kann bereits dann nicht die Rede sein, wenn der Nutzen des Arzneimittels für die betreffende (neue) Indikation jedenfalls auch beachtlichen Einwendungen unterliegt. Der Senat hat nicht ermittelt, ob die pharmazeutischen Hersteller von Concerta, Medikinet und Methylpheni TAD einen Antrag auf Erweiterung der Zulassung für die Indikation "ADHS im Erwachsenenalter" gestellt haben; auch die Klägerin hat dies nicht behauptet. Denn fest steht jedenfalls, dass zum jetzigen Zeitpunkt keine Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard und Placebo) veröffentlicht worden sind, die eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive bzw. klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen.
Im Übrigen sind auch keine außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnenen Erkenntnisse veröffentlicht, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsbereich zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen. Insbesondere kann nach bisheriger Datenlage nicht davon ausgegangen werden, dass derzeit in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (ebenso jüngst LSG Hamburg, Beschluss vom 14. August 2008, L 1 B 258/08 ER KR; SG Düsseldorf, Urteil vom 5. März 2008, S 2 KA 84/07; zitiert jeweils nach juris). So hat etwa die Autorin Miriam Alexandra Maier in einer aktuellen, vom Senat ins Verfahren eingeführten Dissertation zum Thema "Die Behandlung der adulten ADHS mit Methylphenidat versus Atomoxetin: systematische Review" (2007) die Effektivität beider genannten Medikamente zur Behandlung der adulten ADHS untersucht (http://tobias-lib.ub.uni-tuebingen.de/volltexte/2007/3053/pdf/Doktorarbeit ENDVERSION 27032007). Sie hat hierbei zahlreiche Studien zu Methylphenidat ausgewertet und festgestellt, dass die Studien "Mängel wie kurze Dauer, kleine Stichproben, fehlende Intention-To-Treat Analyse, uneinheitliche Ausschlusskriterien und ebensolche Messung der Response" aufwiesen. Die Ergebnisse der Studien seien "weit gestreut und teilweise konträr". Das größte Problem bei der Auswertung habe die uneinheitliche Messung der Response auf die Medikation dargestellt. Die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse der Methylphenidatstudien habe auch andere Reviewer vor Probleme gestellt. Es hätten sich zwar Hinweise auf die Effektivität der Behandlung der adulten ADHS finden lassen, wobei die Effektivität von Atomoxetin besser untersucht sei, wenn man die methodischen Mängel der Studien zu Methylphenidat in Rechnung stelle. Es müsse unter Berücksichtigung der Vorteile des Atomoxetins eine Ablösung des Methylphenidats als Standardmedikation für die adulte ADHS in Erwägung gezogen werden (vgl. die Zusammenfassung auf S. 55-58 der Arbeit). Die genannte Arbeit ist im vorliegenden Zusammenhang von besonderer Bedeutung, weil sie in der Auseinandersetzung um die Indikation von Methylphenidat zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter keine Partei ergreift, sondern sich als "Studie über Studien" begreift und analysiert, dass die Studienlage uneinheitlich bis widersprüchlich sei. Gerade deshalb ist die Studie der Autorin Maier, die keine erkennbaren methodischen Mängel enthält, für den Senat von besonderem Gewicht und gerade deshalb sieht der Senat es als erwiesen an, dass ein fachwissenschaftlicher Konsens über den Nutzen von Methylphenidat für die Behandlung der adulten ADHS jedenfalls derzeit nicht besteht; es gibt beachtliche Stimmen, die für einen solchen Nutzen sprechen, doch eben auch nennenswerte Gegenstimmen.
Auch sonst ist keine gesicherte Datenlage ersichtlich, die den Rückschluss auf einen Behandlungserfolg mit methylphenidathaltigen Medikamenten zur Behandlung der adulten ADHS zuließen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat am 20. Dezember 2005 beschlossen, insoweit gemäß § 35 b Abs. 3 SGB V eine Expertengruppe (Off-Label im Fachbereich Neurologie/Psychiatrie) einzusetzen und diese mit der Erstellung von Bewertungen zur Anwendung von Arzneimitteln außerhalb des zugelassenen Indikationsbereichs, u.a. für Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter, beauftragt. Wie sich aus dem von der Klägerin eingereichten, an sie gerichteten Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheit vom 7. März 2007 ergibt, stellte diese beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte gebildete Expertengruppe die Bearbeitung des Auftrags zurück, "um eine parallele Bearbeitung dieser Fragestellung durch Unternehmen und die Expertengruppe zu vermeiden." Die Zurückstellung basiert somit auf sachgerechten, nicht zu beanstandenden Erwägungen.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Verfassungsrechts. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass die Regelungen des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung zur Arzneimittelversorgung insbesondere dann einer verfassungskonformen Auslegung bedürfen, wenn Versicherte an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung leiden, bei der die Anwendung der üblichen Standardbehandlung aus medizinischen Gründen ausscheidet und andere Behandlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen (Beschluss vom 6. Dezember 2005, 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, S. 25 = NJW 2006, S. 891). Diese auf den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG beruhenden Grundsätze sind auf den vorliegenden Fall jedoch nicht übertragbar, da die Erkrankung der Klägerin trotz ihrer spürbaren Ausprägung nicht mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung auf eine Stufe gestellt werden kann oder etwa mit einer akut drohenden Erblindung eines Auges zu vergleichen wäre (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Oktober 2004, B 1 KR 27/02 R, zitiert nach juris).
2. Das gleiche gilt im Wesentlichen auch für die von der Klägerin begehrten Amphetaminkapseln. Derzeit ist kein amphetamin-haltiges Arzneimittel für die Behandlung der adulten ADHS zugelassen. Dass einen Off-Label-Use rechtfertigende Studien für diese Indikation vorliegen, ist weder von der Klägerin vorgebracht worden noch sonst ersichtlich.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreites.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
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