L 27 P 75/08

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 76 P 409/05
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 P 75/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Januar 2008 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Pflegegeld der Pflegestufe I für den Zeitraum ab März 2005.

Der 1926 geborene Kläger beantragte im März 2005 bei der Beklagten Pflegegeld. Diese holte daraufhin das MDK-Gutachten der Ärztin W vom 28. September 2005 ein, die eine erhebliche Pflegebedürftigkeit verneinte: Der tägliche Hilfebedarf in der Grundpflege betrage 5 Minuten; der Zeitbedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung umfasse 64 Minuten pro Tag. Dem Gutachten folgend lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 20. Juni 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. November 2005 ab.

Mit der bereits am 9. November 2005 vor dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt. Das Sozialgericht hat das Gutachten der Allgemeinmedizinerin Dr. B vom 8. März 2006 mit ergänzender Stellungnahme vom 12. Juli 2006 eingeholt, die einen täglichen Zeitaufwand für die Grundpflege von 26 Minuten und für die hauswirtschaftlichen Verrichtungen von mehr als 45 Minuten ermittelt hat.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 31. Januar 2008 abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, dass der Kläger nicht erheblich pflegebedürftig sei. Zutreffend habe die Gutachterin den täglichen Hilfebedarf in der Grundpflege für das Duschen/Baden mit 15 Minuten, das Kämmen/Rasieren mit 6 Minuten, die mundgerechte Zubereitung der Nahrung mit 2 Minuten, das Aufstehen/Zubettgehen mit 1 Minute und das An-/Auskleiden mit 2 Minuten, also insgesamt 26 Minuten, festgestellt. Die Behandlung des Fußpilzes und der Kopfhaut sei keine Verrichtung der Grundpflege, sondern der Behandlungspflege. Beim Verlassen bzw. Wiederaufsuchen der Wohnung sei nur derjenige Hilfebedarf zu berücksichtigen, der unmittelbar für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause notwendig sei. Hierzu gehören Arztbesuche, wenn sie wenigstens einmal pro Woche anfielen. Selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstellte, dass diese Voraussetzung zutreffe, seien allenfalls täglich 9 Minuten zu berücksichtigen, die auch bei Hinzurechnung eines Hilfebedarfs von weiteren 4 Minuten für das An-/Ausziehen der Stützstrümpfe den für die Zuerkennung von Pflegegeld erforderlichen Zeitaufwand von 45 Minuten nicht erreichten.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt. Er hat zunächst vorgetragen, jeweils mindestens einmal pro Woche einen Arzt aufgesucht zu haben und zur Krankengym-nastik gegangen zu sein.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachten der Arbeitsmedizinerin Dr. F vom 14. Februar 2009, ergänzt durch die Stellungnahme vom 25. Mai 2009, die eine erhebliche Pflegebedürftigkeit des Klägers nicht hat feststellen können.

Unter Vorlage diverser medizinischer Unterlagen bringt der Kläger vor, dass sich seine Leiden verschlimmert hätten. Verschiedene Operationen ständen an; seine Schmerzen seien unerträglich. Er müsse zweimal im Monat einen Internisten aufsuchen. Im ersten Quartal 2009 habe er 24 Physiotherapieanwendungen erhalten. Im Oktober 2009 hat er mitgeteilt, monatlich zehnmal einen Arzt und Therapeuten aufgesucht zu haben.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Januar 2008 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20. Juni 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 14. November 2005 zu verpflichten, ihm ab März 2005 Pflegegeld der Pflegestufe I zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage mit Urteil vom 31. Januar 2008 abgewiesen. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 20. Juni 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. November 2005 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Denn er hat keinen Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe I.

Voraussetzung ist nach § 37 Abs. 1 SGB XI u. a., dass der Anspruchsteller pflegebedürftig ist und mindestens der Pflegestufe I zugeordnet werden kann. Pflegebedürftigkeit liegt hierbei nach § 14 Abs. 1 SGB XI vor, wenn der Betroffene wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedarf, die nach § 14 Abs. 3 SGB XI in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ab-lauf des täglichen Lebens oder in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen besteht. Als gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im vorgenannten Sinne gelten nach § 14 Abs. 4 SGB XI im Bereich der Körperpflege, der neben den Bereichen der Ernährung und der Mobilität zur Grundpflege gehört, das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- oder Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.

Die Zuordnung zur Pflegestufe I setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XI voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für we-nigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, hat hierbei wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten zu betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen.

Diese Voraussetzungen sind im Fall des Klägers nicht erfüllt. Denn es lässt sich nicht feststellen, dass sein Grundpflegebedarf wöchentlich im Tagesdurchschnitt mehr als 45 Minuten betrug. Dies hat das Sozialgericht unter Verwertung der im Verwaltungs- und im Klageverfahren erhobenen ärztlichen Feststellungen überzeugend dargelegt. Auf die zutreffende Begründung des angefochtenen Urteils vom 31. Januar 2008 wird nach § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Bezug genommen.

Das Vorbringen des Klägers im Berufungsverfahren und die weiteren medizinischen Ermittlungen des Senats rechtfertigen keine abweichende Entscheidung: Der Hilfebedarf des Klägers in der Grundpflege übersteigt wöchentlich im Tagesdurchschnitt nicht 45 Minuten.

Im Bereich der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI) hat er einen Zeitbedarf von insgesamt 20 Minuten: Nach den ausführlichen und überzeugenden Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen Dr. F im Gutachten vom 14. Februar 2009 sind 15 Minuten für die
Hilfestellung beim Duschen mit Waschen des Kopfhaares angemessen. Die Gutachterin hat dargelegt, es sei davon auszugehen dass bei schon längerer Zeit bestehenden Einschränkungen der
rechten Schulte trotz Rechtshändigkeit die linke Hilfshand zwischenzeitlich durch Anpassung, Gewöhnung und Training den Funktionswert einer Haupthand gewonnen hat. Deshalb kann der Kläger mit dem gesunden linken Arm-Handsystem den Körper einseifen und mit Wasser abspülen. Notwendig bleiben Handreichungen von Waschutensilien. Da Überkopfbewegungen des rechten Armes nicht möglich sind, ist Hilfe beim Waschen der Haare angebracht. Beim Rasieren besteht wegen der Ungeschicklichkeit der linken Hand ein Hilfebedarf im Sinne einer Nachrasur, die in einem Umfang von 5 Minuten berücksichtigungsfähig ist. Ein Hilfebedarf beim Kämmen ist nicht erkennbar, da der linke Arm des Klägers ausreichend beweglich ist.

Nach den Feststellungen der Sachverständigen, denen der Senat sich anschließt, benötigt der Kläger im Bereich der Ernährung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) für das mundgerechte Zubereiten der Nahrung angesichts der vollen Funktionsfähigkeit der linken Hand und der Behelfsmöglichkeiten mit der rechten Hand Hilfeleistungen in einem Umfang von täglich maximal 6 Minuten. Bei der Nahrungsaufnahme besteht kein Hilfebedarf.

Im Bereich der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI) ist zum einen ein Bedarf von täglich 1 Minute für das Stehen/Wannentransfer zu berücksichtigen, der beim Duschen des Klägers anfällt. Zum anderen sind 6 Minuten täglich für das An- und Auskleiden anzusetzen. Zwar kann der Kläger, wie die Gutachterin ausgeführt hat, legere Kleidung (T-Shirt und Jogginghose) allein an- und ausziehen. Beim Bedienen von Verschlüssen ist jedoch Hilfestellung angezeigt. Auch benötigt der Kläger einmal täglich Hilfe beim An- und Ausziehen der Stützstrümpfe, welches als verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahme nach § 15 Abs. 3 Satz 3 SGB XI in die Grundpflege einzubeziehen ist, da die konkrete Hilfeleistung mit der betreffenden Katalogverrichtung des § 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI in einen sachlichen Zusammenhang steht (vgl. BSG SozR 3-2500 § 37 Nr.).

Der Zeitaufwand für die genannten Leistungen der Grundpflege von insgesamt 33 Minuten täglich wird auch bei Berücksichtigung des von dem Kläger vorgetragenen Hilfebedarfs beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung nicht maßgebend, d.h. auf über 45 Minuten, angehoben.

Die Hilfe bei der Mobilität außerhalb der eigenen Wohnung ist nur dann zu berücksichtigen, wenn sie erforderlich ist, um das Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen, also Krankenhausaufenthalte und die stationäre Pflege in einem Pflegeheim zu vermeiden. Als Maßnahme der Grundpflege anerkannt worden ist demgemäß die Hilfe durch Begleitung bei durchschnittlich wenigstens einmal wöchentlich anfallenden Arztbesuchen. Gleiches gilt für die Begleitung zum Krankengymnasten, wenn die Maßnahme ärztlich verordnet ist (siehe etwa BSG, Urteil vom 26. November 1998, B 3 P 20/97 R, SozR 3-3300 § 14 Nr. 9). Vorliegend sucht der Kläger seinen eigenen Angaben zufolge regelmäßig nur zweimal im Monat einen Internisten zur Blutuntersuchung auf. Allerdings hat er im ersten Quartal 2009 24 Physiotherapieanwendungen wahrgenommen. Es ist fraglich, ob die Einschätzung der Arbeitsmedizinerin Dr. F in ihrem Gutachten vom 14. Februar 2009, dass es sich hierbei um eine zeitlich befristete Behandlungsmaßnahme und nicht um einen auf Dauer anfallenden Hilfebedarf handele, nicht zeitlich überholt ist, da der Kläger im Oktober 2009 von weiteren therapeutischen Behandlungen berichtet hat. Dies kann jedoch offen bleiben, da auch unter Zugrundelegung der Annah-me, dass der Kläger zweimal wöchentlich einen Physiotherapeuten aufsucht, ein weiterer Hilfebedarf im Bereich der Mobilität von nur 4 Minuten täglich besteht. Der Kläger wird von sei-ner Ehefrau zum Wagen begleitet und zu der Praxis gefahren, die in ca. 3 Minuten zu erreichen ist. Nach der Behandlung holt sie ihn wieder mit dem Wagen ab. Die Sachverständige hat die Begleitung des Klägers wegen dessen erhöhter Sturzgefahr für nachvollziehbar gehalten; hin-gegen hat sie die Anwesenheit einer Pflegeperson während der Fahrt, der Wartezeit und der Behandlungszeit aus medizinischer Sicht als nicht erforderlich eingeschätzt. Dieser Wertung ist hinsichtlich der Notwendigkeit der Begleitung zum Wagen zu folgen, da das von dem Kläger bewohnte Gebäude zwar über einen Fahrstuhl verfügt, dieser jedoch von der Hauseingangstür nur über sechs Stufen zu erreichen ist. Der zeitliche Aufwand der Begleitung von der Wohnung des Klägers zum Wagen ist mit 2 Minuten anzusetzen. Da davon auszugehen ist, dass der Kläger auf dem Weg vom Wagen zur Praxis seines Physiotherapeuten ebenfalls der Begleitung bedarf, sind hierfür weitere 2 Minuten zu veranschlagen. Für den Hinweg ist auch die Fahrzeit von 3 Minuten – also insgesamt ein zeitlicher Aufwand von 7 Minuten – zu berücksichtigen. Die Begleitung des Klägers durch eine Pflegeperson während der Fahrt mag zwar nicht aus medizinischen Gründen notwendig sein. Da er auf dem Weg zum Wagen und zur Praxis auf Hilfe angewiesen ist, ist jedoch die Begleitung während der Fahrt aus praktischen Erwägungen erforderlich. Entsprechendes gilt für den Rückweg von der physiotherapeutischen Behandlung nach Hause. Auch hier besteht ein Zeitaufwand von 7 Minuten. Eine – grundsätzlich zu berücksichtigende (vgl. das Urteil des Senats vom 28. Mai 2009, L 27 P 39/08, bei Juris) – Wartezeit der Pflegeperson in der Praxis fällt im vorliegenden Fall nicht an, da der Kläger nach Abschluss der Behandlung von seiner Ehefrau abgeholt wird. Bei zwei Besuchen der Praxis in der Woche ergibt sich insgesamt ein Zeitaufwand von 28 Minuten wöchentlich, d.h. von 4 Minuten täglich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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