L 10 AS 891/10 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 129 AS 10899/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AS 891/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. April 2010 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der 1969 geborene polnische Antragsteller, der seit Anfang 2007 in B im Baugewerbe selbstständig tätig ist (vgl die Gewerbeanmeldung vom 10. Januar 2007, Bl 29 der Leistungsakte) und währenddessen nicht auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) angewiesen war, beantragte bei der Antragsgegnerin erstmals am 15. März 2010 Arbeitslosengeld II (Alg II) in Form von Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie von Zuschüssen zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung (nur) für die Zeit vom 01. April bis zum 30. Juni 2010 (vgl Bl 19 der Leistungsakte). Zur Begründung gab er an, der Glaubensgemeinschaft der Zeugen J anzugehören und vom 08. April bis zum 06. Juni 2010 an einer Schulungsveranstaltung für ehrenamtlich tätige Mitglieder dieser Glaubensgemeinschaft in S/P teilzunehmen. Daher könne er für die Zeit ab dem 01. April 2010 keine Arbeitsaufträge mehr annehmen und werde er in der Zeit bis Ende Juni 2010 kein Einkommen erwirtschaften können. Zwar werde er nach seiner Rückkehr aus P die Arbeit im Juni wieder aufnehmen, Einkommen werde ihm aber erst im Juli wieder zufließen. Mit (angefochtenem) Bescheid vom 19. März 2010 lehnte die Antragsgegnerin die Bewilligung von Alg II mit der Begründung ab, der Antragsteller werde während der Teilnahme an der Veranstaltung in S seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht, wie gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB II für den Leistungsanspruch erforderlich, im Bundesgebiet haben.

Daraufhin hat der Antragsteller am 30. März 2010 beim Sozialgericht (SG) Berlin beantragt, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm für die Zeit vom 01. April bis zum 30. Juni 2010 Alg II gewähren. Das SG hat den Eilrechtsschutzantrag mit dem angefochtenen Beschluss vom 20. April 2010 mit der Begründung abgelehnt, der Antragsteller habe einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Vielmehr sei die Leistungsgewährung gemäß § 7 Abs 4a SGB II ausgeschlossen, da sich der Antragsteller ohne Zustimmung der Antragsgegnerin (eine solche liegt unstreitig nicht vor) außerhalb des in der Erreichbarkeits-Anordnung (EAO) definierten zeit- und ortsnahen Bereichs aufhalte. Außerdem mangele es an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes. Es sei nicht ersichtlich, dass der Antragsteller die Zeit bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht ohne SGB II-Leistungen überbrücken könne bzw ihm durch die Nichtgewährung der beantragten Leistungen ein wesentlicher Nachteil drohe.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde. Mit der Beschwerdeschrift vom 06. Mai 2010 hat der Antragsteller sein Eilrechtsschutzbegehren ausdrücklich auf Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie auf Zuschüsse zur privaten Krankenversicherung beschränkt (vgl Bl 31 der Gerichtsakten).

II.

Die Beschwerde ist jedenfalls unbegründet.

Nach § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag zur Rege¬lung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile not¬wendig erscheint. Der Anordnungsanspruch – die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist – sowie der Anordnungsgrund – die Eilbedürftigkeit der begehrten sofortigen Regelung – sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs 2 Zivilprozessordnung).

Viel spricht dafür, dass es für die Zeit des Schulungsaufenthaltes des Antragstellers in P bereits an einem Anordnungsanspruch mangelt. Jedenfalls ist der Leistungsausschlusstatbestand des § 7 Abs 4a 1. Halbsatz SGB II seinem Wortlaut nach erfüllt. Danach erhält Leistungen nach dem SGB II nicht, wer sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des in der EAO vom 23. Oktober 1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch die Anordnung vom 16. November 2001 (ANBA 2001, 1476), definierten zeit- und ortsnahen Bereichs aufhält. Zum einen liegt der Ort S/P über 500 km von B entfernt und damit nicht mehr im Nahbereich, zu dem nach § 2 Satz 1 Nr 3, Satz 2 EAO in der erwähnten Fassung alle Orte in der Umgebung des Arbeitsamtes gehören, von denen aus der Antragsteller erforderlichenfalls in der Lage wäre, das Arbeitsamt täglich ohne unzumutbaren Aufwand zu erreichen. Zum anderen liegt eine Zustimmung der Antragsgegnerin zum Aufenthalt des Antragstellers außerhalb des Nahbereiches nicht vor. Allerdings schließt der Senat nicht endgültig aus, dass die Vorschrift des § 7 Abs 4a 1. Halbsatz SGB II nach ihrem Sinn und Zweck (vgl zur Gesetzesbegründung BT-Drucks 16/1696) und angesichts dessen, dass das SGB II die Verfügbarkeit des Hilfebedürftigen nicht als Anspruchsvoraussetzung statuiert hat (vgl Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl, § 7 Rdnr 78), einer einschränkenden Auslegung etwa in dem Sinne zugänglich ist, dass jedenfalls Anspruch auf Leistungen für Bedarfe im Bundesgebiet besteht, wenn für die Ortsabwesenheiten ein wichtiger Grund besteht (vgl SG Berlin, Beschluss vom 15. August 2007 – S 37 AS 18204/07 – juris) oder wenn eine Vermittlung des Hilfebedürftigen in den Arbeitsmarkt während der Ortsabwesenheit nicht in Rede steht, und dass derartige Umstände hier vorliegen könnten. Die Frage, ob ein Anordnungsanspruch besteht, kann im vorliegenden Fall letztlich offen bleiben, da jedenfalls ein Anordnungsgrund nicht ersichtlich, geschweige denn glaubhaft gemacht ist.

Der Vermieter des Antragstellers hat heute auf telefonische Anfrage des Gerichts mitgeteilt, dass aktuell keine Mietrückstände bestehen; seine Unterkunft ist danach gegenwärtig nicht ansatzweise gefährdet. Auch für Rückstände bei der privaten Krankenversicherung ist nichts erkennbar. Im Übrigen gewährleistet § 193 Abs 6 Versicherungsvertragsgesetz den notwendigen Krankenversicherungsschutz eines hilfebedürftigen Versicherungsnehmers auch für den Fall von Beitragsrückständen (vgl den für die Veröffentlichung in juris vorgesehenen Senatsbeschluss vom heutigen Tag – L 10 AS 817/10 B ER; ausführlich auch Spekker, Schuldenfalle private Kranken- und Pflegeversicherung – zur Deckungslücke bei den Beiträgen privat krankenversicherter Leistungsbezieher nach dem SGB II und SGB XII, ZFSH 2010, 212 ff). Es danach nicht ersichtlich, dass sich der Antragsteller mangels der allein geltend gemachten Leistungen für Unterkunft und Heizung sowie Zuschüsse zu den Krankenversicherungsbeiträgen in einer Notlage befindet, die für die Zeit bis zum 30. Juni 2010 eine einstweilige gerichtliche Regelung erforderte.

Bei dieser Sachlage (fehlender Anordnungsgrund für die erhobenen Ansprüche) konnte im Ergebnis auf sich beruhen, ob der Anordnungsantrag bereits unzulässig war, soweit der Antragsteller vorläufige Leistungen für Zeiträume ab seiner Rückkehr aus P beantragt hat. Insoweit fehlt es an einer ablehnenden Verwaltungsentscheidung bzw im Eilrechtsschutzzusammenhang an einem streitigen Rechtsverhältnis, wenn sich die mit Bescheid vom 19. März 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 28. April 2010 erfolgte Leistungsablehnung auf die Zeit des P-aufenthalts beschränkt, was die allein auf § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 4 bzw Abs 4a SGB II Bezug nehmende Begründung nahe legt. Davon ausgehend hat der Antragsteller, ohne dass er ein Überprüfungsverfahren anstrengen müsste, die Möglichkeit, sich nach seiner Rückkehr aus P für die Folgezeit erneut mit einem Hilfeersuchen an die Antragsgegnerin zu wenden. Eine vorübergehende Leistungswährung bis Monatsende – ggf in Form eines Darlehens (vgl § 23 Abs 4 SGB II) – setzt allerdings voraus, dass der Antragsteller tatsächlich trotz Wiederaufnahme seiner Erwerbstätigkeit mangels aktuellen Einkommenszuflusses sowie ggf unter Berücksichtigung seiner Einnahmen aus selbständiger Arbeit vor dem P-aufenthalt (vgl zur Berechnung des Einkommens aus selbständiger Arbeit § 3 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld - Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung) nicht in der Lage ist, seinen notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Beschluss kann nicht mit einer Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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