L 14 AS 948/10 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 129 AS 10272/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 948/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. April 2010 aufgehoben. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 17. Mai 2010 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens aber bis 31. Juli 2010 zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Landessozialgericht wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Streitig ist die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ab 01. Februar 2010.

Der 1956 geborene Antragsteller beantragte am 21. Januar 2010 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II). Durch den Zuzug in die Wohnung seiner Mutter am 1. Januar 2010, wo er gegen eine Mietzinszahlung von monatlich 200,- Euro zur Untermiete wohne, sei er in den Zuständigkeitsbereich des Antragstellers gelangt. Vor dem Umzug erhielt er Leistungen nach dem SGB II von dem Jobcenter Berlin Mitte aufgrund Bewilligungsbescheides vom 1. Dezember 2009 (Bewilligungsabschnitt 01. Januar 2010 bis 30. Juni 2010), der wegen des Umzuges ab 01. Februar 2010 aufgehoben wurde (Aufhebungsbescheid vom 06. Januar 2010).

Durch Bescheid vom 15. März 2010 lehnte der Antragsgegner die Gewährung von Leistungen ab. Der Antragsteller verfüge über ein verwertbares Vermögen von 20.069,66 Euro, das den Vermögensfreibetrag von 8.850,- Euro übersteige.

Der Antragsteller legte Widerspruch ein. Zwar verfüge er über eine fondsgebundene, bereits vor dem Jahre 2005 eingerichtete Lebensversicherung mit einem aktuellen Rückkaufswert von 17.261,27 Euro (Stand: März 2010). Diese diene aber der Altersvorsorge. An Beiträgen seien bereits 20.266.60 Euro eingezahlt worden. Die Versicherungssumme bei Fälligkeit betrage 35.576,41 Euro. Auch unterhalte er ein Sparkonto bei der Commerzbank mit einem Guthaben von 2.583,95 Euro, auf das aber noch zwei weitere Personen eingezahlt hätten. Das Konto diene der Begleichung einer Gartenpacht.

Durch Widerspruchsbescheid vom 23. April 2010 wies der Antragsgegner den Widerspruch zurück. Als Alterssicherung könne die Lebensversicherung nicht gelten, weil ihre Verwertbarkeit vor Eintritt in das Rentenalter nicht ausgeschlossen worden sei. Zwar sei ihre Verwertung an sich als unwirtschaftlich anzusehen, weil der aktuelle Rückkaufswert mehr als 10 Prozent unter der Summe der eingezahlten Beiträge liege. Da es sich um eine fondsgebundene Lebensversicherung handele, würden aber andere Regeln gelten. Wegen des dieser Anlageform immanenten Risikos sei sie unabhängig vom früheren Kaufpreis stets als Vermögen zu berücksichtigen. Eine Abwägung der Wirtschaftlichkeit komme nicht in Frage. Es sei nicht gerechtfertigt, dass die öffentliche Hand das Anlagerisiko trage.

Bereits am 24. März 2010 hat der Antragsteller den vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, den das Sozialgericht Berlin durch Beschluss v. 6. April 2010 abgelehnt hat. Es fehle an einem Anordnungsgrund. Der Antragsteller verfüge über genügend liquide Mittel. Zum einen könne er über das Sparguthaben verfügen. Selbst wenn es ihm nur zu einem Drittel gehören sollte, würde es ausreichen, um den Lebensbedarf für ein und einen halben Monat zu decken. Zum anderen stehe noch ein ungenutzter Dispositionskredit in Höhe von 1.729,- Euro zur Verfügung.

Gegen den seinem Bevollmächtigten am 15. April 2010 zugestellten Beschluss richtet sich die am 17. Mai 2010 (Montag) bei dem Sozialgericht Berlin eingegangene Beschwerde des Antragstellers, mit der er geltend macht, dass das Konto bei der Commerzbank Gesellschaftsvermögen sei. Die weitere Inanspruchnahme des Dispositionskredits sei nicht zumutbar, zudem er bereits gekündigt worden sei. Es werde nochmals darauf hingewiesen, dass die Summe der in die Lebensversicherung einbezahlten Beiträge 20.266,60 Euro betrage, der Rückkaufswert gegenwärtig aber nur 17.261,27 Euro. Gegen den Widerspruchsbescheid vom 23. April 2010 sei am 17. Mai 2010 Klage vor dem Sozialgericht Berlin zum Az. S 108 AS 16035/10 erhoben worden.

Der Antragsteller beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. April 2010 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu gewähren sowie Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Landessozialgericht und dem Sozialgericht zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er verweist auf den Beschluss des Sozialgerichts und seinen Widerspruchsbescheid.

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die den Antragsteller betreffende Verwaltungsakte verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.

II.

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht abgelehnt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch – SGB II – zu gewähren.

Nach § 86b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG – kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Der Anordnungsanspruch ergibt sich vorliegend aus §§ 19, 20, 22 SGB II. Dass der Antragsteller erwerbsfähig und ohne Einkommen ist, wird auch vom Antragsgegner nicht angezweifelt. Zu Unrecht meint der Antragsgegner indessen, dass vorliegend die Bedürftigkeit fehle, weil der Antragsteller zumutbar auf seine Lebensversicherung verwiesen werden könne.

Nach § 12 Abs. 1 SGB II sind als Vermögen alle verwertbaren Vermögensgegenstände zu berücksichtigen, nach § 12 Abs. 3 Nr. 6 SGB II aber nicht Sachen und Rechte, soweit ihre Verwertung offensichtlich unwirtschaftlich ist oder für den Betroffenen eine besondere Härte bedeuten würde. Nach der Verwaltungspraxis des Antragsgegners (ausweislich der fachlichen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit; Bl. 34a der Verwaltungsakten) ist die Verwertung von Sachen und Rechten nicht offensichtlich unwirtschaftlich, wenn im Ergebnis unter Berücksichtigung der Verwertungskosten der Verkehrswert nur gering (unter 10 Prozent) unter dem Substanzwert (Summe der eingezahlten Beträge) liege. Zukünftige Gewinn-/Renditeaussichten könnten nicht berücksichtigt werden. Eine Prüfung der Verwertung einer Lebensversicherung durch Beleihung sei erst im letzten Fünftel der Laufzeit vorzunehmen. Danach scheint die Verwertung einer Lebensversicherung dann als offensichtlich unwirtschaftlich nicht verlangt werden zu können, wenn der Rückkaufswert (nach Abzug von Gebühren) die Summe der eingezahlten Beiträge um mehr als 10 Prozent unterschreitet. Diese Voraussetzung wird vorliegend erfüllt, denn angesichts eingezahlter Beiträge in Höhe von 20.266,60 Euro müsste der Rückkaufswert mindestens 18.239,94 Euro betragen, ehe die Verwertung zumutbar wäre.

Das Bundessozialgericht – BSG – (Urt. v. 6. September 2007 – B 14/7b AS 66/06 R) hat unter Bezugnahme auf eine weitere Entscheidung dieses Gerichts (Urteil vom 23. November 2006 - B 11b AS 17/06 R), wonach ein Verlust von mehr als 10 Prozent als noch im Bereich des wirtschaftlichen liege, entschieden, dass sogar ein Verlust von 12,9 Prozent bei dem vorzeitigen Verkauf einer Kapitallebensversicherung nicht offensichtlich unwirtschaftlich ist und weitergehend (nur) in Zweifel gezogen, ob ein Verlust von mehr als 18,5 Prozent (bei rein isolierter Betrachtung des Verhältnisses von eingezahlten Beiträgen und Rückkaufswert) noch im Bereich der Wirtschaftlichkeit iSd § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II anzunehmen sei. Hier im Verfahren würde bei einem vorzeitigen Verkauf der fondsgebundenen Lebensversicherung ein Verlust von rund 14,8 Prozent eintreten. In Hinblick auf die eigene Verwaltungspraxis des Antragsgegners und auch unter Berücksichtigung der vorgenannten Rechtsprechung wird jedenfalls ein Verlust um 15 Prozent als offensichtliche Unwirtschaftlichkeit angesehen, mit der Folge, dass der Rückkaufswert der Lebensversicherung unberücksichtigt bleiben muss.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ergibt sich nichts anderes daraus, dass der Antragsteller eine fondsgebundene Lebensversicherung abgeschlossen hat. Dass diese keinen Ausnahmefall darstellt, sondern den für die Verwertbarkeit von Lebensversicherungen im Allgemeinen geltenden Regeln unterfällt, hat das BSG bereits angedeutet (Urt. v. 13. Mai 2009 – B 4 AS 58/08 R Rdnr. 27), davon geht auch die sonstige bisherige Rechtsprechung – soweit ersichtlich – bisher aus (LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 18. November 2009 – L 13 AS 5234/08, Rdnr 39, vgl. auch SG Bremen, Beschluss v. 18. November 2009 – S 26 As 1898/09 ER).

Schließlich drängt sich eine Verwertung der Lebensversicherung des Antragstellers durch Beleihung nicht auf. Der Antragsteller hatte die Lebensversicherung am 1. November 1990 mit einer Laufzeit von 30 Jahren abgeschlossen. Nach den bereits oben in Bezug genommenen dienstlichen Hinweisen käme eine Verwertung durch Beleihung unter diesen Umständen frühestens erst im Laufe des Jahres 2014 in Betracht.

Nach alledem ist jedenfalls zurzeit zu erwarten, dass die Lebensversicherung des Antragstellers in einem Hauptsacheverfahren als unverwertbar angesehen würde. Dann kann der Antragsteller aber nicht - bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache - auf ihre Inanspruchnahme verwiesen werden. Sonstige Vermögenswerte, welche die Bedürftigkeit beseitigen würden, sind nicht vorhanden. Die Verhältnisse hinsichtlich des bei der Commerzbank eingerichteten Sparkontos können dahinstehen, weil insoweit der allgemeine Vermögensfreibetrag (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 SGB II), der vom Antragsgegner mit 8.850,- Euro berechnet worden ist, nicht erreicht wird.

Der Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass Leistungen der Grundsicherung betroffen sind und nicht ersichtlich ist, wie der Antragsteller ansonsten seinen Lebensunterhalt sichern könnte.

Der maßgebliche Zeitraum für den Erlass der einstweiligen Anordnung beginnt mit dem Zeitpunkt des Eingangs der Beschwerde bei dem Landessozialgericht und endet mit Ablauf des Regelbewilligungszeitraums nach § 41 Abs. 2 SGB II. Da der Antragsgegner die Leistungen im Ergebnis abgelehnt hat, mit der Folge, dass dem Antragsteller ab 1. Februar 2010 keine Leistungen zur Grundsicherung des Lebensunterhalts mehr gewährt wurden, endet der Bewilligungszeitraum mit Ablauf des 31. Juli 2010.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

Da der Antragsgegner zur Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers verpflichtet worden ist, entfällt insoweit seine Bedürftigkeit, so dass entsprechend den §§ 73a SGG, 114 der Zivilprozessordnung kein Raum mehr für eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht war.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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