L 8 R 1460/05

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 30 RJ 1724/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 8 R 1460/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 17. August 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist ein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung ab 1. Mai 2007. Die Klägerin ist 1958 in der Türkei geboren worden. Seit 1979 lebt sie in der Bundesrepublik Deutschland und hat inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit erworben. Sie hat keinen Beruf erlernt. Zuletzt arbeitete sie seit 1989 als Reinigungskraft. Vom 20. März bis zum 17. April 2001 absolvierte sie bei noch fortbestehendem Arbeitsverhältnis in Kostenträgerschaft der Beklagten in deren Rehabilitationsklinik L eine Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation. Aus dem Heilverfahren wurde die Klägerin als arbeitsunfähig für die Beschäftigung als Reinigungskraft, im übrigen als leistungsfähig für täglich sechs und mehr Stunden leichte bis mittelschwere Arbeiten im Wechsel der Körperhaltungen unter Vermeidung von Überkopfarbeit entlassen (Entlassungsbericht vom 18. April 2001; Diagnosen: Somatisierungsstörung, Wirbelsäulen-Schmerzsyndrom; leichte depressive Episode; Adipositas). Nachdem sie seit dem 31. August 2001 arbeitsunfähig krankgeschrieben war, beantragte die Klägerin im Februar 2002 Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Beklagte zog unter anderen ein Gutachten vom 25. Januar 2002 des Arztes J für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg bei. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin auf Dauer arbeitsunfähig sei. Auf Grund erheblicher chronifizierter psychosomatischer Störungen, deutlichem Antriebsverlust und fehlender Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung könne eine wesentliche Besserung des Beschwerdebildes nicht mehr erreicht werden (Diagnosen: Zervikobrachialsyndrom beidseits; Lumboischialgie; Rückenschmerzen; Gonarthrose beidseits). Im Auftrag der Beklagten wurde die Klägerin durch den Facharzt für Chirurgie Dipl.-Med. P und die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S begutachtet. Der Arzt P kam aus der Sicht seines Fachgebiets zu dem Ergebnis, dass die Klägerin noch in der Lage sei, täglich sechs Stunden und mehr leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten überwiegend im Sitzen oder im Wechsel der Haltungsarten zu verrichten. Nicht möglich seien Rumpfzwangshaltungen, Überkopfarbeiten und der Lastentransport über 5 kg (Gutachten vom 9. Mai 2002; Diagnosen: anhaltende somatoforme Schmerzstörung; Cervicalgie mit rezidivierender rechtsbetonter Brachialgie bei Halswirbelsäulen-Fehlhaltung; Osteochondrose, Spondylose C5, 6, 7; Lumbago rechtsbetont bei Lendenwirbelsäulen-Fehlhaltung; Osteochondrose; initiale Spondylarthrose). Dr. S kam aus der Sicht ihres Fachgebiets zu dem Ergebnis, dass die Klägerin noch täglich sechs und mehr Stunden leichte körperliche Arbeiten in wechselnder Körperhaltung verrichten könne. Zu vermeiden seien Nachtschichten und Zeitdruck. Ein vorzeitiges psychosomatisches Heilverfahren sei zu empfehlen (Gutachten vom 11. Juni 2002; Diagnosen: depressiv-neurasthenisches Syndrom mit erheblicher Somatisierung; vertebrogenes Syndrom bei degenerativen Veränderungen ohne neurologische Defizite). Gestützt auf das Ergebnis ihrer medizinischen Ermittlungen lehnte die Beklagte den Rentenantrag durch Bescheid vom 2. Juli 2002 ab. Während des anschließenden Widerspruchsverfahrens befand sich die Klägerin in Kostenträgerschaft der Beklagten vom 25. Februar bis zum 8. April 2003 zur medizinischen Rehabilitation in der Abteilung Psychosomatik der Brandenburg-Klinik B. Aus diesem Heilverfahren wurde sie als weiterhin arbeitsunfähig für die Tätigkeit als Reinigungskraft, im übrigen als leistungsfähig für täglich sechs und mehr Stunden leichte bis gelegentlich mittelschwere körperliche Arbeiten überwiegend im Sitzen oder im Wechsel der Haltungsarten entlassen. Nicht möglich oder zu vermeiden seien Überkopfarbeiten, Heben und Tragen von Lasten über 5 kg, Arbeiten in Zwangshaltungen und solche mit "überhöhtem" Einsatz von Konzentrations-, Reaktions-, Umstellungs- oder Anpassungsvermögen sowie bei der Überwachung und Steuerung von komplexen Arbeitsvorgängen (Entlassungsbericht vom 22. April 2003; Diagnosen: Neurasthenie mit Pseudodemenz vor dem Hintergrund einer zwanghaft-selbstunsicheren Persönlichkeitsstruktur; vertebragenes Schmerzsyndrom; Hypertonie). Den von der Klägerin aufrecht erhaltenen Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 29. September 2003 zurück. Die medizinischen Ermittlungen hätten nicht ergeben, dass das Leistungsvermögen in rentenberechtigendem Ausmaß eingeschränkt sei. Mit ihrer Klage hat die Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung (einschließlich teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit) geltend gemacht. Sie hat, wie bereits im Widerspruchsverfahren, vorgetragen, dass auch nach der letzten Heilbehandlung keine dauerhafte Besserung eingetreten sei. Vielmehr leide sie an Angstzuständen, Orientierungsstörungen und Vergesslichkeit sowie an erheblichen Schmerzzuständen am gesamten Bewegungsapparat und Unterleibsschmerzen. Sie habe auch ein Ekelgefühl und eine Abscheu gegen fremde Sachen entwickelt, die es ihr zeitweise unmöglich machten, fremde Sachen anzufassen oder auf fremden Stühlen zu sitzen. Die ambulante Behandlung bei einer türkischsprachigen Psychotherapeutin habe keine Besserung erbracht. Zum Beleg ihrer Angaben hat sie eine ärztliche Bescheinigung der Diplom-Psychologin S-B vom 22. Oktober 2003 und zwei bereits im Widerspruchsverfahren vorgelegte Atteste des Frauenarztes W vom 30. Juli 2003 und des Arztes für Orthopädie W vom 2. September 2002 vorgelegt. Das Sozialgericht hat Befundberichte des Facharztes für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dr. T (vom 7. Juni 2004), der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. F (vom 18. Juni 2004), der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie P (vom 25. Juni 2004) und des Facharztes für Orthopädie Dr. W (vom 1. Juli 2004) eingeholt. Im Auftrag des Sozialgerichts hat dann der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B mit Datum des 2. Februar 2005 ein Gutachten über die Klägerin erstattet. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sie noch täglich regelmäßig vollschichtig leichte und gelegentlich mittelschwere körperliche Arbeiten in geschlossenen Räumen unter Ausschluss von Hitze, Kälte, Feuchtigkeit oder Zugluft im Wechsel der Haltungsarten oder überwiegend sitzend verrichten könne. Nicht möglich oder zu vermeiden seien einseitige körperliche Belastungen, Akkord- und Fließbandarbeiten, das Heben und Tragen von Lasten jedenfalls über 7 kg sowie Arbeiten in Nachtschicht oder auf Leitern und Gerüsten. Wegen der fehlenden schulischen Ausbildung sei die Klägerin nur zu einfachen geistigen Arbeiten in der Lage, die Lese- und Schreibgewandheit fehle, die Klägerin sei als Analphabetin anzusehen. Die Klägerin hat darauf hin einen "ärztlichen Befundbericht" des Facharztes für Orthopädie Dr. W vom 2. März 2005 und eine "fachärztliche Bescheinigung" des Dr. W vom 1. Juni 2005 eingereicht. Durch Gerichtsbescheid vom 17. August 2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Das ergebe sich aus den medizinischen Ermittlungen, im besonderen dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. B, der die Ergebnisse der im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten ebenso bestätigt habe wie die der psychosomatisch orientierten Maßnahme zur Rehabilitation. Berufsunfähig sei die Klägerin nicht, da sie über keinen Berufsschutz verfüge. Mit der Berufung hat die Klägerin noch einen Anspruch auf Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung aufgrund eines im Zeitpunkt der Untersuchung durch den auf ihren Antrag hin tätig gewordenen Sachverständigen Dr. F eingetretenen Leistungsfalls weiterverfolgt. Sie wiederholt im wesentlichen ihren Vortrag aus der ersten Instanz und macht eine weitere Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes geltend. Hierzu legt sie eine Bescheinigung des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. W vom 1. Juni 2005 vor.

Die Klägerin beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 17. August 2005 und den Bescheid der Beklagten vom 2. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. September 2003 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen ihr aufgrund eines Leistungsfalles am 2. April 2007 (Untersuchung bei Dr. F) ab 1. Mai 2007 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren. Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzweisen. Sie hält die angefochtene Entscheidung und ihre Bescheide für zutreffend. Der Senat hat zunächst den Facharzt für Orthopädie Dr. M mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt. Er ist in seinem Gutachten vom 24. Januar 2006 zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin noch täglich regelmäßig vollschichtig leichte körperliche Arbeiten verrichten könne. Ein Wechsel der Haltungsarten müsse möglich sein, eine Haltungsart solle nicht länger als 20 Minuten eingenommen werden. Nicht möglich oder nicht zumutbar seien Arbeiten in Zwangshaltungen, das Heben und Tragen von Lasten über 7,5 kg, Arbeiten über Kopf oder in Abspreizung oder gestreckter Vorhaltung der Arme, unter Einfluss von Feuchtigkeit, Kälte oder Zugluft, unter Zeitdruck sowie auf Leitern und Gerüsten (Diagnosen: Halswirbelsäulen-Syndrom mit leichter Bewegungseinschränkung, röntgenologisch sichtbaren leichten degenerativen Veränderungen und sensiblem C5-Syndrom; Lendenwirbelsäulensyndrom mit leichten Bewegungseinschränkungen, röntgenologisch sichtbaren beginnenenden degenerativen Veränderungen ohne neurologische Defizite; Schleimbeutelentzündung unter der Schulterhöhe mit Umgebungsentzündung der langen Bizepssehne beidseits, rechts stärker als links, mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung; beginnende Coxarthrose rechts mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung; beginnende Gonarthrose beidseits ohne wesentliche Bewegungseinschränkung; Adipositas). Nachdem die Beklagte eine Stellungnahme des Facharztes für Chirurgie Dr. H (vom 15. Februar 2006) eingereicht hatte, hat Dr. M auf Veranlassung des Senats eine ergänzende Stellungnahme vom 16. März 2006 abgegeben. Die Klägerin ihrerseits hat eine weitere "ärztliche Bescheinigung" des Dr. W vom 9. März 2006 eingereicht. Daraufhin hat die Beklagte weitere Stellungnahmen des Dr. H vom 29. März 2006 sowie der Fachärztin für Nervenheilkunde Dipl.-Med. W vom 7. April 2006 eingereicht. Der Senat hat dann die Begutachtung der Klägerin durch den Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. B veranlasst, der sein Gutachten mit Datum des 22. Oktober 2006 erstattet hat. Er ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin noch täglich regelmäßig vollschichtig leichte Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten, allemal überwiegend im Sitzen, verrichten könne. Die Notwendigkeit eines Wechsels der Haltungsarten in festem Zeitrhythmus lasse sich nicht einmal im Ansatz nachvollziehen. Nicht möglich oder nicht zumutbar seien Arbeiten in Zwangshaltungen (im besonderen über Kopf sowie kniend), auf Leitern und Gerüsten, unter ungewöhnlichem Einfluss von Feuchtigkeit, Kälte oder Zugluft, unter erhöhtem Zeitdruck, in Nachtschicht sowie mit erhöhten Anforderungen an die Anpassungs-, Umstellungs- und Verantwortungsfähigkeit. Gewichte über 7,5 kg könnten allenfalls gelegentlich gehoben und getragen werden (Diagnosen: Zervikobrachialsyndrom mit muskuären Verspannungen und Zephalgien bei vegetativer Überlagerung [ohne stärkere Funktionseinbuße sowie ohne plausible sensomotorische Defizite]; lumbale Überlastungsbeschwerden ohne Wurzelreizsymptomatik bei normaler Beweglichkeit; Arthralgien der Schulter-, Hüft- und Kniegelenke ohne relevante Funktionseinschränkung; Dysthymia mit neurasthenem Beschwerdekomplex und Somatisierung). Die Klägerin hat daraufhin einen Arztbrief der Praxen für Nuklearmedizin Dres S u.a. vom 11. Dezember 2006 betreffend eine Hirnszinigraphie vom 6. Dezember 2006 vorgelegt und die Begutachtung gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. F beantragt. Dieser kommt in seinem Gutachten vom 26. Juni 2007 (Untersuchungstage 2. und 10. April 2007) zu dem Ergebnis, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage sei, ohne Gefährdung der Gesundheit einer Arbeit nachzugehen. Dabei spiele der psychische Zustand der Klägerin eine dominierende Rolle. Die seelische Konstellation potenziere das chronische Schmerzsyndrom. Hier seien auch zahlreiche Befunde aus dem muskoskelettären Bereich anzugeben. Insbesondere aber stehe im Vordergrund das bisher nicht entdeckte extrapyramidale Syndrom. Es handle sich nicht um einen Dauerzustand (Diagnosen: chronifiziertes, häufig rezidivierendes depressiv-ängstliches Syndrom mit zahlreichen Somatisierungen bei zwanghaft selbstunsicherer Persönlichkeitsstruktur; generalisiertes Angstsyndrom; chronische Schmerzerkrankung im Stadium 3 nach Gerbershagen; somatoforme Schmerzstörung; chronisches Kopfschmerzsyndrom [Spannungskopfschmerz]; deutliches extrapyramidales Syndrom in Form einer Dyskinesie mit Dystonie, die sich im oromandibulären Bereich projiziert mit zusätzlichem Trismus [anfallsartig]; Lumbalsyndrom mit Neuropathie; Hirnleistungsstörungen bei cerebrovasculärer Insuffizienz [CVI]). Nachdem die Beklagte dem Gutachten mit einer sozialmedizinischen Stellungnahme der Fachärztin für Nervenheilkunde Dipl.-Med. W entgegengetreten ist, hat Dr. F mit Datum des 10. Dezember 2007 eine ergänzende Stellungnahme abgegeben, zu der die Beklagte wiederum eine sozialmedizinische Stellungnahme der Fachärztin für Nervenheilkunde C vom 21. Dezember 2007 eingereicht hat. Die Klägerin ihrerseits hat einen Entlassungsbericht der C C V-Klinikum betreffend eine stationäre Behandlung vom 4. bis zum 10. März 2008 eingereicht. Im folgenden ist die Klägerin nochmals von Amts wegen durch die Ärztin für Psychiatrie G untersucht und begutachtet worden. In ihrem Gutachten vom 25. März 2009 (Untersuchungstag 2. Februar 2009) ist diese Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin noch täglich regelmäßig sechs und mehr Stunden körperlich leichte und gelegentlich mittelschwere Arbeiten im Wechsel von Sitzen, Stehen und Gehen in geschlossenen Räumen ohne Einfluss extremer klimatischer Bedingungen verrichten könne. Nicht möglich oder nicht zumutbar seien Arbeiten mit einseitigen Belastungen, Zwangshaltungen, festgelegtem Arbeitsrhythmus, Zeitdruck, an laufenden Maschinen und in Nachtschichten. Lasten könnten bis zu 5kg, gelegentlich bis zu 10 kg gehoben und getragen werden. Die Belastbarkeit der Arme, der Wirbelsäule und der Beine sei eingeschränkt. Die von Dr. Fischer gestellten Diagnosen entsprächen weitgehend nicht den diagnostischen Kriterien des ICD-10. Die Dauer der Untersuchungen bei ihm – zehn Stunden (unterbrochen durch eine ca. einstündige Mittagspause) an einem Tag, weitere zwei Stunden am zweiten Tag – widersprächen der Einschätzung eines aufgehobenen Leistungsvermögens, die laut Dr. Fischer trotz Analphabetismus hergestellte "intensive Arbeitssituation" schließe eine schwere psychische Störung jeglicher Art aus (Diagnosen: Neurasthenie; unklares Kopfschmerzsyndrom; lumbalgieformes Schmerzsyndrom ohne neurologische Defizite; Cervicalsyndrom ohne neurologische Defizite; arterieller Hypertonus). Nachdem die Klägerin Einwendungen sowohl gegen den Ablauf der Untersuchung als auch gegen Umfang, Inhalt und Ergebnis des Gutachtens vorgetragen und zusätzlich einen Arztbericht der Ambulanz für Bewegungsstörungen der C B vom 8. Mai 2007 vorgelegt hatte (Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 6. Mai 2009; Behandlungsdiagnose der Charité: Verdacht auf paroxysmale non-kinesiogene Dyskynesie mit oromandibulärer Dystonie und Trismus), hat sich die Sachverständige G mit Datum des 18. August 2009 ergänzend geäußert. Der Senat hat schließlich von der Ambulanz für Bewegungsstörungen der C einen Befundbericht angefordert; eingericht wurden Kopien eines vorläufigen Arztberichtes vom 31. März 2007 und nochmals des Arztberichts vom 8. Mai 2007 sowie eines Arztberichtes vom 9. Oktober 2009 (keine Vorstellungen in der Zwischenzeit). Auf Antrag der Klägerin sind der Sachverständige Dr. F und die Sachverständige G zu den aus dem Schriftsatz der Bevollmächtigten der Klägerin vom 25. Februar 2010 ersichtlichen Fragen mündlich gehört werden. Wegen des Ergebnisses der Befragung wird auf die Anlagen zur Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 2. September 2010 verwiesen. Die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt dieser Aktenstücke Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung in dem zuletzt noch geltend gemachten Umfang (ab 1. Mai 2007 aufgrund eines am 2. April 2007 eingetretenen Leistungsfalls). Der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung setzt nach § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der hier anwendbaren, seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung neben den sogenannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 43 Abs. 1 Nr. 2 und 3, Abs. 2 Nr. 2 und 3, Abs. 4 bis 6 SGB VI) voraus, dass der Versicherte entweder voll oder teilweise erwerbsgemindert ist (§ 43 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Nach dem Ergebnis der durchgeführten Ermittlungen ist allenfalls das Gutachten des auf Antrag der Klägerin gehörten Sachverständigen Dr. F geeignet, zum Nachweis eines Leistungsfalls der vollen oder teilweisen Erwerbsminderung zu dienen. Die für einen Nachweis erforderliche, an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit eines eingetretenen Leistungsfalls vermittelt das Gutachten jedoch auch nach der ergänzenden Befragung des Sachverständigen Dr. F in der mündlichen Verhandlung am 2. September 2010 nicht. Zum einen können seine Feststellungen zur quantitativen Minderung des Leistungsvermögens nicht aus den erhobenen Befunden nachvollzogen werden. Zum anderen tragen – letztlich als Folge davon –Umstände die Einschätzung zum Leistungsvermögen nicht, die er selbst als maßgeblich bei seiner bio-psycho-sozialen Gesamtwürdigung herausstellt, während er im übrigen ausdrücklich angibt, "im Grunde genommen" nicht von den vorhandenen medizinischen Unterlagen abzuweichen, sondern lediglich durch "Erweiterung" im Rahmen seiner Untersuchung zu neuen Erkenntnissen gekommen sein. Die von der Beklagten bereits im schriftlichen Verfahren geäußerte Kritik, dass sich die von der Klägerin angegebenen Beschwerden praktisch wortgleich als "Befunde" wiederfinden und nicht auf ihre Plausibilität hin diskutiert werden, ist dem Gutachten von Dr. F auch weiterhin entgegenzuhalten. Dies noch umso mehr, als der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung vom 2. September 2010 selbst eingeräumt hat, dass Simulation und Aggravation bei der Feststellung von Schmerzen entgegen seinen Angaben im Gutachten nicht durch das von ihm angewendete Untersuchungsverfahren ausgeschlossen werden können. Das von ihm angenommene Leistungsvermögen lässt sich nicht allein dadurch begründen, dass es auf einer "bio-psycho-sozialen" Betrachtung des Zusammenwirkens der verschiedenen festgestellten Leiden beruhe. Dies ist zum einen unabhängig von den verwendeten Begrifflichkeiten keine Besonderheit seines Vorgehens; vielmehr ist es die Aufgabe jedes Sachverständigen, etwaige Auswirkungen von Krankheiten – auch solchen außerhalb des eigenen Fachgebiets – nicht nur isoliert zu bewerten, sondern auch auf etwaige, gegenseitige Beeinflussungen sowie generell auf die Arbeitsmarktrelevanz einer Erkrankung einzugehen. Zum anderen kann auch eine "bio-psycho-soziale" Betrachtungsweise nur auf Krankheitsbildern aufbauen, die als solche nachgewiesen sind und die ebenso nachweisbar nicht nur vorübergehende Auswirkungen auf das Leistungsvermögen haben können. Der von Dr. F als dominierend angesehene psychische Zustand rechtfertigt vor diesem Hintergrund die von ihm gezogenen Schlüsse für das Leistungsvermögen nicht. Das ergibt sich – jedenfalls nach der mündlichen Erläuterung im Termin am 2. September 2010 – aus dem Gutachten der von Amts wegen tätig gewordenen Sachverständigen G. Unabhängig davon, ob für ein sozialmedizinisches Gutachten im Interesse der besseren Vergleichbarkeit (und Arbeitserleichterung für spätere Gutachter und Sachverständige) zu fordern ist, dass Diagnosen nach der international gebräuchlichen Systematisierung des ICD-10 angegeben werden, verweist sie nachvollziehbar und damit überzeugend darauf, dass der Sachverständige Dr. F keine Anknüpfungstatsachen benennt, die eine schwerwiegende psychische Erkrankung, wie von ihm gesehen, rechtfertigen würden. Es leuchtet im besonderen ein, wenn sie als zusätzlichen Beleg für ihre Auffassung den zeitlichen Umfang der Untersuchung am ersten Untersuchungstag bei Dr. F (2. April 2007) und seine Angabe ansieht, dass sich eine intensive Arbeitssituation habe herstellen lassen. Wie sich unter diesen Umständen die von ihm angegebenen deutlichen Konzentrationsstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen sowie eine Umstellungserschwertheit haben feststellen lassen, erschließt sich nicht. Vielmehr spricht die Untersuchungsssituation, in der nach seinen Angaben viel Zeit für die Übersetzung und die Klärung von Begrifflichkeiten habe aufgewendet werden müssen, umgekehrt gerade dafür, dass Aufmerksamkeit und Konzentration der Klägerin besonders gefordert waren und von ihr aufrecht erhalten werden konnten; letztlich hat Dr. F im übrigen selbst eingeräumt, dass die Leistungsfähigkeit der Klägerin in der Untersuchungssituation (jedenfalls) den Schluss rechtfertige, dass bei ihr keine dauerhafte Leistungsminderung vorliege. Ebensowenig rechtfertigt das von Dr. F herausgestellte extrapyramidale Syndrom in Form einer Dyskinesie mit Dystonie, die sich im oromandibulären Bereich mit zusätzlichem Trismus [anfallsartig] projiziert, als solches die Schlussfolgerung, dass das Leistungsvermögen in rentenberechtigendem Maß gemindert ist. Auch wenn sowohl der Sachverständige als auch die Behandler anlässlich der Vorstellung der Klägerin in der Ambulanz für Bewegungsstörungen der Charité am 29. März 2007 jeweils eine funktionelle Kiefersperre nach plötzlichen tonischen Verkrampfungen der Kaumuskulatur beobachten konnten, so gab es keinen Hinweis darauf, dass sich dieses Geschehen – wie gegenüber Dr. F und der C angegeben – im Monat regelmäßig mehrfach wiederholt und sogar mehrere Tage anhält. In der mündlichen Verhandlung war vielmehr lediglich davon die Rede, dass es unvorhersehbar und unregelmäßig zu solchen tonischen Verkrampfungen komme. Ebenso war berichtet worden, dass der Klägerin ein ihr verordnetes Medikament auch während eines akuten Krampfzustandes noch zugeführt werden kann. Selbst wenn eine – auch im Bericht der C vom 9. Oktober 2009 anlässlich der zweiten Vorstellung in der Ambulanz für Bewegungsstörungen weiterhin nur als "Verdacht" bezeichnete – paroxysmale non-kinesiogene Dyskinesie mit oromandibulärer Dystonie und Trismus gesichert wäre und die Klägerin daran hindern würde, akut eine Verrichtung fortzusetzen oder aufzunehmen, so hätte dies lediglich zur Folge, dass mit gelegentlichen Zeiten der Arbeitsunfähigkeit zu rechnen wäre. Nicht ersichtlich ist dagegen, dass derartige Zeiten gehäuft und regelmäßig anfallen und damit eine Beschäftigung unter betriebsüblichen Bedingungen ausgeschlossen wäre (s. dazu BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr. 14). Dies noch umso weniger, als die Klägerin sich in der spezialisierten Ambulanz für Bewegungsstörungen nur zweimal im Abstand von mehr als zweieinhalb Jahren vorgestellt hat (obwohl 2007 um Wiedervorstellung nach drei Monaten zur Therapiekontrolle gebeten worden war) und stationäre oder Notfallbehandlungen, die bei einer mehrtätigen andauernden Kiefersperre angesichts des Unvermögens zur Nahrungsaufnahme und zur mündlichen Artikulation zu erwarten wären, ersichtlich nicht stattgefunden haben; dies lässt den Schluss zu, dass die Erkrankung medikamentös binnen kurzer Frist angemessen behandelt werden kann. Ein überzeugendes Bild vom Leistungsvermögen der Klägerin für den noch geltend gemachten Zeitraum vermitteln dagegen sowohl das Gutachten von Dr. B als auch das der Sachverständigen G unter Berücksichtigung ihrer ergänzenden Ausführungen in der mündlichen Verhandlung vom 2. September 2010. Speziell bei Dr. B lässt sich jederzeit erkennen, wodurch eine von ihm festgestellte Leistungseinschränkung bedingt ist bzw. warum ein Krankheitsbild keine Leistungseinschränkung begründet. Er setzt sich umfassend mit den aus den Akten ersichtlichen medizinischen Unterlagen auseinander und stellt diese in Zusammenhang mit seinen eigenen Untersuchungsergebnissen. Das Gutachten der Sachverständigen G enthält zwar keine derartig ausführlichen Erörterungen wie das von Dr. B. Trotzdem ist es entgegen der Auffassung der Klägerin brauchbar und plausibel. Ihre von Dr. F abweichenden Diagnosestellungen im psychiatrischen Bereich und ihre Einschätzungen des Leistungsvermögens überzeugen. Sie kann begründet darauf verweisen, dass sich in der Untersuchungssituation bei ihr und anhand der Aktenlage keine Hinweise auf eine wesentlich leistungsmindernde psychische Erkrankung der Klägerin ergeben haben. Weder hat die Klägerin – wie dies bei entsprechendem Leidensdruck zu erwarten gewesen wäre – selbst Beschwerden oder Einschränkungen vorgetragen, die Anlass für eine weitergehende Exploration gegeben hätten, noch vermittelte sie, umgekehrt, den Eindruck, dass sie gerade aus Krankheitsgründen nicht dazu in der Lage gewesen wäre und deshalb Nachfragen erforderlich gewesen wären. Im besonderen hat sich danach nicht ergeben, dass die Klägerin an einem generalisierten Schmerzsyndrom leidet. Überzeugend ist auch die mündliche Erläuterung der Sachverständigen, dass aus dem Ergebnis des "Drei-Begriffe-Tests" nicht der Schluss gezogen werden kann, die Klägerin leide an schwerwiegenden Aufmerksamkeits- oder Konzentrationsstörungen: Da es sich um eine offenkundige Prüfungsaufgabe handelt, ist es plausibel, dass ihr "Nichtbestehen" dann als (unbedenkliche) Verdeutlichung zu werten ist, wenn der sonstige Verlauf des Untersuchungsgesprächs keinen Hinweis auf ein pathologisches Geschehen gibt. Anhaltspunkte dafür, dass die Sachverständige ihre Erkenntnisse auf unzureichender tatsächlicher Grundlage gewonnen hat, ergeben sich nicht. Im besonderen ist widerlegt, dass die Untersuchung – wie die Klägerin vorgetragen hat – lediglich eine Stunde gedauert hat (tatsächlich waren es, wie sich aus der Abrechnung der beigezogenen Dolmetscherin ergibt, drei Stunden und vierzig Minuten).

Ausgehend von den Gutachten der Sachverständigen Dr. B und G ist die Klägerin jedenfalls noch in der Lage, täglich sechs und mehr Stunden leichte körperliche Arbeiten überwiegend im Sitzen oder sonst im Wechsel von Gehen, Sitzen und Stehen ohne zeitliche Vorgabe zu verrichten, soweit diese Arbeiten in geschlossenen, normal temperierten Räumen, ohne Zwangshaltungen, festgelegten Arbeitsrhythmus und Zeitdruck sowie nicht an laufenden Maschinen und nicht in Nachtschichten verrichtet werden und nicht mit dem Heben oder Tragen von Lasten über 5 kg verbunden sind. Damit steht ihr der allgemeine Arbeitsmarkt weiterhin offen. Nichts anderes ergibt sich daraus, dass die Klägerin Analphabetin ist. Selbst damit bliebe ihr das weite Feld manueller Tätigkeiten erhalten, die nach mündlicher Anweisung ausgeführt werden und damit weder Lesen noch Schreiben erfordern (s. BSG SozR 4-2600 § 44 Nr. 1). Unabhängig davon ist sie mit ihrem verbliebenen Leistungsvermögen noch in der Lage, eine Tätigkeit als Versandfertigmacherin zu verrichten. Es handelt sich um eine körperlich leichte Arbeit, die im Wechsel der Haltungsarten verrichtet wird. Arbeiten in Zwangshaltungen, im Bücken, Hocken oder Knien oder Überkopfarbeiten fallen nicht an. Das Arbeitstempo wird nicht fremdbestimmt, es handelt sich nicht um Teamarbeit und nennenswerte Anforderungen an Fingergeschicklichkeit, Reaktionsvermögen oder Aufmerksamkeit werden nicht gestellt (s. etwa Urteil des Senats vom 18. Dezember 2009 – L 8 R 1344/07) Dementsprechend ist auch die Fähigkeit zu Lesen und Schreiben nicht von Bedeutung. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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