L 18 AS 1409/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 29 AS 2194/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 1409/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 7. Juli 2010 aufgehoben. Die Sache wird zur Verhandlung und erneuten Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) für die Zeit vom 1. September 2009 bis 31. Januar 2010 im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Abs. 1 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X).

Der Beklagte bewilligte ua der Klägerin und ihrem seinerzeit mit ihr in einer gemeinsamen Wohnung lebenden Ehemann J H (im Folgenden: H.) mit Bescheid vom 13. Juli 2009 SGB II-Leistungen für die Zeit vom 1. August 2009 bis 31. Januar 2010 in einer Gesamthöhe von 815,17 EUR monatlich. Mit Änderungsbescheid vom 28. Juli 2009 hob der Beklagte den Bescheid vom 13. Juli 2009 für die Zeit vom 1. August 2009 bis 31. Oktober 2009 auf und bewilligte insoweit monatliche Gesamtleistungen iHv 783,17 EUR. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 3. August 2009 gewährte der Beklagte unter teilweiser Aufhebung der bisherigen Bewilligung für die Zeit vom 1. September 2009 bis 31. Oktober 2009 Leistungen in einer Gesamthöhe von 142,84 EUR monatlich und vom 1. November 2009 bis 31. Januar 2010 in einer Gesamthöhe von monatlich 174,48 EUR. Die genannten Bescheide erwuchsen in Bestandskraft.

Auf den Überprüfungsantrag der Klägerin (Schreiben vom 22. September 2009) lehnte der Beklagte eine Rücknahme des Bescheides vom 3. August 2009 ab (Bescheid vom 22. Oktober 2009 in der Gestalt des am 19. November 2009 abgesandten Widerspruchsbescheides vom 19. November 2009). Auf die Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheides wird Bezug genommen.

Das Sozialgericht (SG) Cottbus hat die auf Gewährung höherer Leistungen für die Zeit vom 1. September 2009 bis 31. Januar 2010 gerichtete Klage mit Gerichtsbescheid vom 7. Juli 2010 – unter gleichzeitiger Ablehnung des Prozesskostenhilfeantrags der Klägerin - abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei unzulässig, da sie nicht innerhalb der Klagefrist von einem Monat iS des § 87 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erhoben worden sei. Der angefochtene und am 19. November 2009 abgesandte Widerspruchsbescheid gelte gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X als am 22. November 2009 (Sonntag) bekannt gegeben. Die Klagefrist habe somit am 23. November 2009 begonnen und am 22. Dezember 2009 geendet. Die Klage sei jedoch erst am 28. Dezember 2009 beim SG eingegangen. Eine Wiedereinsetzung der Klägerin in die Klagefrist komme nicht in Betracht, da ausweislich des Poststempels die Klageschrift erst am 23. Dezember 2009 zur Post gelangt sei. Selbst bei einer Aufgabe am 21. Dezember 2010 hätte die Klägerin aber auch wegen der bevorstehenden Feiertage nicht darauf vertrauen dürfen, dass der Brief noch am nächsten Tag zugestellt würde.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie trägt vor, sie könne für die Arbeitsweise der Post nicht verantwortlich gemacht werden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 7. Juli 2010 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 22. Oktober 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2009 zu verpflichten, ihr unter entsprechender Änderung des Bescheides vom 3. August 2009 für die Zeit vom 1. September 2009 bis 31. Januar 2010 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Im Übrigen stünden der Klägerin für den in Rede stehenden Zeitraum keine höheren Leistungen zu, da sie mit ihrem Ehemann weiterhin in einer Bedarfsgemeinschaft gelebt habe.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl §§ 124 Abs. 2, 155 Abs. 3 und 4 SGG).

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des SG-Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG begründet. Das erstinstanzliche Urteil leidet an wesentlichen Verfahrensmängeln. Das SG hat ein Prozessurteil erlassen, obwohl die Sachurteilsvoraussetzungen vorlagen. Das SG hat in der Folge den entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht ausreichend geklärt und damit gegen die ihm obliegende Amtsermittlungspflicht verstoßen (vgl. §§ 103, 106 SGG). Es hat zudem verfahrensfehlerhaft über den Antrag auf Prozesskostenhilfe (PKH) gleichzeitig mit der die Instanz beendenden Entscheidung befunden.

Das SG hat hinsichtlich der im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X zu prüfenden Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 3. August 2009 und der in diesem Rahmen streitigen Höhe der Leistungsansprüche der Klägerin für die Zeit vom 1. September 2009 bis 31. Januar 2010 den entscheidungserheblichen Sachverhalt, insbesondere die tatbestandliche Voraussetzung, in welchem Umfang die Klägerin hilfebedürftig im Sinne von § 9 SGB II ist, nicht hinreichend aufgeklärt. Es durfte von dieser Klärung nicht schon deshalb absehen, weil es die Klage wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig angesehen hat. Denn die Klagefrist gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 iVm Abs. 2 SGG begann nach § 66 Abs. 1 SGG nicht zu laufen, weil der angefochtene Widerspruchsbescheid vom 19. November 2009 nicht mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehen war. Es gilt daher vorliegend die – von der Klägerin jedenfalls gewahrte - Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG. Hat – wie hier – ein Vorverfahren stattgefunden, beginnt die Frist nach § 87 Abs. 2 SGG mit der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides. Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt bei Übermittlung durch die Post im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, auch wenn dieser Tag auf einen Samstag, Sonntag (wie hier) oder Feiertag fällt (vgl BSG, Urteil vom 6. Mai 2010 – B 14 AS 12/09 R – juris). Einen entsprechenden Hinweis auf den Inhalt des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X enthielt der angefochtene Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 19. November 2009 jedoch nicht (vgl zu diesem Erfordernis BSG aaO Rn 9). In der Rechtsbehelfsbelehrung wird vielmehr allein darauf verwiesen, dass innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids Klage eingereicht werden kann. Diese Rechtsmittelbelehrung ist unvollständig und damit unrichtig iSv § 66 Abs. 2 SGG, und zwar schon deshalb, weil seinerzeit die Frage der Fristberechnung nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X bei Bekanntgabe an einem Sonntag noch nicht höchstrichterlich geklärt war und im Übrigen von einem nicht rechtskundigen Adressaten nicht erwartet werden kann, dass er den Unterschied zwischen tatsächlicher Bekanntgabe iS der persönlichen Entgegennahme des Schriftstücks und der Fiktion der Bekanntgabe nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X kennt. Das SG hätte die Klage daher nicht durch Prozessurteil als unzulässig abweisen dürfen, was alleine bereits einen wesentlichen Verfahrensfehler darstellt.

Es hätte vielmehr die von der Klägerin geltend gemachten Klageansprüche inhaltlich prüfen und hierzu u.a. Feststellungen dazu treffen müssen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Klägerin in dem streitigen Zeitraum hilfebedürftig war, und zwar für die Zeit vom 1. September 2009 bis 31. Januar 2010. Hieraus hätte sich ergeben, ob und in welchem Umfang der Beklagte zur Aufhebung bzw Änderung des Bescheides vom 3. August 2009 und ggf zur Gewährung weiterer Leistungen als der mit diesem Bescheid bereits bewilligten im Zugunstenverfahren zu verpflichten gewesen wäre.

Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere nicht von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II). Bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen (§ 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Das SG hat insoweit zu klären, ob zwischen der Klägerin und H. im streitigen Zeitraum eine Bedarfsgemeinschaft bestand. Es muss sich daher im vorliegenden Einzelfall (vgl § 103 SGG) sämtlicher ihm zur Verfügung stehender Ermittlungsmöglichkeiten bedienen, um diese – entscheidungserhebliche – Rechtsfrage zu klären. Hierzu dürfte eine Vernehmung des H. als Zeuge angezeigt sein. Bei Annahme einer Bedarfsgemeinschaft, für die auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des Senats in dem Beschluss vom 16. Juni 2010 – L 18 AS 967/10 B ER – gewichtige Anhaltspunkte sprechen, hat das SG bei der Beurteilung der erhobenen Ansprüche nachvollziehbar zu entscheiden, welcher Bedarf für die einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft in den jeweiligen streitigen Bewilligungsmonaten zugrunde zu legen ist und welches zu berücksichtigende Einkommen bzw. Vermögen des H. jeweils in welcher Höhe zu berücksichtigen ist. Entsprechende Feststellungen hat das SG bislang nicht getroffen.

Schließlich hat das SG gegen den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl § 62 SGG) verstoßen, indem es zugleich mit der Endentscheidung über den PKH-Antrag der Klägerin entschieden hat (vgl hierzu BSG, Urteil vom 4. Dezember 2007 – B 2 U 165/06 B = SozR 4-1500 § 62 Nr 9). Denn bei einer rechtzeitigen Entscheidung hätte das SG eine hinreichende Erfolgsaussicht schon deshalb nicht verneinen dürfen, weil die Klagefrist nicht versäumt war und zur Klärung der Sach- und Rechtslage weitere Ermittlungen von Amts wegen erforderlich waren, zB eine Vernehmung des H. als Zeuge.

Die aufgeführten Mängel des erstinstanzlichen Urteils stellen wesentliche Verfahrensmängel dar. Denn es ist davon auszugehen, dass Mängel bei der Prüfung der Sachurteilsvoraussetzungen und bei der Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts ebenso wie die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör regelmäßig auch Mängel bei den Erwägungen auf dem Wege zum Urteilsspruch gewesen sind. Die Sache war daher nach pflichtgemäßem Ermessen nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG an das SG zurückzuverweisen. Dabei ist insbesondere das Interesse der Klägerin an einer sachgerechten Prozessführung, einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung und einer vollständigen und auch hinreichend begründeten Prüfung der von ihr geltend gemachten Klageansprüche bereits durch das erstinstanzliche Gericht berücksichtigt worden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem SG vorbehalten.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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