L 1 KR 275/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 84 KR 2911/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 275/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit steht die Rentenversicherungspflicht der Beschäftigung des Beigeladenen zu 1) (nachfolgend nur noch "der Beigeladene") in seiner Tätigkeit für die Beigeladene zu 2) (nachfolgend nur "die Beigeladene") für die Zeit ab 1. Januar 1995.

Die Beigeladene ist ein Frachtunternehmen, welches seit 1. Januar 1995 vom Bruder des Beigeladenen als Einzelunternehmen geführt wird. Zuvor war das Unternehmen unter der Firma J Transporte eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts gewesen. Der Beigeladene studierte Maschinenbau und ist nach erfolgreichem Abschluss seit dem 1. August 1994 bei der Beigeladenen als technischer und kaufmännischer Betriebsleiter tätig. Er ist als Prokurist im Handelsregister eingetragen. Grundlage der Tätigkeit ist der Arbeitsvertrag vom 29. Januar 1996. Danach ist der Beigeladene als kaufmännisch-technischer Leiter angestellt zu einem betriebsüblichen Lohn von 5.000,00 DM brutto. Die Arbeitszeit richtet sich nach den im Betrieb anfallenden Arbeitsaufträgen.

Der Beigeladene, der bei der Beklagten krankenversichert ist, beantragte im Februar 2006 bei dieser die Überprüfung seines sozialversicherungsrechtlichen Status. Im Feststellungsbogen zur versicherungsrechtlichen Beurteilung eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen Angehörigen gaben der Beigeladenen und die Beigeladene unter dem Datum 26. Februar 2007 an, dass der Beigeladene in der Geschäftsleitung an 5-6 Arbeitstagen pro Woche 50-60 Stunden wöchentlich nach Belieben arbeite und regelmäßiges monatliches Arbeitsentgelt von 3.939,31 Euro brutto sowie Weihnachtsgeld. Zu seinen Aufgaben gehöre die technische und kaufmännische Betriebsleitung, Personalauswahl, -führung und –einteilung, Zahlungsverkehr und Bankgeschäfte, Gespräche und Verhandlungen mit Lieferanten, Bank und Steuerbüro, Kontrolle der Arbeitssicherheit, Fahrzeugbeschaffung, Fuhrparkkontrolle und vieles mehr. Der Beigeladene wirke bei der Führung des Betriebes mit, die Mitarbeit sei aufgrund familienhafter Rücksichtnahme durch ein gleichberechtigtes Nebeneinander zum Betriebsinhaber geprägt. Der Urlaubsanspruch betrage 24 Arbeitstage, könne aber nie voll ausgeschöpft werden. Die Kündigungsfrist betrage derzeit vier Monate und steige mit Betriebszugehörigkeit. Das Arbeitsentgelt entspreche nicht dem ortsüblichen. Es sei individuell entsprechend der hohen Verantwortung und dem Arbeitsumfang vereinbart worden. Überstunden und nicht genommenen Urlaubstagen blieben unvergütet. Das Arbeitsentgelt werde regelmäßig gezahlt auf ein privates Bankkonto überwiesen, von ihm werde Lohnsteuer entrichtet und es werde als Betriebsausgabe verbucht. Der Beigeladene hatte bereits dem Vorgängerunternehmen der Beigeladenen am 20. Juli 1994 per Darlehensvertrag ein Darlehen über 75.000,00 DM eingeräumt. Er schloss unter dem 29. Januar 1996 einen weiteren Darlehensvertrag mit der Beigeladenen über 14.500,00 DM ab. Ferner verpfändete er der Haubank der Beigeladenen Pfandbriefe über 92.000,00 Euro zur Sicherung des Aval- sowie des Kontokorrentkreditkontos einschließlich der Überziehungen.

Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 27. Juni 2007 fest, dass der Beigeladene im Rahmen familienhafter Mitarbeit im Unternehmen seines Bruders seit 1. Januar 1995 versicherungsfrei sei. Sie übersandte ihren Bescheid auch an die Klägerin mit der (richtigen) Rechtsbehelfsbelehrung, dass Klage erhoben werden könne. Der Bescheid ging bei der Klägerin am 2. August 2007 ein.

Diese hat am 21. August 2007 Klage vor dem Sozialgericht Berlin (SG) erhoben.

Der Beigeladene hat im gerichtlichen Verfahren vorgebracht, unternehmerische Entscheidungen treffe er zusammen und einvernehmlich mit seinem Bruder. Jener hat vorgetragen, da er selbst überwiegend als Fahrer unterwegs sei, führe der Beigeladene völlig weisungsfrei und selbstständig das Unternehmen. Auf ihn und seine Tätigkeit sei hauptsächlich zurückzuführen, dass es gewachsen sei und inzwischen 50 Arbeitnehmer beschäftige.

Mit Urteil vom 16. Juni 2010 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 27. Juli 2007 aufgehoben und festgestellt, dass der Beigeladene in seiner Tätigkeit für den Beigeladenen ab dem 1. Januar 1995 der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegt. Es überwögen die Merkmale abhängiger Beschäftigung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV). Der Beigeladene sei kein faktischer Alleininhaber. Dies sei vielmehr nach wie vor sein Bruder als Betriebsinhaber, auch wenn er als Fahrer überwiegend ortsabwesend sei. Der Beigeladene sei aufgrund eines typischen, arbeitsverträglich festgelegten Beschäftigungsverhältnisses, welches auch gelebt werde, tätig. Dass die wöchentliche Arbeitszeit sehr hoch sei und er seinen Urlaubsanspruch nicht voll ausschöpfe, sei für ein Familienunternehmen nicht untypisch.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Beigeladenen: Die Aufhebung eines einem Betroffenen gegenüber bestandskräftigen Bescheides sei nur unter Beachtung des Vertrauensschutzes in den engen Grenzen des § 49 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) möglich, soweit eine zulässige Drittanfechtung vorliege. Die Klägerin hier habe jedoch bereits keine Klagebefugnis gehabt. Sie habe auf diese aufgrund der "Gemeinsamen Verlautbarung zur Behandlung von Beitragsbescheiden durch die am gemeinsamen Beitragseinzug beteiligten Versicherungsträger vom 29. März 2001" auf Beteiligung und Anfechtung von Beurteilungsbescheiden der Einzugsstellung verzichtet. Die ungeachtet dessen erfolgte Klage sei treuwidrig. Auch § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV schließe ein Klagerecht des Rentenversicherungsträgers aus.

Entscheidungsgründe:

Es konnte im Beschlusswege nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden werden. Die Beteiligten sind auf die Absicht, so vorzugehen, mit Verfügung vom 8. November 2010 hingewiesen worden.

Die Berufung hat keinen Erfolg. Das SG hat der Klage zu Recht stattgefunden. Der Senat verweist zur Vermeidung bloßer Wiederholungen auf die Ausführungen im angegriffenen Urteil, § 153 Abs. 2 SGG.

Die Klage ist hier rechtzeitig innerhalb eines Monats erfolgt. Die Ausführungen der Beigeladenen zur Jahresfrist gehen am konkreten Fall vorbei.

Dass die Klägerin (über ihren damaligen Spitzenverband) und mit Wirkung für Versicherte generell auf ein Klagerecht verzichtet haben könnte, hält der Senat für einen fern liegenden Gedanken. Denn die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid im Sinne des § 54 Abs. 1 und Abs. 2 SGG beschwert und deshalb zur Klage befugt. Sie kann wie alle anderen Versicherungsträger ihre Belange gegenüber der Einzugsstelle wahrnehmen. Dem steht auch § 28p Abs. 1 S. 5 SGB IV nicht entgegen. Speziell für die hier betroffene Rentenversicherung kommt hinzu, dass ihre Leistungen wesentlich von der Beitragsentrichtung abhängen und diese durch etwaige Schadensersatzansprüche des Rentenversicherungsträgers gegen die Einzugsstelle nicht gesichert wird (vgl. ausführlich BSG, Urteil vom 1. Juli 1999 - B 12 KR 2/99R - BSGE 84, 136,139ff).

Die Klage ist begründet:

Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV. Danach ist Beschäftigung die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt. Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (zur Verfassungsmäßigkeit dieser Abgrenzung Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 20. Mai 1996 - 1 BvR 21/96 - SozR 3-2400 § 7 Nr. 11). Maßgebend ist stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung. Das Gesamtbild bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinne sind die rechtlich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängigen Beschäftigung erlauben. Ob eine "Beschäftigung" vorliegt, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten so wie es im Rahmen des rechtlich Zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist. Ausgangspunkt ist daher zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zu ursprünglich getroffenen Vereinbarungen stehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolgerung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung gehen der nur formellen Vereinbarung vor. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechts unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abbedungen ist. Zu den tatsächlichen Verhältnissen in diesem Sinne gehört daher unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht (BSG-Urteile vom 8. August 1990, 11 RAr 77/89, SozR 3-2400 § 7 Nr. 4 Seite 14 und vom 8. Dezember 1994, 11 RAr 49/94, SozR 3-4100 § 168 Nr. 18 Seite 45) (so insgesamt weitgehend wörtlich BSG, Urteil vom 25. Januar 2006 - B 12 KR 0/04 R - Juris). Weist eine Tätigkeit Merkmale auf, die sowohl auf Abhängigkeit als auch auf Selbständigkeit hinweisen, so ist entscheidend, welche Merkmale überwiegen (BSG, Urteil vom 23. Juni 1994 - 12 RK 72/92 - NJW 1994, 2974, 2975) und der Arbeitsleistung das Gepräge geben (BSG, Beschluss vom 23. Februar 1995 - 12 BK 98/94 -). Auch die Grenze zwischen einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis mit Entgeltzahlung und einer nichtversicherungspflichtigen Mitarbeit aufgrund einer familienhaften Zusammengehörigkeit ist unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles zu ziehen. Es ist eine Würdigung der Gesamtumstände erforderlich, ob ein Beschäftigungsverhältnis zwischen den Angehörigen ernsthaft und eindeutig gewollt, entsprechend vereinbart und in der Wirklichkeit auch vollzogen wurde (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2002 - B 7 AL 34/02 R - USK 2002 - 42). Auch hier gilt, dass nicht die Vereinbarungen der Beteiligten, sondern die tatsächlichen Verhältnisse den Ausschlag geben (BSG SozR 2200 § 1227 Nrn. 4 und 8). Nach der Rechtssprechung des BSG, der der Senat folgt, ist bei Fremdgeschäftsführern einer GmbH regelmäßig eine abhängige Beschäftigung anzunehmen und nur in begrenzten Einzelfällen hiervon abzusehen. Ein solcher Ausnahmefall kann bei Familienunternehmen vorliegen, wenn die familiäre Verbundenheit der beteiligten Familienmitglieder zwischen ihnen ein Gefühl erhöhter Verantwortung schafft, die zum Beispiel dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Höhe der Bezüge von der Ertragslage des Unternehmens abhängig gemacht wird oder wenn es aufgrund der familienhaften Rücksichtnahme an der Ausübung eines Direktionsrechts völlig mangelt. Hiervon ist insbesondere bei demjenigen auszugehen, der - obwohl nicht maßgeblich am Unternehmenskapital beteiligt - aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehungen faktisch wie ein Alleininhaber die Geschäfte des Unternehmens nach eigenem Gutdünken führt (vgl. BSG Urteil vom 8. Dezember 1987 - 7 Rar 25/86 BB 1989,72; Urteil vom 14. Dezember 1999 - B 2 U 48/98 R USK 9975).

Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ist das SG zutreffend von einem Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB IV ausgegangen. Für abhängige Beschäftigung spricht hier, dass ein schriftlicher Arbeitsvertrag besteht und der Beigeladene eine regelmäßige (Mindest-)Zahlung erhält. Für ihn werden Sozialversicherungsbeiträge abgeführt, und das Gehalt als Betriebsausgabe hat den Erlös des Unternehmens vermindert.

Ganz allgemein müssen und können sich Eheleute, Geschwister oder andere (Geschäfts-)Partner an die von ihnen gewählte Vertragsgestaltung auch in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht festhalten lassen. Es unterliegt nicht ihrer Disposition, die Wirkungen des Vertragsverhältnisses nach Maßgabe ihrer Individualnützlichkeit auf bestimmte Rechtsgebiete zu beschränken (BSG - Urteil vom 24. Januar 2007 - B 12 KR 31/06 R -).

Dass die Beigeladenen über die Jahre hin alle Geschäftsangelegenheiten einvernehmlich regeln, ist nach den vorgenannten Grundsätzen nicht entscheidend. Ganz allgemein kann ein ständiges und bestehendes Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht den Status als abhängig Beschäftigter aufheben. Gleiches gilt für den Umstand, dass auch Gründe für eine gegenteilige Bewertung des Status sprechen. Dies muss für das Ergebnis zur Gänze unberücksichtigt bleiben.

Die Kostenentscheidung für das Berufungsverfahren beruht auf § 193 SGG. Der Beigeladene gehört als Berufungskläger in diesem Rechtszug als Arbeitnehmer zu den kostenprivilegierten Personen im Sinne des § 183 SGG. Die Kostenentscheidung folgt dem Ausgang der Sachentscheidung.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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