L 1 KR 228/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 4 KR 108/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 228/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch die ihm entstanden außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit steht, ob der Kläger im Zeitraum vom 1. Juni 2006 bis zum 31. August 2006 versi-cherungspflichtig Beschäftigter im Unternehmen seines Bruders "F B" beschäftigt war. Er wohnt zusammen mit seinem Bruder in getrennten Wohnungen in einem Zweifamilienhaus.

Der 1969 geborene Kläger leidet seit frühester Kindheit unter anderem an spinaler Muskelatro-phie. Er erhält Leistungen der Pflegeversicherung der Pflegestufe III als Härtefall.

Der Kläger war vom 1. November 2005 im Unternehmen seines Bruders als Büroangestellter mit Bausstellenaufsicht auf der Grundlage eines Arbeitsvertrages und gegen Zahlung eines monatlichen Gehalts von 1.300 EUR beschäftigt.

Mit Bescheid vom 21. Dezember 2005 stellte die Beklagte zunächst die Versicherungspflicht des Klägers als Arbeitnehmer in der Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung fest. Mit Bescheid vom 22. Mai 2006 nahm sie diesen nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) mit Wirkung für die Zukunft zurück und erklärte, die Krankenversicherung als solche der Rentner ab 1. Juni 2006 fortzuführen. Nach den vorliegenden Gutachten sei eine 24-Stunden-Betreuung durch einen Pflegedienst bzw. durch geeignetes Personal notwendig. Dem Kläger sei somit die Ausführung der im Arbeitsvertrag festgelegten Tätigkeiten nicht möglich. Ein typisches Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis und eine Weisungsgebundenheit können aufgrund der Erkrankungen bzw. Behinderungen nicht zustande kommen.

Sie wies ferner den hiergegen erhobenen Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 2006 zurück. Hiergegen hat der Kläger am 5. Juli 2006 Klage beim Sozialgericht Frankfurt (Oder) (SG) er-hoben. Er könne im vertraglich vereinbarten Umfange auch tatsächlich arbeiten. Pflege und Arbeit verliefen gleichzeitig. Zum Beispiel könnten das Zubereiten und Reichen von Geträn-ken, Öffnen und schließen von Fenstern; Öffnen und Schließen von Jalousien, Lagerungen, An- und Auskleiden, An- und Ausschalten von Licht, Abtupfen von Schweiß und die Korrek-tur des Sitzes der Brille während der Arbeitszeit erfolgen. Er sei an die Einzelweisungen seines Bruders als Unternehmer gebunden. Er sei auch in dessen Betrieb eingegliedert. So habe er seinen Bruder im Urlaub vertreten.

Die Beklagte hat vorgebracht, es für unmöglich zu halten, das er in einem abhängigen Beschäf-tigungsverhältnis für 35 Stunden in der Woche arbeiten und zusätzlich noch eine selbständige Tätigkeit von 5 bis 10 Stunden ausüben könne, da er gleichzeitig für 14,5 Stunden am Tag mit Pflegeleistungen beschäftigt sei. Hierin seien die 60 Minuten für die Hauswirtschaft noch nicht enthalten. Sie halte auch eine Eingliederung in das Unternehmen des Bruders für nicht mög-lich.

Der Beigeladene zu 1) hat vorgetragen, dass sein Bruder bei ihm als Büroangestellter tätig ge-wesen sei und Programme zur Arbeitszeitentwicklung, zum Aufmass und zur Kalkulation er-stellt sowie die Abrechnungen vorgenommen habe. Der Kläger habe überwiegend zu Hause gearbeitet.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens durch die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Med. T. Diese hat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 11. Juni 2010 ausgeführt, dass der Kläger in der Lage sei, bei sitzender Tätig-keit die ihm übertragenen Arbeitsaufgaben auszuführen. Dies habe er ihr bereits 2006 vorge-führt. Nach ihrer Einschätzung könne er mehr als 3 Stunden bis unter 6 Stunden täglich arbei-ten, in jedem Falle mehr als 15 Stunden in der Woche. Die Grundpflege gehe in die Arbeitstä-tigkeit über. Ihm sei in jedem Falle eine Tätigkeit von mehr als 15 Stunden in der Woche zu-zumuten. Das SG hat weiter die Lebensgefährtin des Beigeladenen zu 1) als Zeugin vernom-men. Auf den Inhalt der Niederschrift der mündlichen Verhandlung wird verwiesen.

Es hat der Klage mit Urteil vom selben Tag stattgegeben und den streitgegenständlichen Be-scheid aufgehoben. Der Kläger sei abhängig Beschäftigter im Sinne des § 7 Abs. 1 Sozialge-setzbuch Viertes Buch (SGB IV). Er sei auf Grundlage eines Arbeitsvertrages beim Beigelade-nen zu 1) beschäftigt und sei in das Unternehmen auch eingebunden gewesen. Er habe dem Weisungsrecht seines Bruders unterlegen. Er habe nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen auch rein tatsächlich mindestens 15 Stunden in der Woche die ihm übertra-genen Arbeitsaufgaben ausführen können. Das Gehalt sei ihm monatlich überwiesen worden, hierauf seien Sozialversicherungsbeiträge abgeführt und Lohnsteuer entrichtet worden. Allein die festgestellten Behinderungen des Klägers machten die real ausgeführte Tätigkeit nicht zu einer nicht versicherungspflichtigen Beschäftigung oder bloßer familienhafter Mithilfe.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten.

Nach den Aussagen in der mündlichen Verhandlung müsse der Kläger regelmäßig an 7 Tagen in der Woche ohne Ruhetag gearbeitet haben. Dies sei nicht arbeitnehmertypisch und käme nur im Rahmen einer familienhaften Mithilfe vor. Auch seien Arbeiten und Wohnen untypisch für abhängige Beschäftigung nicht getrennt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 11. Juni 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er weist darauf hin, dass er schon immer überwiegend berufstätig gewesen sei, so sei er zum Beispiel von 1988 bis 1992 als Datenerfasser mit 30 Wochenstunden beschäftigt gewesen und habe gleichzeitig in dieser Zeit sein Fernstudium der Betriebswirtschaft absolviert. Von 1996 bis 2001 sei er Vollzeit als Programmierer beschäftigt gewesen. Auch derzeit (Oktober 2010) sei er mit einer Wochenarbeitszeit von 40 Stunden als Arbeitnehmer beschäftigt.

Auf die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Es konnte im Beschlusswege nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden wer-den. Die Beteiligten sind darauf in der Verfügung vom 7. Dezember 2010 und im Beschluss vom 17. März 2011 hingewiesen worden.

Der Berufung muss Erfolg versagt bleiben. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und wurde vom SG zu Recht aufgehoben. Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind, unterliegen in der Rentenversicherung der Versicherungspflicht (§ 1 Satz 1 Nr. 1 des Sozialgesetzbuches Sechstes Buch SGB VI ). Be-urteilungsmaßstab für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ist § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB IV. Danach ist Beschäftigung die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Ar-beitsverhältnis. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeit-gebers unterliegt. Demgegenüber ist eine selbständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglich-keit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeits-zeit gekennzeichnet. Ob ein Arbeitnehmer abhängig beschäftigt oder selbständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (zur Verfassungsmäßigkeit dieser Abgrenzung: Bun-desverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 20. Mai 1996 1 BvR 21/96 SozR 3 2400 § 7 Nr. 11). Maßgebend ist stets das Gesamtbild der Arbeitsleistung. Dieses bestimmt sich nach den tatsächlichen Verhältnissen. Tatsächliche Verhältnisse in diesem Sinn sind die recht-lich relevanten Umstände, die im Einzelfall eine wertende Zuordnung zum Typus der abhängi-gen Beschäftigung erlauben. Ob eine versicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt, ergibt sich aus dem Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es im Rahmen des rechtlich Zulässigen tatsächlich vollzogen worden ist. Ausgangspunkt ist daher zunächst das Vertragsverhältnis der Beteiligten, so wie es sich aus den von ihnen getroffenen Vereinbarungen ergibt oder sich aus ihrer gelebten Beziehung erschließen lässt. Eine im Widerspruch zur ursprünglich getroffenen Vereinbarung entstehende tatsächliche Beziehung und die sich hieraus ergebende Schlussfolge-rung auf die tatsächlich gewollte Natur der Rechtsbeziehung gehen der nur formellen Verein-barung vor. Umgekehrt gilt, dass die Nichtausübung eines Rechtes unbeachtlich ist, solange diese Rechtsposition nicht wirksam abgedungen ist. Zu den tatsächlichen Verhältnissen in die-sem Sinn gehört daher unabhängig von ihrer Ausübung auch die einem Beteiligten zustehende Rechtsmacht (BSG, Urteile vom 8. August 1990 11 RAr 77/89 SozR 3 2400 § 7 Nr. 4 Sei-te 14, und vom 8. Dezember 1994 11 RAr 49/94 SozR 3 4100 § 168 Nr. 18 Seite 45; so ins-gesamt weitgehend wörtlich BSG, Urteil vom 25. Januar 2006 B 12 KR 30/04 R juris).

Auf dieser Grundlage ist beispielsweise zu beurteilen, ob ein Vertreter einer juristischen Person zu dieser gleichzeitig in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis steht (so für GmbH Geschäftsführer BSG, a. a. O.).

Weist eine Tätigkeit Merkmale auf, die sowohl auf Abhängigkeit als auch auf Selbständigkeit hinweisen, so ist entscheidend, welche Merkmale überwiegen (BSG, Urteil vom 23. Juni 1994 12 RK 72/92 NJW 1994, 2974, 2975) und der Arbeitsleistung das Gepräge geben (BSG, Beschluss vom 23. Februar 1995 12 BK 98/94 ).

Auch die Grenze zwischen einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis mit Entgeltzahlung und einer nicht versicherungspflichtigen Mitarbeit aufgrund einer familienhaften Zusammen-gehörigkeit ist unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles zu ziehen. Es ist eine Würdigung der Gesamtumstände erforderlich, ob ein Beschäftigungsverhältnis zwi-schen den Angehörigen ernsthaft und eindeutig gewollt, entsprechend vereinbart und in der Wirklichkeit auch vollzogen wurde (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2002 B 7 AL 34/02 R USK 2002 - 42).

Auch hier gilt, dass nicht die Vereinbarungen der Beteiligten, sondern die tatsächlichen Ver-hältnisse den Ausschlag geben (BSG SozR 2200 § 1227 Nrn. 4 und 8).

Nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat angeschlossen hat, ist ferner bei Fremd-geschäftsführern einer GmbH regelmäßig eine abhängige Beschäftigung anzunehmen und nur in begrenzten Einzelfällen hiervon abzusehen. Ein solcher Ausnahmefall kann bei Familienun-ternehmen vorliegen, wenn die familiäre Verbundenheit der beteiligten Familienmitglieder zwischen ihnen ein Gefühl erhöhter Verantwortung schafft, die z. B. dadurch zum Ausdruck kommt, dass die Höhe der Bezüge von der Ertragslage des Unternehmens abhängig gemacht wird, oder wenn es aufgrund der familienhaften Rücksichtnahme an der Ausübung eines Direk-tionsrechts völlig mangelt. Hiervon ist insbesondere bei demjenigen auszugehen, der - obwohl nicht maßgeblich am Unternehmenskapital beteiligt - aufgrund der verwandtschaftlichen Be-ziehungen faktisch wie ein Alleininhaber die Geschäfte der Gesellschaft nach eigenem Gut-dünken führt (vgl. BSG, Urteil vom 8. Dezember 1987 7 RAr 25/86 BB 1989, 72; vom 14. Dezember 1999 B 2 U 48/98 R USK 9975).

Unter Anwendung dieser Grundsätze hat das SG hier richtig angenommen, dass die überwie-gende Anzahl von Merkmalen für eine abhängige Beschäftigung sprechen. Der Senat verweist auf die zutreffende Begründung im angefochtenen Urteil, § 153 Abs. 2 SGG. Auch der Senat zweifelt nicht daran, dass der Kläger tatsächlich arbeiten konnte. Tätigkeiten zu Hause sind heutzutage keine Seltenheit und kein entscheidendes Indiz für Selbstständigkeit. Familienhafte Mitarbeit liegt vor, wenn die Tätigkeit in Erfüllung familienrechtlichen Unter-haltspflichten geleistet wird. Solche bestehen zwischen dem Kläger und seinem Bruder nicht.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG und entspricht dem Verfahrensausgang. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vor-liegen.
Rechtskraft
Aus
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