Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 3 KR 290/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 182/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein - hier: aufgrund amyotropher Lateralsklerose - unter Stimmverlust leidender Versicherter hat grundsätzlich Anspruch auf Versorgung mit einem elektronischen Sprachausgabesystem, bei dem die in gesundem Zustand aufgezeichnete eigene Stimme des Versicherten zum Einsatz kommt.
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 21. April 2009 sowie der Bescheid der Beklagten vom 9. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. November 2007 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger 600,00 Euro für die Aufzeichnung seiner Stimme für das Kommunikati-onsprogramm "meine eigene Stimme" zu erstatten sowie ihn mit diesem Programm zu versorgen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das gesamte Verfahren zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten für die Versorgung mit dem elektroni-schen Sprachausgabesystem "meine eigene Stimme" (Preis: 2.600 Euro) sowie Kos-tenerstattung in Höhe von 600 Euro für die bereits erfolgte Aufzeichnung seiner eige-nen Stimme.
Der im Jahre 1966 geborene Kläger leidet unter Amyotropher Lateralsklerose (ALS). Die Krankheit wurde im Jahre 2004 bei ihm festgestellt. Eine der vielen gravierenden Folgen der Erkrankung besteht in der Lähmung der Sprechmuskulatur mit der Folge von Sprechstörungen bis hin zum völligen Verlust der eigenständigen Artikulations-möglichkeit.
Mit Schreiben seines behandelnden Arztes Dr. T M, Oberarzt im CC für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie (ALS-Ambulanz nach § 116 b SGB V), vom 26. Febru-ar 2007, eingegangen bei der Beklagten am 28. August 2007, beantragte der Kläger die Übernahme der Kosten für die Aufzeichnung seiner eigenen Stimme und für das elektronische Kommunikationsprogramm "meine eigene Stimme", das im Falle des Stimmverlusts über entsprechende Hardware die apparativ vermittelte Artikulation des Klägers mittels seiner eigenen Stimme ermöglicht. Herkömmliche Systeme ermögli-chen lediglich die Artikulation mittels einer synthetischen Stimme.
Mit Bescheid vom 9. Oktober 2007, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 27. November 2007, lehnte die Beklagte die begehrte Kostenübernahme ab. Eine Versorgung mit dem beantragten Produkt übersteige das Maß des Notwendigen. Eine Kommunikationshilfe mit synthetischer Sprachausgabe sei im Sinne eines Basisaus-gleichs gegebenenfalls ausreichend.
Mit der am 20. Dezember 2007 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren wei-terverfolgt.
Zu Beginn des Jahres 2008 hat der Kläger gegen Zahlung von 600 Euro seine Stim-me vom Hersteller des Programms "meine eigene Stimme" aufnehmen lassen, um sich die Möglichkeit zu erhalten, dieses Programm später nutzen zu können; insoweit begehrt er nun Kostenerstattung. Seit dem Ende des Jahres 2008 ist der Kläger auf-grund eingetretenen Stimmverlusts auf ein Sprachausgabesystem als Hilfsmittel zur Kommunikation angewiesen; das ihm von der Beklagten zur Verfügung gestellte Hilfsmittel funktioniert mit einer synthetischen Stimme.
Der Kläger meint, weitestgehender Behinderungsausgleich sei nur mit dem Gebrauch der eigenen Stimme gewährleistet. Mit einer synthetischen Stimme gehe die Indivi-dualität der Stimme sowie ein wichtiges Identifizierungsmerkmal verloren. Das allge-meine Persönlichkeitsrecht schütze den Gebrauch der eigenen Stimme.
Das Sozialgericht Potsdam hat die Klage mit Urteil vom 21. April 2009 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Zum Zwecke des Behinderungs-ausgleichs sei die Versorgung mit einem herkömmlichen Sprachsystem ausreichend. Das Grundbedürfnis nach Kommunikation könne so erfüllt werden. Eine Versorgung mit dem begehrten Sprachprogramm sei auch unwirtschaftlich, da es naturgemäß nur einmal, nämlich beim Kläger, verwendet werden könne, anders als die herkömmlichen Kommunikationshilfen, die von der Beklagten stets einer Wiederverwendung zugeführt würden.
Gegen das ihm am 12. Mai 2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11. Juni 2009 Berufung eingelegt und mit dieser (erstmals) eine ärztliche Verordnung für das Pro-gramm "meine eigene Stimme" vom 10. Juni 2009 vorgelegt, ausgestellt vom behan-delnden Arzt Dr. T M, versehen mit dem Stempel der ALS-Ambulanz der C. Zur Be-gründung bringt er im Wesentlichen vor: Das Sozialgericht habe das Gebot des mög-lichst weitgehenden Behinderungsausgleichs nicht berücksichtigt. Anzustreben sei ein Zustand, der dem eines gesunden Menschen am nächsten komme. Seine Behinde-rung liege gerade im Verlust der eigenen Stimme. Ein weitestgehender Ausgleich die-ses Handicaps sei nur mit dem Gebrauch des begehrten Kommunikationsprogramms zu erzielen. Die begehrte Leistung ziele auch auf ein Grundbedürfnis des Klägers. Seine Erkrankung führe zunehmend zum Verlust seiner körperlichen Funktionen. Mit dem Gebrauch seiner eigenen Stimme könne er sich einen Teil seiner Identität be-wahren. Die Nutzung der synthetischen Stimme werde dagegen aufgrund ihrer Künst-lichkeit oft vermieden, was mit einem Kommunikationsverlust einhergehe. Immerhin sei das begehrte Programm im Hilfsmittelverzeichnis gelistet (Pos.-Nr. 16.99.06.3012). Viele andere gesetzliche Krankenkassen übernähmen diese Leistung.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 21. April 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbeschei-des vom 27. November 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm 600 Euro für die Aufzeichnung seiner Stimme für das Kommunikationspro-gramm "meine eigene Stimme" zu erstatten sowie ihn mit diesem Programm zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat sich vom Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung das von der Beklagten zur Verfügung gestellte Sprachausgabesystem vorführen lassen sowie eine kurze Passage aus der Aufnahme seiner eigenen Stimme.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genom-men, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhand-lung und der Entscheidungsfindung war.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung mit dem Sprachausga-beprogramm "meine eigene Stimme" und auf Erstattung der Kosten für die bereits er-folgte Aufzeichnung seiner eigenen Stimme.
Nach § 33 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmit-teln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu si-chern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszuglei-chen. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht über-schreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versi-cherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V).
Da mit dem elektronischen Sprachausgabesystem der Ausgleich der Behinderung erfolgen soll, indem das geschädigte, nicht mehr funktionstüchtige Sprachorgan ein-schließlich der verloren gegangenen eigenen, individuellen Stimme durch technisch vermittelte Sprache künstlich ersetzt wird, hat die Prüfung des Anspruchs anhand des § 33 Abs. 1 S. 1, dritte Alternative SGB V zu erfolgen. Im Vordergrund steht daher der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion "Stimmgebrauch" selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines mög-lichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichti-gung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die ge-sonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstel-lung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versor-gung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausrei-chend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleich-ziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. Die Wirtschaftlichkeit ei-nes dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätz-lich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber un-terschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2009, B 3 KR 2/08 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18 [Badeprothese]; Urteil vom 16. September 2004, B 3 KR 20/04 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 12 ff. [C-Leg]; Senat, Urteil vom 9. März 2011, L 9 KR 152/08, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18 [C-Leg]).
Hieran gemessen hat der Kläger Anspruch auf Versorgung mit dem Sprachprogramm "meine eigene Stimme", denn nur so erfolgt ein weitestgehender Ausgleich des beste-henden Funktionsdefizits, das nicht nur im Verlust der sprachvermittelten Kommunika-tionsmöglichkeit besteht, sondern gerade auch im Verlust der individuellen Stimme, die im Rahmen des Sprachgebrauchs einen eigenen messbaren Wert und Nutzen hat. Der Einwand der Beklagten, der Kläger sei mit dem zur Verfügung gestellten Sprach-ausgabesystem und der dort zum Einsatz kommenden synthetischen Stimme hinrei-chend versorgt, greift demgegenüber nicht. Diese synthetische Stimme schöpft die Möglichkeit des "Gleichziehens" mit Nichtbehinderten nicht hinlänglich aus.
Der Kläger hat dem Senat das derzeit genutzte Sprachvermittlungssystem im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgeführt. Der Senat konnte sich davon überzeugen, dass der Kläger sich mit Gebrauch dieses Systems sprachlich artikulieren kann; er bedient dabei einen Laptop und gibt dort mit Hilfe einer über Infrarotsignale gesteuer-ten Maus Text ein, der über entsprechende Software und Lautsprecher in Sprache umgesetzt wird. Die sprachliche Artikulation war klar vernehmbar. Die synthetische Stimme wirkte zwar einigermaßen natürlich, gleichzeitig aber austauschbar und wenig individuell. Vorgeführt hat der Kläger dem Senat auch einige wenige Textpassagen, die im Vorgriff auf die Nutzung des begehrten Systems "meine eigene Stimme" bereits mit seiner eigenen Stimme abgespeichert waren. Diese Worte wirkten erheblich indi-vidueller artikuliert als jene mit der synthetischen Stimme gesprochenen. Es war wahr-nehmbar, dass hier ein authentischer, weniger künstlicher Tonfall vorlag. Die tech-nisch vermittelte eigene Stimme glich dabei der tatsächlichen eigenen Stimme des Klägers weitestgehend. Davon konnte der Senat sich überzeugen, weil der Kläger teilweise auch noch in der Lage war, sich sehr mühevoll und langsam, aber verständ-lich und ohne technische Hilfe zu äußern.
Dass die Funktionseinbuße, unter der der Kläger leidet, nicht schon vollständig und weitestmöglich mit der synthetischen Stimme ausgeglichen ist, wird auch an Folgen-dem deutlich: Der Kläger hat erklärt, des Öfteren an Treffen von ALS-Kranken teilzu-nehmen, bei denen dasselbe Sprachausgabesystem mit derselben synthetischen Stimme von verschiedenen Leidensgenossen benutzt werde, so dass den Redebei-trägen jegliche individuelle Note fehle und zuweilen nicht feststellbar sei, wer etwas gesagt habe. Diese Einlassung ist nachvollziehbar und belegt, dass für ein vollständi-ges Gleichziehen mit Nichtbehinderten nicht nur irgendeine Sprachvermittlung, son-dern nur eine solche basierend auf der eigenen Stimme des Versicherten den best-möglichen Behinderungsausgleich gewährleistet. Ebenso nachvollziehbar ist es, dass die beim Kläger vorliegende Funktionseinbuße bei Telefonaten nur dann vollständig ausgeglichen ist, wenn der Gesprächspartner die eigene Stimme des Klägers und nicht nur eine synthetische vernimmt, denn am Telefon ist der Gesprächspartner aus-schließlich am Klang der eigenen Stimme zu identifizieren.
Nach alledem hat der Kläger Anspruch auf Versorgung mit diesem Sprachausgabe-system, das den neuesten technischen Fortschritt verkörpert. Hieraus folgt zugleich, dass nach § 13 Abs. 3 SGB V 600 Euro im Wege der Erstattung verlangt werden kön-nen, denn die Kostenübernahme für die Aufzeichnung der eigenen Stimme des Klä-gers hat die Beklagte zu Unrecht abgelehnt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Ver-fahrens in der Sache selbst.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zuzu-lassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten für die Versorgung mit dem elektroni-schen Sprachausgabesystem "meine eigene Stimme" (Preis: 2.600 Euro) sowie Kos-tenerstattung in Höhe von 600 Euro für die bereits erfolgte Aufzeichnung seiner eige-nen Stimme.
Der im Jahre 1966 geborene Kläger leidet unter Amyotropher Lateralsklerose (ALS). Die Krankheit wurde im Jahre 2004 bei ihm festgestellt. Eine der vielen gravierenden Folgen der Erkrankung besteht in der Lähmung der Sprechmuskulatur mit der Folge von Sprechstörungen bis hin zum völligen Verlust der eigenständigen Artikulations-möglichkeit.
Mit Schreiben seines behandelnden Arztes Dr. T M, Oberarzt im CC für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie (ALS-Ambulanz nach § 116 b SGB V), vom 26. Febru-ar 2007, eingegangen bei der Beklagten am 28. August 2007, beantragte der Kläger die Übernahme der Kosten für die Aufzeichnung seiner eigenen Stimme und für das elektronische Kommunikationsprogramm "meine eigene Stimme", das im Falle des Stimmverlusts über entsprechende Hardware die apparativ vermittelte Artikulation des Klägers mittels seiner eigenen Stimme ermöglicht. Herkömmliche Systeme ermögli-chen lediglich die Artikulation mittels einer synthetischen Stimme.
Mit Bescheid vom 9. Oktober 2007, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 27. November 2007, lehnte die Beklagte die begehrte Kostenübernahme ab. Eine Versorgung mit dem beantragten Produkt übersteige das Maß des Notwendigen. Eine Kommunikationshilfe mit synthetischer Sprachausgabe sei im Sinne eines Basisaus-gleichs gegebenenfalls ausreichend.
Mit der am 20. Dezember 2007 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren wei-terverfolgt.
Zu Beginn des Jahres 2008 hat der Kläger gegen Zahlung von 600 Euro seine Stim-me vom Hersteller des Programms "meine eigene Stimme" aufnehmen lassen, um sich die Möglichkeit zu erhalten, dieses Programm später nutzen zu können; insoweit begehrt er nun Kostenerstattung. Seit dem Ende des Jahres 2008 ist der Kläger auf-grund eingetretenen Stimmverlusts auf ein Sprachausgabesystem als Hilfsmittel zur Kommunikation angewiesen; das ihm von der Beklagten zur Verfügung gestellte Hilfsmittel funktioniert mit einer synthetischen Stimme.
Der Kläger meint, weitestgehender Behinderungsausgleich sei nur mit dem Gebrauch der eigenen Stimme gewährleistet. Mit einer synthetischen Stimme gehe die Indivi-dualität der Stimme sowie ein wichtiges Identifizierungsmerkmal verloren. Das allge-meine Persönlichkeitsrecht schütze den Gebrauch der eigenen Stimme.
Das Sozialgericht Potsdam hat die Klage mit Urteil vom 21. April 2009 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Zum Zwecke des Behinderungs-ausgleichs sei die Versorgung mit einem herkömmlichen Sprachsystem ausreichend. Das Grundbedürfnis nach Kommunikation könne so erfüllt werden. Eine Versorgung mit dem begehrten Sprachprogramm sei auch unwirtschaftlich, da es naturgemäß nur einmal, nämlich beim Kläger, verwendet werden könne, anders als die herkömmlichen Kommunikationshilfen, die von der Beklagten stets einer Wiederverwendung zugeführt würden.
Gegen das ihm am 12. Mai 2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11. Juni 2009 Berufung eingelegt und mit dieser (erstmals) eine ärztliche Verordnung für das Pro-gramm "meine eigene Stimme" vom 10. Juni 2009 vorgelegt, ausgestellt vom behan-delnden Arzt Dr. T M, versehen mit dem Stempel der ALS-Ambulanz der C. Zur Be-gründung bringt er im Wesentlichen vor: Das Sozialgericht habe das Gebot des mög-lichst weitgehenden Behinderungsausgleichs nicht berücksichtigt. Anzustreben sei ein Zustand, der dem eines gesunden Menschen am nächsten komme. Seine Behinde-rung liege gerade im Verlust der eigenen Stimme. Ein weitestgehender Ausgleich die-ses Handicaps sei nur mit dem Gebrauch des begehrten Kommunikationsprogramms zu erzielen. Die begehrte Leistung ziele auch auf ein Grundbedürfnis des Klägers. Seine Erkrankung führe zunehmend zum Verlust seiner körperlichen Funktionen. Mit dem Gebrauch seiner eigenen Stimme könne er sich einen Teil seiner Identität be-wahren. Die Nutzung der synthetischen Stimme werde dagegen aufgrund ihrer Künst-lichkeit oft vermieden, was mit einem Kommunikationsverlust einhergehe. Immerhin sei das begehrte Programm im Hilfsmittelverzeichnis gelistet (Pos.-Nr. 16.99.06.3012). Viele andere gesetzliche Krankenkassen übernähmen diese Leistung.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 21. April 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbeschei-des vom 27. November 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm 600 Euro für die Aufzeichnung seiner Stimme für das Kommunikationspro-gramm "meine eigene Stimme" zu erstatten sowie ihn mit diesem Programm zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat sich vom Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung das von der Beklagten zur Verfügung gestellte Sprachausgabesystem vorführen lassen sowie eine kurze Passage aus der Aufnahme seiner eigenen Stimme.
Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genom-men, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhand-lung und der Entscheidungsfindung war.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung mit dem Sprachausga-beprogramm "meine eigene Stimme" und auf Erstattung der Kosten für die bereits er-folgte Aufzeichnung seiner eigenen Stimme.
Nach § 33 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmit-teln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu si-chern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszuglei-chen. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht über-schreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versi-cherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V).
Da mit dem elektronischen Sprachausgabesystem der Ausgleich der Behinderung erfolgen soll, indem das geschädigte, nicht mehr funktionstüchtige Sprachorgan ein-schließlich der verloren gegangenen eigenen, individuellen Stimme durch technisch vermittelte Sprache künstlich ersetzt wird, hat die Prüfung des Anspruchs anhand des § 33 Abs. 1 S. 1, dritte Alternative SGB V zu erfolgen. Im Vordergrund steht daher der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion "Stimmgebrauch" selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines mög-lichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichti-gung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die ge-sonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstel-lung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versor-gung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausrei-chend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleich-ziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. Die Wirtschaftlichkeit ei-nes dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätz-lich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber un-terschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2009, B 3 KR 2/08 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18 [Badeprothese]; Urteil vom 16. September 2004, B 3 KR 20/04 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 12 ff. [C-Leg]; Senat, Urteil vom 9. März 2011, L 9 KR 152/08, zitiert nach juris, dort Rdnr. 18 [C-Leg]).
Hieran gemessen hat der Kläger Anspruch auf Versorgung mit dem Sprachprogramm "meine eigene Stimme", denn nur so erfolgt ein weitestgehender Ausgleich des beste-henden Funktionsdefizits, das nicht nur im Verlust der sprachvermittelten Kommunika-tionsmöglichkeit besteht, sondern gerade auch im Verlust der individuellen Stimme, die im Rahmen des Sprachgebrauchs einen eigenen messbaren Wert und Nutzen hat. Der Einwand der Beklagten, der Kläger sei mit dem zur Verfügung gestellten Sprach-ausgabesystem und der dort zum Einsatz kommenden synthetischen Stimme hinrei-chend versorgt, greift demgegenüber nicht. Diese synthetische Stimme schöpft die Möglichkeit des "Gleichziehens" mit Nichtbehinderten nicht hinlänglich aus.
Der Kläger hat dem Senat das derzeit genutzte Sprachvermittlungssystem im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgeführt. Der Senat konnte sich davon überzeugen, dass der Kläger sich mit Gebrauch dieses Systems sprachlich artikulieren kann; er bedient dabei einen Laptop und gibt dort mit Hilfe einer über Infrarotsignale gesteuer-ten Maus Text ein, der über entsprechende Software und Lautsprecher in Sprache umgesetzt wird. Die sprachliche Artikulation war klar vernehmbar. Die synthetische Stimme wirkte zwar einigermaßen natürlich, gleichzeitig aber austauschbar und wenig individuell. Vorgeführt hat der Kläger dem Senat auch einige wenige Textpassagen, die im Vorgriff auf die Nutzung des begehrten Systems "meine eigene Stimme" bereits mit seiner eigenen Stimme abgespeichert waren. Diese Worte wirkten erheblich indi-vidueller artikuliert als jene mit der synthetischen Stimme gesprochenen. Es war wahr-nehmbar, dass hier ein authentischer, weniger künstlicher Tonfall vorlag. Die tech-nisch vermittelte eigene Stimme glich dabei der tatsächlichen eigenen Stimme des Klägers weitestgehend. Davon konnte der Senat sich überzeugen, weil der Kläger teilweise auch noch in der Lage war, sich sehr mühevoll und langsam, aber verständ-lich und ohne technische Hilfe zu äußern.
Dass die Funktionseinbuße, unter der der Kläger leidet, nicht schon vollständig und weitestmöglich mit der synthetischen Stimme ausgeglichen ist, wird auch an Folgen-dem deutlich: Der Kläger hat erklärt, des Öfteren an Treffen von ALS-Kranken teilzu-nehmen, bei denen dasselbe Sprachausgabesystem mit derselben synthetischen Stimme von verschiedenen Leidensgenossen benutzt werde, so dass den Redebei-trägen jegliche individuelle Note fehle und zuweilen nicht feststellbar sei, wer etwas gesagt habe. Diese Einlassung ist nachvollziehbar und belegt, dass für ein vollständi-ges Gleichziehen mit Nichtbehinderten nicht nur irgendeine Sprachvermittlung, son-dern nur eine solche basierend auf der eigenen Stimme des Versicherten den best-möglichen Behinderungsausgleich gewährleistet. Ebenso nachvollziehbar ist es, dass die beim Kläger vorliegende Funktionseinbuße bei Telefonaten nur dann vollständig ausgeglichen ist, wenn der Gesprächspartner die eigene Stimme des Klägers und nicht nur eine synthetische vernimmt, denn am Telefon ist der Gesprächspartner aus-schließlich am Klang der eigenen Stimme zu identifizieren.
Nach alledem hat der Kläger Anspruch auf Versorgung mit diesem Sprachausgabe-system, das den neuesten technischen Fortschritt verkörpert. Hieraus folgt zugleich, dass nach § 13 Abs. 3 SGB V 600 Euro im Wege der Erstattung verlangt werden kön-nen, denn die Kostenübernahme für die Aufzeichnung der eigenen Stimme des Klä-gers hat die Beklagte zu Unrecht abgelehnt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Ver-fahrens in der Sache selbst.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zuzu-lassen.
Rechtskraft
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