L 15 SO 162/11 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 51 SO 1423/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 SO 162/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2011 wird abgelehnt. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juli 2011 geändert. Dem Antragsteller wird für das Sozialgericht Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwältin C G-H, B, beigeordnet. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Voraussetzungen für die beantragte Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren gegen den angefochtenen Beschluss des Sozialgerichts Berlin – soweit mit ihm eine Verpflichtung des Antragsgegners im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beantragt worden war – liegen nicht vor. Dem Rechtsmittel fehlt die erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg (§§ 153 Abs. 1, 73a Sozialgerichtsgesetz [SGG] i.V. mit § 114 Zivilprozessordnung [ZPO]). Das Sozialgericht hat die Rechtslage zutreffend dargestellt, wie im weiteren ausgeführt werden wird. Erfolg hat die "sofortige" Beschwerde des Antragstellers gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz. Im Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Antrags auf Gewährung von Prozesskostenhilfe lagen deren Voraussetzungen auch hinsichtlich des Erfordernisses der hinreichenden Aussicht auf Erfolg vor. Es war nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die geltend gemachte Verpflichtung des Antragsgegners auszusprechen sein könnte und die nicht einfache Rechtslage war erst durch den angefochtenen Beschluss des Sozialgerichts ausreichend geklärt. Die Beschwerde gegen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes hat dagegen keinen Erfolg. Der Antragsteller macht eine Leistung geltend, die ihm bisher versagt worden ist. In diesem Fall setzt eine einstweilige Verpflichtung voraus, dass bei summarischer Prüfung mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ein Anspruch nach materiellem Recht (Anordnungsanspruch) und eine besondere Eilbedürftigkeit feststellbar sind (Anordnungsgrund; § 86b Absatz 2 Satz 4 Sozialgerichtsgesetz [SGG] in Verbindung mit §§ 920 Absatz 2, 916 bis 918 Zivilprozessordnung [ZPO]). Jedenfalls ein Anordnungsanspruch ist nicht ausreichend wahrscheinlich. Die gewünschte Leistung kommt nur als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben oder am Leben in der Gemeinschaft in Betracht (§§ 33, 55 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch [SGB IX] und § 8 der Verordnung nach § 60 SGB XII [Eingliederungshilfe-Verordnung]). Für die Gewährung derartiger Leistungen ist der Antragsgegner funktionell zuständiger Rehabilitationsträger (§ 6 Abs. 1 Nr. 7 i. V. mit § 5 Nr. 2 und 4 SGB IX). Er ist gegenüber dem Antragsteller auch jedenfalls der formal zuständige Rehabilitationsträger, da er den bei ihm gestellten Antrag auf Leistungen zur Teilhabe nicht innerhalb der gesetzlichen Zweiwochenfrist an einen anderen Rehabilitationsträger weitergeleitet hat (§ 14 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Im Rahmen des für den Antragsgegner originär geltenden Leistungsgesetzes – des SGB XII – gehört der Antragsteller zu dem Personenkreis, der gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen "dem Grunde nach" hat. Er ist durch eine Behinderung wesentlich in seiner Fähigkeit eingeschränkt, am Leben in der Gesellschaft teilzuhaben. Die Behinderung erschwert ihm im Besonderen, sich selbständig fortzubewegen und Arbeit von nennenswertem wirtschaftlichem Wert zu leisten. Er ist auch hilfebedürftig, weil durch seine laufenden Einkünfte (Rente wegen voller Erwerbsminderung und Wohngeld) nur sein Bedarf nach Maßgabe des Vierten Kapitels des SGB XII sichergestellt ist. Zu den möglichen Leistungen der Eingliederungshilfe gehören nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 33 SGB IX) kommen im vorliegenden Fall erkennbar nicht in Betracht, da der Antragsteller aus gesundheitlichen Gründen Arbeiten von wirtschaftlichem Wert auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht verrichten kann und auch nicht konkret eine seinem Gesundheitszustand entsprechende Beschäftigung in Aussicht steht. Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sind solche, die den behinderten Menschen diese Teilhabe ermöglichen oder sichern oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege machen sollen und die nach den Kapiteln 4 bis 6 des SGB XII nicht erbracht werden. Dies schlösse für sich genommen zwar Leistungen zum Erwerb eines Kraftfahrzeuges aus, weil sie zu denen nach § 33 Abs. 8 Nr. 1 SGB IX im Kapitel 5 des SGB IX gehören. Abweichend hiervon bestimmt aber § 8 Abs. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung, dass die Hilfe zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i. V. mit den §§ 33 und 55 SGB IX gilt (Satz 1). Sie wird in angemessenem Umfang gewährt, wenn der behinderte Mensch wegen Art oder Schwere seiner Behinderung insbesondere zur Teilhabe am Arbeitsleben auf die Benutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen ist; bei Teilhabe am Arbeitsleben findet die Kraftfahrzeughilfe-Verordnung Anwendung (Satz 2). Gemäß § 8 Abs. 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung ist die Hilfe in der Regel davon abhängig, dass der Behinderte das Kraftfahrzeug selbst bedienen kann; es kann jedoch ausreichen, dass stets eine Person zur Verfügung steht, die das Kraftfahrzeug führen kann (s. Urteil des Senats vom 5. März 2009 – L 15 SO 262/07). Jedenfalls die Voraussetzungen des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i. V. mit § 55 Abs. 1 SGB IX und § 8 Abs. 1 Satz 2 Eingliederungshilfe-Verordnung sind nicht erfüllt. Zur Auslegung kann dabei auf die Grundsätze zurückgegriffen werden, die zu den praktisch identischen Vorgängerregelungen im Bundessozialhilfegesetz entwickelt worden waren. Davon ist das Sozialgericht bereits zutreffend ausgegangen. Der Zuschuss zur Anschaffung eines behindertengerechten Kraftfahrzeugs bezweckt vorrangig, behinderte Menschen im Arbeitsleben Nichtbehinderten möglichst gleichzustellen. Die "allgemeine" Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ist als Zweck der Hilfe zwar nicht ausgeschlossen. Die hierauf beruhenden Gründe müssen aber wenigstens das gleiche Gewicht haben wie die, die ein Kraftfahrzeug zur Teilhabe am Arbeitsleben rechtfertigen. Solche Gründe liegen vor allem dann vor, wenn die Notwendigkeit, ein Kraftfahrzeug zu benutzen, regelmäßig besteht, weil die erforderliche Mobilität des behinderten Menschen nicht auf andere Weise (zum Beispiel durch Benutzung eines Krankenfahrzeuges oder öffentlicher Verkehrsmittel oder durch die Übernahme der Kosten eines Taxis oder Mietautos) sichergestellt werden kann (s. etwa BVerwGE 111, 328). Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller nach diesen Maßstäben unerlässlich auf ein eigenes Fahrzeug angewiesen wäre. Für Fahrten zu Terminen in seiner Tätigkeit als Schöffe kann er auf den – gemäß § 2 SGB XII gegenüber Leistungen der Sozialhilfe vorrangigen – Kostenerstattungsanspruch gemäß § 55 Gerichtsverfassungsgesetz verwiesen werden. Danach erhalten Schöffen eine Entschädigung nach dem Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz (JVEG). Nach § 5 Abs. 3 Halbsatz 2 JVEG werden höhere als die in Abs. 1 (öffentliche Verkehrsmittel) oder Abs. 2 (private Kraftfahrzeuge) bezeichneten Fahrtkosten ersetzt, wenn sie wegen besonderer Umstände, zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen könnten und nicht über ein eigenes Kfz verfügen. Dass ihm eine erhöhte Erstattung versagt worden wäre und Rechtsbehelfe dagegen erfolglos geblieben wären (und falls ja, mit welcher Begründung) hat der Antragsteller nicht vorgetragen. Für die Fahrten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts mit seiner Tochter kann der Antragsteller darauf verwiesen werden, sich um die im Verfahren bereits erwähnten Mobilitätshilfen zu bemühen, die der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg anbietet. Soweit hierdurch Kosten entstehen, kann dies möglicherweise einen Anspruch auf abweichenden Regelbedarf (§ 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII) begründen. Soweit sich ergeben sollte, dass sich diese Mobilitätshilfen als unzuverlässig oder unzumutbar herausstellen, können möglicherweise auch andere Kosten (z.B. für Taxifahrten) in diesem rechtlichen Rahmen zu berücksichtigen sein. Dass er generell nicht in der Lage ist, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, hat der Antragsteller nicht einmal selbst vorgetragen. Ein Anspruch auf Kraftfahrzeughilfe ergibt sich auch nicht daraus, dass die auf die beschriebene Weise – und möglicherweise durch Leistungen zur Teilhabe im konkreten Fall (s. vor allem § 58 SGB IX) – gegebene Mobilität möglicherweise nicht jeden Weg zu jedem beliebigen Zeitpunkt zulässt. Es gibt kein einfachgesetzliches oder gar verfassungsrechtlich verbürgtes Recht, mit einem durch Mittel der Steuerzahler finanzierten Kraftfahrzeug zu jeder Zeit an jeden Ort gelangen zu können. Durch die nach den Vorschriften des SGB XII zu gewährenden Leistungen der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft soll der behinderte Mensch nach Möglichkeit einem nicht behinderten gleichgestellt werden – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Auch nicht behinderte Menschen, die aus wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen kein eigenes Fahrzeug haben, können jedoch nicht beliebig oft an kulturellen oder sonstigen Veranstaltungen teilnehmen oder Besuchsreisen zu jedem beliebigen Ort durchführen. Ein Anordnungsanspruch ergibt sich auch nicht aus Rechtsvorschriften außerhalb des SGB XII. Der Antragsgegner hat im Rahmen seiner durch § 14 SGB IX begründeten Zuständigkeit den Leistungsantrag nach allen in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen, die überhaupt in dieser Bedarfssituation für Rehabilitationsträger vorgesehen sind, zu prüfen (s. BSG SozR 4-3250 § 14 Nr. 8 m.w.Nachw.). Für die insoweit allein in Betracht kommenden Leistungen zur Teilhabe aus der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllt der Antragsteller zwar die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, da er eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bezieht (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 [SGB VI]). Zum Leistungskatalog der gesetzlichen Rentenversicherung gehört Kraftfahrzeughilfe aber nur im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VI i.V. mit §§ 6 Abs. 1 Nr. 4 und 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX). Mangels Bezugs zur Aufnahme einer Arbeit erfüllt der Antragsteller dafür nicht die persönlichen Voraussetzungen (s. §§ 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) SGB VI, 33 Abs. 1 SGB IX). Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 127 Abs. 4 SGG, soweit sich die Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem Sozialgericht richtet, im übrigen auf § 193 SGG.

Gegen diesen Beschluss ist die Beschwerde an das Bundessozialgericht ausgeschlossen (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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