Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 40 SB 2141/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 81/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Berlin vom 28. März 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des
Berufungsverfahrens - an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten, die über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuer-kennung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) streiten, begehren die Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht.
Der 1962 geborene Kläger, bei dem der Beklagte zuletzt mit Bescheid vom 11. April 2002 unter Erteilung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) einen Grad der Behinderung (GdB) von 60 festgestellt hatte, stellte am 19. Oktober 2007 einen Verschlimmerungsantrag, mit welchem er auch das Merkzeichen "aG" geltend machte. Nach Einholung von Befundberichten der den Kläger behandelnden Ärzte lehnte der Beklagte, der gutachterlichen Stellungnahme der Chirurgin Dr. G vom 15. April 2008 folgend, mit Bescheid vom 22. Juli 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2009 die Erhöhung des GdB und die Anerkennung des Merkzeichens "aG" ab. Dieser Entscheidung legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
a) Verschmächtigung und Verkürzung des rechten Beins bei angeborener rechts betonter Spastik beider Beine, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseitig, Funktionseinschränkung des Großzehengrundgelenks beidseitig (40), b) Sehbehinderung (30), c) Bluthochdruck, Herzmuskelhypertrophie (20), d) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (10).
Mit der beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG" weiter verfolgt. Zur Begründung hat er insbesondere vorgetragen, dass ihm nur noch eine Wegstrecke von 20 m unter Benutzung von Gehstützen zumutbar sei. Er leide unter Dauerschmerzen in seinen Beinen mit starken Verkrampfungen bei geringer Belastung. Erschwerend käme seine Atemnot hinzu. Auch sei seine schwerwiegende Adipositas zu berücksichtigen. Er hat angeregt, ein orthopädisch/schmerztherapeutisches Sachverstän-digengutachten einzuholen.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der Allgemeinmedizinerin Dipl.-Med. B vom 22. Februar 2010, des Orthopäden Dr. R vom 18. Februar 2010 und der Ärztin Dr. E vom 2. Mai 2010 eingeholt. Hierzu hat der Beklagte die versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Internistin Dr. G vom 28. Mai 2010, der Nervenärztin Dr. W vom 3. Juni 2010 und der Chirurgin Dr. H vom 9. Juni 2010 eingereicht.
Auf die Anfrage des Sozialgerichts, ob er die Klage zurücknehme, hat der Kläger mitgeteilt, hierzu nicht bereit zu sein. Durch seine Gewichtszunahme auf 109 kg, verbunden mit seiner Atemnot und unter Berücksichtigung der Schmerzintensität und –dauer, sei eine deutliche Verschlechterung seiner Gehfähigkeit eingetreten, die im Gesamtzusammenhang noch nicht gewürdigt worden sei. Deshalb sei eine orthopädisch/schmerztherapeutische Begutachtung erforderlich.
Der im Rahmen der Anhörung mitgeteilten Absicht des Sozialgerichts, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, hat der Kläger widersprochen und vorgebracht, dass der Sachverhalt nicht geklärt sei. Es widerspreche dem Untersuchungsgrundsatz, dass das Gericht ausschließlich auf die Ermittlungen im Verwaltungsverfahren abstelle. Er hat erneut beantragt, Beweis durch Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zu erheben.
Mit Gerichtsbescheid vom 28. März 2011 hat das Sozialgericht die Klage unter Auswertung der aktenkundigen Befunde und der dazu nach Aktenlage ergangenen versorgungsärztlichen Stellungnahme abgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Er weist darauf hin, dass er weder im Widerspruchs- noch im Klageverfahren körperlich untersucht worden sei.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 28. März 2011 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurück-zuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen, hilfsweise, die Berufung zurückzuverweisen.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts dar-auf beruhen kann (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, Rn. 3 zu § 159 SGG). Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet in zweierlei Hinsicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Zum einen hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden, obwohl die dafür gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren (1.). Zum anderen hat das Sozialgericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (2.).
1. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft durch die Kammervorsitzende als Einzelrichterin im Wege des Gerichtsbescheids ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGG) entschieden, obwohl die Voraussetzungen von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es dem Kläger entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz ihrem gesetzlichen Richter, nämlich der Kammer in voller Besetzung (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 125 SGG), entzogen.
Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ist der Erlass eines Gerichtsbescheides nur dann möglich, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht gegeben. Unabhängig davon, dass Gerichtsbescheide in medizinisch geprägten Fällen ohnehin nur äußerst zurückhaltend eingesetzt werden sollten, ist nicht zu erkennen, dass der Sachverhalt geklärt ist. Ein Sachverhalt ist grundsätzlich nur dann als geklärt im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG anzusehen, wenn ein verständiger Prozessbeteiligter in Kenntnis des gesamten Prozessstoffes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zugrunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhalts haben wird. Denn unter dem Tatbestandsmerkmal des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG, dass der Sachverhalt geklärt sein muss, ist mehr zu verstehen, als die dem Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren ohnehin gemäß §§ 103, 106 SGG obliegende Verpflichtung zur
umfassenden Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Dass die Voraussetzungen in § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG enger zu fassen sind, folgt aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber für den Gerichtsbescheid einen geklärten Sachverhalt als zusätzliche Voraussetzung ausdrücklich in den Wortlaut aufgenommen hat (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, L 13 SB 80/10, bei Juris).
Im vorliegenden Fall schied danach mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter aus, zumal das Sozialgericht bereits nicht seiner allgemeinen Amtsermittlungspflicht hinreichend Rechnung getragen hat (siehe dazu unter 2.). Der bestehende Besetzungsmangel ist auch als wesentlich anzusehen, weil nicht ausgeschlossen kann, dass die Kammer in ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.
2. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft gegen seine Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG verstoßen, wonach alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln sind. Die Aufklärung eines medizinisch geprägten Sachverhalts durch ein Tatsachengericht unterliegt in allen Gerichtsinstanzen einheitlichen Qualitätsanforderungen. Im Hinblick auf die Amtsermittlung erstinstanzlicher Gerichte sind danach im Grundsatz die gleichen Anforderungen heranzuziehen, die auch das Bundessozialgericht (BSG) an die Sachverhaltsaufklärung durch die Landessozialgerichte stellt (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, a.a.O.). Das Sozialgericht hätte sich zu weiteren medizinischen Ermittlungen gedrängt fühlen müssen. Für die Entscheidung kam es auch eigener Sicht des Sozialgerichts wesentlich darauf an, ob die bei dem Kläger bestehenden Funktionsbehinderungen die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" rechtfertigen. Mangels entsprechender medizinischer Fachkenntnisse durfte es sich nicht allein auf die aktenkundigen ärztlichen Unterlagen und die dazu nach Aktenlage ergangenen versorgungsärztlichen Stellungnahmen bei eigener Auswertung stützen. Auch berechtigen etwaige medizinische Grundkenntnisse, die im Zuge der richterlichen Tätigkeit in betreffenden Sparten erworben wurden, jedenfalls nicht zu einer eigenständigen Beurteilung medizinischer Sachverhalte. Soweit das Gericht einen medizinischen Sachverhalt auf Grund eigener Sachkunde bewerten will, wäre überdies darzulegen gewesen, auf welcher Grundlage diese Sachkunde beruhte, damit die Beteiligten hierzu hätten Stellung nehmen können (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RV 36/85, SozR 1500 § 128 Nr. 31). Zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht bedarf es nach alledem regelmäßig der Einholung eines
Sachverständigengutachtens, wobei sowohl im Hinblick auf das jeweilige medizinische Fachgebiet als auch im Hinblick auf die sozialmedizinischen Erfordernisse auf eine hinreichende Qualifikation und Erfahrung von Sachverständigen zu achten ist (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, a.a.O.). Dies ist im Verfahren des ersten Rechtszuges versäumt worden.
Das Sozialgericht ist nach alledem - statt jegliche medizinische Ermittlungen abzulehnen - gehalten, den Sachverhalt hinsichtlich des Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen für das begehrte Merkzeichen "aG" (weiter) aufzuklären und der Kläger hinsichtlich der geltend gemachten Beeinträchtigungen gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG begutachten zu lassen. Auch wenn gutachterliche Einschätzungen keine verbindliche Wirkung für die richterliche Entscheidung haben, so sind sie jedoch zumeist - und so auch hier - eine unentbehrliche Grundlage für die rechtliche Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung des
streitgegenständlichen Merkzeichens "aG". Dies gilt umso mehr, als die behandelnden Ärzte unterschiedliche Angaben zu der dem Kläger zumutbaren Gehstrecke gemacht haben. Hinzu kommt, dass sowohl der Orthopäde Dr. R als auch die Ärztin Dr. E ausdrücklich die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" empfohlen haben. Auch hätte das Sozialgericht dem Hinweis des Orthopäden im Befundbericht vom 18. Februar 2010 nachgehen müssen, dass schwerstwiegende statische Veränderungen der Wirbelsäule beständen, da dieser Befund mit dem von dem Beklagten festgestellten Einzel-GdB von 10 für das Wirbelsäulenleiden nur schwer zu vereinbaren ist. Weder die von dem Kläger vorgetragene Atemnot noch die von der Allgemeinmedizinerin Dipl.-Med. B und der Ärztin Dr. E übereinstimmend mitgeteilte Sturzgefahr finden in der Entscheidung des Sozialgerichts Erwähnung. Ferner hat es die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" auch im Hinblick auf die funktionellen Auswirkungen der Adipositas verneint, ohne überhaupt Feststellungen zum BMI des Klägers getroffen zu haben.
Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Sozialgericht nach gebotener Aufklärung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, ist der danach vorliegende Verfahrensmangel auch wesentlich.
3. Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat das Gericht das Interesse des Klägers an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich angesichts der erheblichen Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei hat es berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und weitere tatsächliche Ermittlungen erfordert, weshalb der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom Sozialgericht unterlassenen Aufklärung praktisch eingetreten ist, besonders ins Gewicht fiel. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Denn das gesamte Verfahren vor dem Senat hat vom Eingang der Berufung am 27. April 2011 bis zum Tag der Verkündung des Urteils nur knapp vier Monaten in Anspruch genommen, so dass es prozess-ökonomischer erscheint, dem Sozialgericht zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts zu geben. Zudem haben die Beteiligten übereinstimmend die Zurückverweisung an das Sozialgericht beantragt.
Überdies ist ferner zu berücksichtigen, dass auch die Verwaltung dem Gebot der Amtsermittlung unterliegt. Dieses verletzt sie in der Regel, wenn ein medizinischer Sachverhalt nicht durch ärztliche Untersuchung des Betroffenen, sondern lediglich im schriftlichen Wege - etwa wie auch vorliegend durch ärztliche Äußerungen "vom Schreibtisch aus" - geprüft wird (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, a. a. O.). Mangels entsprechender Ermittlungen durch den Beklagten im Verwaltungsverfahren hätte das Sozialgericht auch erwägen können, von der Vorschrift des § 131 Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGG Gebrauch zu machen und das Verfahren an den Beklagten zurückzuverweisen. In einer solchen Situation darf dem Kläger jedenfalls nicht auch noch die erste Tatsacheninstanz genommen werden.
4. Das Sozialgericht hat nunmehr zur Aufklärung des Sachverhalts eine Begutachtung des Klägers durch Sachverständige auf orthopädischem und auf lungenfachärztlichem Fachgebiet zu veranlassen. Hierbei sind neben der dem Kläger zumutbaren Gehstrecke insbesondere die Schwere dessen Wirbelsäulenleidens und der Grad dessen Adipositas zu ermitteln.
Das Sozialgericht wird in seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht gegeben.
Sozialgerichts Berlin vom 28. März 2011 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des
Berufungsverfahrens - an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten, die über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuer-kennung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) streiten, begehren die Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht.
Der 1962 geborene Kläger, bei dem der Beklagte zuletzt mit Bescheid vom 11. April 2002 unter Erteilung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) einen Grad der Behinderung (GdB) von 60 festgestellt hatte, stellte am 19. Oktober 2007 einen Verschlimmerungsantrag, mit welchem er auch das Merkzeichen "aG" geltend machte. Nach Einholung von Befundberichten der den Kläger behandelnden Ärzte lehnte der Beklagte, der gutachterlichen Stellungnahme der Chirurgin Dr. G vom 15. April 2008 folgend, mit Bescheid vom 22. Juli 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. Juni 2009 die Erhöhung des GdB und die Anerkennung des Merkzeichens "aG" ab. Dieser Entscheidung legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
a) Verschmächtigung und Verkürzung des rechten Beins bei angeborener rechts betonter Spastik beider Beine, Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseitig, Funktionseinschränkung des Großzehengrundgelenks beidseitig (40), b) Sehbehinderung (30), c) Bluthochdruck, Herzmuskelhypertrophie (20), d) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (10).
Mit der beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG" weiter verfolgt. Zur Begründung hat er insbesondere vorgetragen, dass ihm nur noch eine Wegstrecke von 20 m unter Benutzung von Gehstützen zumutbar sei. Er leide unter Dauerschmerzen in seinen Beinen mit starken Verkrampfungen bei geringer Belastung. Erschwerend käme seine Atemnot hinzu. Auch sei seine schwerwiegende Adipositas zu berücksichtigen. Er hat angeregt, ein orthopädisch/schmerztherapeutisches Sachverstän-digengutachten einzuholen.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der Allgemeinmedizinerin Dipl.-Med. B vom 22. Februar 2010, des Orthopäden Dr. R vom 18. Februar 2010 und der Ärztin Dr. E vom 2. Mai 2010 eingeholt. Hierzu hat der Beklagte die versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Internistin Dr. G vom 28. Mai 2010, der Nervenärztin Dr. W vom 3. Juni 2010 und der Chirurgin Dr. H vom 9. Juni 2010 eingereicht.
Auf die Anfrage des Sozialgerichts, ob er die Klage zurücknehme, hat der Kläger mitgeteilt, hierzu nicht bereit zu sein. Durch seine Gewichtszunahme auf 109 kg, verbunden mit seiner Atemnot und unter Berücksichtigung der Schmerzintensität und –dauer, sei eine deutliche Verschlechterung seiner Gehfähigkeit eingetreten, die im Gesamtzusammenhang noch nicht gewürdigt worden sei. Deshalb sei eine orthopädisch/schmerztherapeutische Begutachtung erforderlich.
Der im Rahmen der Anhörung mitgeteilten Absicht des Sozialgerichts, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, hat der Kläger widersprochen und vorgebracht, dass der Sachverhalt nicht geklärt sei. Es widerspreche dem Untersuchungsgrundsatz, dass das Gericht ausschließlich auf die Ermittlungen im Verwaltungsverfahren abstelle. Er hat erneut beantragt, Beweis durch Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens zu erheben.
Mit Gerichtsbescheid vom 28. März 2011 hat das Sozialgericht die Klage unter Auswertung der aktenkundigen Befunde und der dazu nach Aktenlage ergangenen versorgungsärztlichen Stellungnahme abgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Er weist darauf hin, dass er weder im Widerspruchs- noch im Klageverfahren körperlich untersucht worden sei.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 28. März 2011 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurück-zuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen, hilfsweise, die Berufung zurückzuverweisen.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts dar-auf beruhen kann (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, Rn. 3 zu § 159 SGG). Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet in zweierlei Hinsicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Zum einen hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden, obwohl die dafür gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren (1.). Zum anderen hat das Sozialgericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (2.).
1. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft durch die Kammervorsitzende als Einzelrichterin im Wege des Gerichtsbescheids ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGG) entschieden, obwohl die Voraussetzungen von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es dem Kläger entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz ihrem gesetzlichen Richter, nämlich der Kammer in voller Besetzung (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 125 SGG), entzogen.
Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ist der Erlass eines Gerichtsbescheides nur dann möglich, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht gegeben. Unabhängig davon, dass Gerichtsbescheide in medizinisch geprägten Fällen ohnehin nur äußerst zurückhaltend eingesetzt werden sollten, ist nicht zu erkennen, dass der Sachverhalt geklärt ist. Ein Sachverhalt ist grundsätzlich nur dann als geklärt im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG anzusehen, wenn ein verständiger Prozessbeteiligter in Kenntnis des gesamten Prozessstoffes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zugrunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhalts haben wird. Denn unter dem Tatbestandsmerkmal des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG, dass der Sachverhalt geklärt sein muss, ist mehr zu verstehen, als die dem Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren ohnehin gemäß §§ 103, 106 SGG obliegende Verpflichtung zur
umfassenden Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Dass die Voraussetzungen in § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG enger zu fassen sind, folgt aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber für den Gerichtsbescheid einen geklärten Sachverhalt als zusätzliche Voraussetzung ausdrücklich in den Wortlaut aufgenommen hat (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, L 13 SB 80/10, bei Juris).
Im vorliegenden Fall schied danach mangels Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter aus, zumal das Sozialgericht bereits nicht seiner allgemeinen Amtsermittlungspflicht hinreichend Rechnung getragen hat (siehe dazu unter 2.). Der bestehende Besetzungsmangel ist auch als wesentlich anzusehen, weil nicht ausgeschlossen kann, dass die Kammer in ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.
2. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft gegen seine Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG verstoßen, wonach alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln sind. Die Aufklärung eines medizinisch geprägten Sachverhalts durch ein Tatsachengericht unterliegt in allen Gerichtsinstanzen einheitlichen Qualitätsanforderungen. Im Hinblick auf die Amtsermittlung erstinstanzlicher Gerichte sind danach im Grundsatz die gleichen Anforderungen heranzuziehen, die auch das Bundessozialgericht (BSG) an die Sachverhaltsaufklärung durch die Landessozialgerichte stellt (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, a.a.O.). Das Sozialgericht hätte sich zu weiteren medizinischen Ermittlungen gedrängt fühlen müssen. Für die Entscheidung kam es auch eigener Sicht des Sozialgerichts wesentlich darauf an, ob die bei dem Kläger bestehenden Funktionsbehinderungen die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" rechtfertigen. Mangels entsprechender medizinischer Fachkenntnisse durfte es sich nicht allein auf die aktenkundigen ärztlichen Unterlagen und die dazu nach Aktenlage ergangenen versorgungsärztlichen Stellungnahmen bei eigener Auswertung stützen. Auch berechtigen etwaige medizinische Grundkenntnisse, die im Zuge der richterlichen Tätigkeit in betreffenden Sparten erworben wurden, jedenfalls nicht zu einer eigenständigen Beurteilung medizinischer Sachverhalte. Soweit das Gericht einen medizinischen Sachverhalt auf Grund eigener Sachkunde bewerten will, wäre überdies darzulegen gewesen, auf welcher Grundlage diese Sachkunde beruhte, damit die Beteiligten hierzu hätten Stellung nehmen können (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RV 36/85, SozR 1500 § 128 Nr. 31). Zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht bedarf es nach alledem regelmäßig der Einholung eines
Sachverständigengutachtens, wobei sowohl im Hinblick auf das jeweilige medizinische Fachgebiet als auch im Hinblick auf die sozialmedizinischen Erfordernisse auf eine hinreichende Qualifikation und Erfahrung von Sachverständigen zu achten ist (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, a.a.O.). Dies ist im Verfahren des ersten Rechtszuges versäumt worden.
Das Sozialgericht ist nach alledem - statt jegliche medizinische Ermittlungen abzulehnen - gehalten, den Sachverhalt hinsichtlich des Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen für das begehrte Merkzeichen "aG" (weiter) aufzuklären und der Kläger hinsichtlich der geltend gemachten Beeinträchtigungen gemäß § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG begutachten zu lassen. Auch wenn gutachterliche Einschätzungen keine verbindliche Wirkung für die richterliche Entscheidung haben, so sind sie jedoch zumeist - und so auch hier - eine unentbehrliche Grundlage für die rechtliche Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung des
streitgegenständlichen Merkzeichens "aG". Dies gilt umso mehr, als die behandelnden Ärzte unterschiedliche Angaben zu der dem Kläger zumutbaren Gehstrecke gemacht haben. Hinzu kommt, dass sowohl der Orthopäde Dr. R als auch die Ärztin Dr. E ausdrücklich die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" empfohlen haben. Auch hätte das Sozialgericht dem Hinweis des Orthopäden im Befundbericht vom 18. Februar 2010 nachgehen müssen, dass schwerstwiegende statische Veränderungen der Wirbelsäule beständen, da dieser Befund mit dem von dem Beklagten festgestellten Einzel-GdB von 10 für das Wirbelsäulenleiden nur schwer zu vereinbaren ist. Weder die von dem Kläger vorgetragene Atemnot noch die von der Allgemeinmedizinerin Dipl.-Med. B und der Ärztin Dr. E übereinstimmend mitgeteilte Sturzgefahr finden in der Entscheidung des Sozialgerichts Erwähnung. Ferner hat es die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" auch im Hinblick auf die funktionellen Auswirkungen der Adipositas verneint, ohne überhaupt Feststellungen zum BMI des Klägers getroffen zu haben.
Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Sozialgericht nach gebotener Aufklärung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, ist der danach vorliegende Verfahrensmangel auch wesentlich.
3. Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat das Gericht das Interesse des Klägers an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich angesichts der erheblichen Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei hat es berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und weitere tatsächliche Ermittlungen erfordert, weshalb der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom Sozialgericht unterlassenen Aufklärung praktisch eingetreten ist, besonders ins Gewicht fiel. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Denn das gesamte Verfahren vor dem Senat hat vom Eingang der Berufung am 27. April 2011 bis zum Tag der Verkündung des Urteils nur knapp vier Monaten in Anspruch genommen, so dass es prozess-ökonomischer erscheint, dem Sozialgericht zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts zu geben. Zudem haben die Beteiligten übereinstimmend die Zurückverweisung an das Sozialgericht beantragt.
Überdies ist ferner zu berücksichtigen, dass auch die Verwaltung dem Gebot der Amtsermittlung unterliegt. Dieses verletzt sie in der Regel, wenn ein medizinischer Sachverhalt nicht durch ärztliche Untersuchung des Betroffenen, sondern lediglich im schriftlichen Wege - etwa wie auch vorliegend durch ärztliche Äußerungen "vom Schreibtisch aus" - geprüft wird (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, a. a. O.). Mangels entsprechender Ermittlungen durch den Beklagten im Verwaltungsverfahren hätte das Sozialgericht auch erwägen können, von der Vorschrift des § 131 Abs. 5 Sätze 1 und 2 SGG Gebrauch zu machen und das Verfahren an den Beklagten zurückzuverweisen. In einer solchen Situation darf dem Kläger jedenfalls nicht auch noch die erste Tatsacheninstanz genommen werden.
4. Das Sozialgericht hat nunmehr zur Aufklärung des Sachverhalts eine Begutachtung des Klägers durch Sachverständige auf orthopädischem und auf lungenfachärztlichem Fachgebiet zu veranlassen. Hierbei sind neben der dem Kläger zumutbaren Gehstrecke insbesondere die Schwere dessen Wirbelsäulenleidens und der Grad dessen Adipositas zu ermitteln.
Das Sozialgericht wird in seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht gegeben.
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