Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 86 P 807/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 P 54/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 18. August 2011 geändert. Die aufschiebende Wirkung der beim Sozialgericht Berlin anhängigen Klage (Az: S 86 P 708/10) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 13. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2010 wird ab dem 01. Juni 2012 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis zum 30. November 2012, angeordnet. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten. Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt. R, straße B, bewilligt.
Gründe:
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig und nach Maßgabe des Tenors begründet; im Übrigen ist die Beschwerde unbegründet.
Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, wie vorliegend die Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen den Entziehungsbescheid der Antragsgegnerin vom 13. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2010 gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Voraussetzung für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ist, dass das Interesse des Einzelnen an der aufschiebenden Wirkung gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Bescheides überwiegt. Zu dieser Abwägung ist der in § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG enthaltene Maßstab für eine Aussetzung der Vollziehung durch die Verwaltung entsprechend heranzuziehen. Danach soll die Aussetzung der Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Das ist der Fall, wenn der Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlicher ist als sein Misserfolg (vgl. u. a. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Oktober 2010, L 27 P 48/10 B ER, - juris). Ist der Verfahrensausgang dagegen als offen zu bezeichnen, ist darüber hinaus bei der erforderlichen Interessenabwägung in Anlehnung an die vom Bundesverfassungsgericht zur einstweiligen Anordnung entwickelten Grundsätze (vgl. etwa Beschlüsse vom 12. Mai 2005, Az. 1 BvR 569/05, und vom 25. Februar 2009, Az. 1 BvR 120/09 - juris) auch die Schwere und Unabänderlichkeit des Eingriffs zu berücksichtigen; in dieser Beziehung hat das Vollziehungsinteresse umso eher zurückzustehen, je schwerer und nachhaltiger die durch die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen, insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz, wiegen.
Die danach gebotene Interessenabwägung führt hier zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach Maßgabe des Tenors.
Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind gegenwärtig als offen anzusehen. Rechtsgrundlage für die vorliegend erfolgte Entziehung der Pflegestufe I mit Ablauft des 30. April 2010 ist § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen die bei Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Hierbei sind die zum Zeitpunkt der Entziehung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse (hier im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung mit Widerspruchsbescheid vom 10. November 2010) mit jenen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung (hier im Dezember 2008) vorhanden gewesen sind, zu vergleichen. Für das Vorliegen dieser Änderung trifft die Antragsgegnerin die materielle Beweislast.
Vorliegend liegt zwar das von der Antragsgegnerin in Auftrag gegebene Gutachten des MDK vom 10. Dezember 2009 sowie das erstinstanzlich eingeholte Gutachten der Sachverständigen W vom 18. Juli 2011 vor, wonach die zeitlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der Pflegestufe I nicht mehr erreicht werden. Mit Blick auf die von der Antragstellerin gegen das Gutachten der Sachverständigen W vorgebrachten Einwendungen steht jedoch die vom Sozialgericht in Auftrag gegebene ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen aus. Die Frage der Rechtsmäßigkeit der Entziehungsverfügung ist damit weiterhin ungeklärt. Eine abschließende Prüfung, ob sich der Gesundheitszustand der Antragstellung bei einer vergleichenden Betrachtung im hier maßgeblichen Entziehungszeitpunkt im Vergleich zum Zeitpunkt der Bewilligung derart gebessert hat, dass mit Ablauf des 30. April 2010 ein Anspruch auf Leistungen nach der Pflegestufe I nicht mehr besteht, ist zur Überzeugung des Senats daher gegenwärtig nicht möglich.
Sind mithin die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen zu betrachten, gebietet die vorzunehmende Interessenabwägung dem Aufschubinteresse der Antragstellerin den Vorrang einzuräumen. Dabei fällt insbesondere ins Gewicht, dass nach den glaubhaften Ausführungen der Antragstellerin mangels vorhandener eigener finanzieller Mittel die Pflege jedenfalls gegenwärtig nicht ausreichend gesichert ist. Demgegenüber erschöpft sich das Interesse der Antragsgegnerin überwiegend darin, dass keine Leistungen (vorläufig) zu Unrecht erbracht werden. Anders als die Nichtgewährung von Pflegeleistungen kann indes die unrechtmäßige Erbringung der streitigen Leistungen der Pflegestufe I durch die Rückforderung der Geldleistungen rückgängig gemacht werden. Bei der Nichtgewährung notwendiger Pflegeleistungen indes wäre die erforderliche Pflege der Antragstellerin als körperliches Grundbedürfnis nicht sichergestellt.
Dem Interesse der Antragstellerin zur Abwendung eines Pflegenotstandes wird allerdings dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ab Beginn des Monats der Entscheidung des Senats befristet für 6 Monate angeordnet wird. Für darüber hinausgehende vergangene Zeiträume fällt die Interessenabwägung indes zu Lasten der Antragstellerin aus, da es insoweit letztlich allein um einen finanziellen Ausgleich für in der Vergangenheit erbrachte Pflegeleistungen geht; die diesbezügliche Klärung muss der Hauptsache vorbehalten bleiben. Überdies war die Anordnung in zeitlicher Hinsicht auf die Zeit bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu begrenzen, um widerstreitende Ergebnisse zu vermeiden. Des Weiteren war der Anordnungszeitraum auf längstens 6 Monate zu befristen. Mit Blick auf das bereits seit Ende 2010 anhängige Klageverfahren und die insoweit laufenden Ermittlungen sieht der Senat jedenfalls keinen Anlass, zur Abwendung eines gegenwärtigen Pflegenotstandes eine darüber hinausgehende Anordnung zu treffen.
Für die Antragstellerin dürfte es ratsam sein, nicht zuletzt mit Blick auf die nunmehr vorgetragene Veränderung bzw. Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes, einen Neuantrag bei der Antragsgegnerin zu stellen, da Gegenstand des von ihr geführten Klageverfahrens nur die Frage der Leistungsentziehung nach § 48 SGB X durch Bescheid vom 13. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2010 ist, mithin Änderungen in den tatsächlichen Verhältnissen nach Ablauf des hier allein maßgeblichen Entziehungszeitpunktes in diesem Verfahren nicht mehr zu berücksichtigen sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe folgt aus § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 114 ff., 121 Abs. 2 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Gründe:
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig und nach Maßgabe des Tenors begründet; im Übrigen ist die Beschwerde unbegründet.
Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, wie vorliegend die Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen den Entziehungsbescheid der Antragsgegnerin vom 13. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2010 gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Voraussetzung für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ist, dass das Interesse des Einzelnen an der aufschiebenden Wirkung gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Bescheides überwiegt. Zu dieser Abwägung ist der in § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG enthaltene Maßstab für eine Aussetzung der Vollziehung durch die Verwaltung entsprechend heranzuziehen. Danach soll die Aussetzung der Vollziehung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Das ist der Fall, wenn der Erfolg des Rechtsbehelfs wahrscheinlicher ist als sein Misserfolg (vgl. u. a. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Oktober 2010, L 27 P 48/10 B ER, - juris). Ist der Verfahrensausgang dagegen als offen zu bezeichnen, ist darüber hinaus bei der erforderlichen Interessenabwägung in Anlehnung an die vom Bundesverfassungsgericht zur einstweiligen Anordnung entwickelten Grundsätze (vgl. etwa Beschlüsse vom 12. Mai 2005, Az. 1 BvR 569/05, und vom 25. Februar 2009, Az. 1 BvR 120/09 - juris) auch die Schwere und Unabänderlichkeit des Eingriffs zu berücksichtigen; in dieser Beziehung hat das Vollziehungsinteresse umso eher zurückzustehen, je schwerer und nachhaltiger die durch die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen, insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz, wiegen.
Die danach gebotene Interessenabwägung führt hier zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach Maßgabe des Tenors.
Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind gegenwärtig als offen anzusehen. Rechtsgrundlage für die vorliegend erfolgte Entziehung der Pflegestufe I mit Ablauft des 30. April 2010 ist § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen die bei Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Hierbei sind die zum Zeitpunkt der Entziehung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse (hier im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung mit Widerspruchsbescheid vom 10. November 2010) mit jenen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung (hier im Dezember 2008) vorhanden gewesen sind, zu vergleichen. Für das Vorliegen dieser Änderung trifft die Antragsgegnerin die materielle Beweislast.
Vorliegend liegt zwar das von der Antragsgegnerin in Auftrag gegebene Gutachten des MDK vom 10. Dezember 2009 sowie das erstinstanzlich eingeholte Gutachten der Sachverständigen W vom 18. Juli 2011 vor, wonach die zeitlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der Pflegestufe I nicht mehr erreicht werden. Mit Blick auf die von der Antragstellerin gegen das Gutachten der Sachverständigen W vorgebrachten Einwendungen steht jedoch die vom Sozialgericht in Auftrag gegebene ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen aus. Die Frage der Rechtsmäßigkeit der Entziehungsverfügung ist damit weiterhin ungeklärt. Eine abschließende Prüfung, ob sich der Gesundheitszustand der Antragstellung bei einer vergleichenden Betrachtung im hier maßgeblichen Entziehungszeitpunkt im Vergleich zum Zeitpunkt der Bewilligung derart gebessert hat, dass mit Ablauf des 30. April 2010 ein Anspruch auf Leistungen nach der Pflegestufe I nicht mehr besteht, ist zur Überzeugung des Senats daher gegenwärtig nicht möglich.
Sind mithin die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen zu betrachten, gebietet die vorzunehmende Interessenabwägung dem Aufschubinteresse der Antragstellerin den Vorrang einzuräumen. Dabei fällt insbesondere ins Gewicht, dass nach den glaubhaften Ausführungen der Antragstellerin mangels vorhandener eigener finanzieller Mittel die Pflege jedenfalls gegenwärtig nicht ausreichend gesichert ist. Demgegenüber erschöpft sich das Interesse der Antragsgegnerin überwiegend darin, dass keine Leistungen (vorläufig) zu Unrecht erbracht werden. Anders als die Nichtgewährung von Pflegeleistungen kann indes die unrechtmäßige Erbringung der streitigen Leistungen der Pflegestufe I durch die Rückforderung der Geldleistungen rückgängig gemacht werden. Bei der Nichtgewährung notwendiger Pflegeleistungen indes wäre die erforderliche Pflege der Antragstellerin als körperliches Grundbedürfnis nicht sichergestellt.
Dem Interesse der Antragstellerin zur Abwendung eines Pflegenotstandes wird allerdings dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ab Beginn des Monats der Entscheidung des Senats befristet für 6 Monate angeordnet wird. Für darüber hinausgehende vergangene Zeiträume fällt die Interessenabwägung indes zu Lasten der Antragstellerin aus, da es insoweit letztlich allein um einen finanziellen Ausgleich für in der Vergangenheit erbrachte Pflegeleistungen geht; die diesbezügliche Klärung muss der Hauptsache vorbehalten bleiben. Überdies war die Anordnung in zeitlicher Hinsicht auf die Zeit bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu begrenzen, um widerstreitende Ergebnisse zu vermeiden. Des Weiteren war der Anordnungszeitraum auf längstens 6 Monate zu befristen. Mit Blick auf das bereits seit Ende 2010 anhängige Klageverfahren und die insoweit laufenden Ermittlungen sieht der Senat jedenfalls keinen Anlass, zur Abwendung eines gegenwärtigen Pflegenotstandes eine darüber hinausgehende Anordnung zu treffen.
Für die Antragstellerin dürfte es ratsam sein, nicht zuletzt mit Blick auf die nunmehr vorgetragene Veränderung bzw. Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes, einen Neuantrag bei der Antragsgegnerin zu stellen, da Gegenstand des von ihr geführten Klageverfahrens nur die Frage der Leistungsentziehung nach § 48 SGB X durch Bescheid vom 13. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. November 2010 ist, mithin Änderungen in den tatsächlichen Verhältnissen nach Ablauf des hier allein maßgeblichen Entziehungszeitpunktes in diesem Verfahren nicht mehr zu berücksichtigen sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe folgt aus § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 114 ff., 121 Abs. 2 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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