L 13 SB 76/12

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 33 SB 1735/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 76/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. März 2012 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens – an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 durch den Beklagten.

Der 1945 geborene Kläger beantragte erstmals am 21. Januar 2009 beim Beklagten die Feststellung eines GdB. Dabei gab er an, an einem beidseitigem chronischem Glaukom, einem Diabetes Typ II, einem Bluthochdruck, einer benignen Prostatahyperplasie, einer Blasenentleerungsstörung, einer Urgeinkontinenz, einer diabetischen Polyneuropathie, einer Hörminderung und einem grauen Star zu leiden. Der Beklagte holte Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte sowie eine versorgungsärztliche Stellungnahme vom 18. Juni 2009 ein, in der folgende Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers beschrieben wurden:

Diabetes mellitus (schwer einstellbar, tablettenpflichtig), Polyneuropathie (Einzel-GdB 30) (geringgradige) Schwerhörigkeit beidseits (Einzel-GdB 20) Depression (mit Angstzuständen) (Einzel-GdB 20) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschäden (Einzel-GdB 20) Funktionsbehinderung des Schultergelenks links (Einzel-GdB 10) Prostatavergrößerung (Einzel-GdB 10) Bluthochdruck (Einzel-GdB 10) Eingepflanzte Kunstlinse rechts (Einzel-GdB 10)

Der Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 10. September 2009 bei dem Kläger einen GdB von 40 sowie das Bestehen einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit fest. Aufgrund des gegen den Bescheid vom Kläger eingelegten Widerspruchs ließ der Beklagte den Kläger augenfachärztlich begutachten. Die Augenärztin Dr. T konnte in ihrem Gutachten vom 8. April 2010 nach Untersuchung von Visus und Gesichtsfeld keinen GdB feststellen. Daraufhin wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 9. August 2010 – zugestellt am 12. August 2010 – mit der Begründung zurück, die bei dem Kläger bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen seien mit einem GdB von 40 angemessen bewertet.

Der Kläger hat am 13. September 2010, einem Montag, Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der er die Feststellung eines GdB von mindestens 50 ab Antragstellung mit der Begründung geltend gemacht hat, der Beklagte habe insbesondere ein bei ihm bestehendes "Scheuermann-Syndrom" sowie einen beidseitigen Grünen Star bei der Bewertung nicht berücksichtigt. Entgegen der Ansicht des Beklagten bestünde bei ihm eine Gesichtsfeldeinschränkung. Der Kläger nimmt zur weiteren Begründung Bezug auf ein Attest seines behandelnden Orthopäden Dipl. Med. P vom 1. September 2011 sowie seines behandelnden HNO-Arztes vom 13. Dezember 2011, auf die ebenso verwiesen wird wie auf die nachfolgend genannten Unterlagen. Das Sozialgericht hatte zuvor Befundberichte der den Kläger behandelnden Allgemeinmedizinerin M vom 28. März 2011 und des Allgemeinmediziners S vom 11. August 2011 eingeholt. Der Beklagte hat dazu jeweils versorgungsärztliche Stellungnahmen vorgelegt.

Das Sozialgericht Berlin hat die Klage nach Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 20. März 2012 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40. Für die Diabetes-Erkrankung des Klägers könne höchstens ein GdB von 20 anerkannt werden, da nach den Angaben der behandelnden Ärzte des Klägers keine Insulinpflicht bestehe und keine täglichen Blutzuckerkontrollen notwendig seien. Auch seien keine Hypoglykämien bekannt. Eine Polyneuropathie sei nicht steigernd, sondern vielmehr gesondert zu bewerten, bestehe jedoch nach den vorliegenden ärztlichen Unterlagen nicht. Weiterhin könne den aktuellen ärztlichen Unterlagen keine psychische Störung des Klägers entnommen werden. Eine solche sei lediglich in einem stationären Entlassungsbericht aus dem Jahre 2004 erwähnt, während eine fachspezifische Behandlung nie stattgefunden habe. Die Bewertung einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit einem GdB von 20 erscheine großzügig, weil der lediglich einmal von dem Kläger konsultierte Orthopäde keine Funktionseinbußen der Wirbelsäule, sondern lediglich Diagnosen mitgeteilt habe, und die Hausärzte des Klägers angegeben hätten, dass Wirbelsäulenbefunde wegen fehlender Beschwerdeangaben nicht untersucht worden seien. Hinsichtlich der von dem Kläger geltend gemachten Seheinschränkungen habe dieser zur Begründung seines Begehrens keine die Entscheidung des Beklagten in Frage stellenden Befunde benennen können.

Der Kläger hat am 27. April 2012 Berufung zum Landessozialgericht Berlin-Brandenburg gegen den ihm am 27. März 2012 zugestellten Gerichtsbescheid eingelegt und trägt zur Begründung vor, dass mangels Einholung eines Sachverständigengutachtens mit persönlicher Untersuchung nicht seine sämtlichen Behinderungen und deren Zusammenwirken berücksichtigt worden seien. Insbesondere leide er an einer sich verschlechternden Innenohrschwerhörigkeit, einer Schilddrüsenunterfunktion und Gesichtsfeldeinschränkungen mit jeweils erheblichen Funktionsbeeinträchtigungen und sei unter anderem wegen chronischer Schmerzen in regelmäßiger orthopädisch-unfallchirurgischer Behandlung.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. März 2012 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen, hilfsweise den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 10. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. August 2010 zu verpflichten, bei dem Kläger ab dem 21. Januar 2009 einen GdB von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. März 2012 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen, hilfsweise die Berufung zurückzuweisen.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet.

Die Zurückverweisung beruht auf § 105 Absatz 1 Satz 3 in Verbindung mit § 159 Absatz 1 Nr. 2 SGG in der seit dem 1. Januar 2012 geltenden Fassung des Artikel 8 Nr. 8a des Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22. Dezember 2001 (BGBl. I. S. 3057). Danach kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (I.) und – so die Neufassung des Gesetzes – auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist (II.).

I. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Absatz 1 Nr. 2 SGG ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts darauf beruhen kann (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage, Rn. 3a zu § 159 SGG). Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet in zweierlei Hinsicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Zum einen hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden, obwohl die dafür gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren (1.). Zum anderen hat das Sozialgericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (2.).

1. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter im Wege des Gerichtsbescheids ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Absatz 1 Satz 2 SGG) entschieden, obwohl die Voraussetzungen von § 105 Absatz 1 Satz 1 SGG nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es den Kläger entgegen Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz seinem gesetzlichen Richter, nämlich der Kammer in voller Besetzung (§ 12 Absatz 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 125 SGG), entzogen.

Nach § 105 Absatz 1 Satz 1 SGG ist der Erlass eines Gerichtsbescheides nur dann möglich, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht gegeben. Unabhängig davon, dass Gerichtsbescheide in medizinisch geprägten Fällen ohnehin nur äußerst zurückhaltend eingesetzt werden sollten, ist nicht zu erkennen, dass der Sachverhalt geklärt ist. Ein Sachverhalt ist grundsätzlich nur dann als geklärt im Sinne des § 105 Absatz 1 Satz 1 SGG anzusehen, wenn ein verständiger Prozessbeteiligter in Kenntnis des gesamten Prozessstoffes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zugrunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhalts haben wird. Denn unter dem Tatbestandsmerkmal des § 105 Absatz 1 Satz 1 SGG, dass der Sachverhalt geklärt sein muss, ist mehr zu verstehen als die dem Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren ohnehin gemäß §§ 103, 106 SGG obliegende Verpflichtung zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen. Dass die Voraussetzungen in § 105 Absatz 1 Satz 1 SGG enger zu fassen sind, folgt aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber für den Gerichtsbescheid einen geklärten Sachverhalt als zusätzliche Voraussetzung ausdrücklich in den Wortlaut aufgenommen hat (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011 – L 13 SB 80/10, bei Juris).

Hier haben die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter nicht vorgelegen, da das Sozialgericht bereits nicht seiner allgemeinen Amtsermittlungspflicht hinreichend Rechnung getragen hat (siehe dazu unter 2.). Der bestehende Besetzungsmangel ist auch als wesentlich anzusehen, weil nicht ausgeschlossen kann, dass die Kammer in ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.

2. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft gegen seine Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG verstoßen, wonach alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln sind.

Für die Entscheidung über die streitige Höhe des Gesamt-GdB kam es nach eigener Sicht des Sozialgerichts wesentlich darauf an, welche Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Kläger bestehenden und wie die hieraus folgenden Teilhabeeinschränkungen einzuschätzen sind.

Die Aufklärung eines medizinisch geprägten Sachverhalts durch ein Tatsachengericht unterliegt in allen Gerichtsinstanzen einheitlichen Qualitätsanforderungen. Im Hinblick auf die Amtsermittlung erstinstanzlicher Gerichte sind danach im Grundsatz die gleichen Anforderungen heranzuziehen, die auch das Bundessozialgericht (BSG) an die Sachverhaltsaufklärung durch die Landessozialgerichte stellt (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, a.a.O.). In einem – wie dem Schwerbehindertenrecht – medizinisch geprägtem Sachgebiet darf sich ein Gericht mangels entsprechender medizinischer Fachkenntnisse nicht allein auf die aktenkundigen ärztlichen Unterlagen und die dazu nach Aktenlage ergangenen versorgungsärztlichen Stellungnahmen stützen. Auch berechtigen etwaige medizinische Grundkenntnisse, die im Zuge der richterlichen Tätigkeit in betreffenden Sparten erworben wurden, jedenfalls nicht zu einer eigenständigen Beurteilung medizinischer Sachverhalte. Soweit das Gericht einen medizinischen Sachverhalt auf Grund eigener Sachkunde bewerten will, ist überdies darzulegen, auf welcher Grundlage diese Sachkunde beruht, damit die Beteiligten hierzu Stellung nehmen können (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987 – 9a RV 36/85, SozR 1500 § 128 Nr. 31). Die Auswertung eingeholter Befundberichte der behandelnden Ärzte genügt im Regelfall nicht, um den Erfordernissen der Amtsermittlung gerecht zu werden. Sie sind nur schriftliche Zeugenaussagen. Den behandelnden Ärzten fehlt überdies in aller Regel eine sozialmedizinische Schulung und Erfahrung. Außerdem sollte die richterliche Sachaufklärung nicht (auch nicht ungewollt) dazu führen, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient beeinträchtigt wird, solange geeignetere Methoden der Sachverhaltsaufklärung zur Verfügung stehen. Zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht bedarf es nach alledem regelmäßig der Einholung eines Sachverständigengutachtens, wobei sowohl im Hinblick auf das jeweilige medizinische Fachgebiet als auch im Hinblick auf die sozialmedizinischen Erfordernisse auf eine hinreichende Qualifikation und Erfahrung von Sachverständigen zu achten ist (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, a.a.O.). Dies ist im Verfahren des ersten Rechtszuges insoweit versäumt worden, als lediglich Befundberichte eingeholt worden sind.

Das Sozialgericht hätte sich zu weiteren medizinischen Ermittlungen gedrängt fühlen müssen. Es ist nicht hinreichend aufgeklärt worden, welche Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Kläger bestehen und welche Teilhabebeeinträchtigungen sie zeitigen. Im Hinblick auf die Diabeteserkrankung des Klägers berichten die den Kläger behandelnden Allgemeinmediziner M und S übereinstimmend, dass die Blutzuckerwerte des Klägers wegen dessen fehlender Compliance schlecht einzustellen seien und fortlaufend seit 2009 stiegen. Ob eine Polyneuropathie vorliegt, bleibt nach den Berichten der behandelnden Ärzte unklar und wäre durch eine Begutachtung des Klägers ebenso zu klären wie die Frage, ob und ggf. welche Einschnitte in der Lebensführung des Klägers durch die Therapie auftreten. Angesichts der berichteten fehlenden Mitarbeit des Klägers und der aus den vorhandenen medizinischen Unterlagen zu entnehmenden Hinweise auf eine seelische Erkrankung bestehen zumindest Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger seinen behandelnden Ärzten diesbezüglich keine umfänglichen Angaben gemacht haben könnte. In diesem Zusammenhang ist zudem festzustellen, dass auf psychiatrischem Sachgebiet nicht – wie das Sozialgericht meint – lediglich ein Krankenhausbericht aus dem Jahr 2004 vorliegt, der von einer depressiven Stimmungslage des Klägers berichtet, sondern auch die Mitteilung der Allgemeinmedizinerin M in ihrem Befundbericht vom 19. März 2009. Der Allgemeinmediziner S beschreibt als vom Kläger geäußerte Beschwerden neben lumbalen Beschwerden und Harndrang auch psychoreaktive Zustände. Anhaltspunkte für weiteren Aufklärungsbedarf folgen schließlich auch auf neurologisch/schmerz-therapeutischem sowie orthopädischem Fachgebiet. Der den Kläger behandelnde Orthopäde Dipl. Med. P hat den Kläger entgegen der Einschätzung des Sozialgerichts ausweislich der vorgelegten Rechnung vom 30. August 2012 auch schon vor dem 25. August 2011 behandelt und ist damit nicht nur einmal konsultiert worden. Bereits gegenüber dem Sozialgericht hat der Orthopäde – der Befundbericht wurde vom Kläger beigebracht und nicht etwa vom Sozialgericht eingeholt – angegeben, bei dem Kläger lägen neben chronischen Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten häufig rezidivierende Bewegungseinschränkungen vor. Der Kläger sei durch Fußdeformitäten in seinem Bewegungsradius eingeschränkt. Damit hat der Orthopäde tatsächlich nicht nur Diagnosen, sondern auch Funktionsbeeinträchtigungen angegeben, denen durch Einholung eines Gutachtens hätte nachgegangen werden müssen. Mit der Berufung werden auch chronische Schmerzen geltend gemacht; die vorgelegte Rechnung deutet auf eine Behandlung mit Injektionen hin. Auch den sich daraus stellenden Fragen hätte das Sozialgericht im Wege der Beweiserhebung nachgehen müssen.

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Sozialgericht nach gebotener Aufklärung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, ist der danach vorliegende Verfahrensmangel auch wesentlich.

II. Auf Grund der unvollständigen Sachverhaltsaufklärung bleibt eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig. Davon ist auszugehen, wenn sie einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erfordert (vgl. BT-Drucks. 17/6764, S. 27, zu Artikel 8 Nr. 8). Dies ist hier der Fall. Denn vorliegend muss der Sachverhalt dadurch weiter aufgeklärt werden, dass Gutachten auf den Gebieten Inneres, Psychiatrie, Neurologie/Schmerztherapie und Orthopädie gemäß § 106 Absatz 3 Nr. 5 SGG einzuholen sind. Soweit das Sozialgericht einen Allgemeinmediziner als geeignet ansieht, die auf diesen Fachgebieten liegenden einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen zu ermitteln und die Teilhabebeeinträchtigung des Klägers in ihrer Gesamtheit zu würdigen, wird es diesem auch die Frage nach der Notwendigkeit der Einholung weiterer – fachärztlicher – Sachverständigengutachten zu stellen und – sollte diese bejaht werden – dieser Empfehlung nachzukommen haben. Bereits mit der Einholung eines Gutachtens ist typischerweise der Einsatz erheblicher sächlicher und mit Blick auf die Auswertung und Bewertung des einzuholenden Gutachtens auch erheblicher personeller Mittel verbunden, das je nach der Sach- und Rechtslage ggf. auch weitere Ermittlungen nach sich ziehen kann (vgl. Urteil des Senats vom 27. Januar 2010, L 13 SB 212/11).

III. Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse des Klägers an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich angesichts der erheblichen Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei hat es berücksichtigt, dass der Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und weitere tatsächliche Ermittlungen erfordert, weshalb der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom Sozialgericht unterlassenen vollständigen Aufklärung des Sachverhalts praktisch eingetreten ist, besonders ins Gewicht fällt. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Denn das gesamte Verfahren vor dem Senat hat vom Eingang der Berufung am 27. April 2012 bis zum Tag der Verkündung des Urteils nur knapp sieben Monate in Anspruch genommen, so dass es prozessökonomischer erscheint, dem Sozialgericht zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts zu geben. Zudem haben die Beteiligten selbst übereinstimmend die Zurückverweisung an das Sozialgericht beantragt.

Aufgrund des Erfolgs des Hauptantrags ist über den Hilfsantrag nicht mehr zu befinden.

Das Sozialgericht wird in seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Absatz 2 SGG) sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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