L 13 AL 4524/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 20 AL 4837/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AL 4524/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Besteht bei einer arbeitslosen Schwangeren trotz Beschäftigungsverbot keine Arbeitsunfähigkeit ist die für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erforderliche Verfügbarkeit zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Lücke (Art. 6 Abs. 4 GG) zu fingieren ( so auch LSG Hessen, Urteil vom 20. 08. 2007, L 9 AL 35/04)
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. August 2009 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Anspruchsberechtigung der Klägerin zum Bezug von Arbeitslosengeld (Alg) streitig.

Die 1976 geborene Klägerin war ab 15. September 2004 bis zuletzt 31. Mai 2008 befristet beschäftigt bei der KSD GmbH als Altenpflegehelferin. Bei der Untersuchung am 21. Januar 2008 wurde bei der Klägerin eine Schwangerschaft in der zehnten Schwangerschaftswoche festgestellt. Der mutmaßliche Tag der Entbindung wurde auf den 20. August 2008 festgesetzt und der letzte Arbeitstag vor Mutterschutzbeginn auf den 8. Juli 2008 (siehe Schwangerschaftsbescheinigung der Dr. He. vom 21. Januar 2008). Unter dem 13. März 2008 sprach Dr. He. gemäß § 3 Abs. 1 Mutterschutzgesetz (MuSchG) mit Wirkung vom 13. März 2008 ein Beschäftigungsverbot aus, da Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung gefährdet sei (siehe Bescheinigung vom 13. März 2008).

Am 8. Mai 2008 meldete sich die Klägerin mit Wirkung zum 1. Juni 2008 arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg. Mit Bescheid vom 10. Juni 2008 lehnte die Beklagte die Bewilligung von Alg mit der Begründung ab, dass die Klägerin nicht arbeitslos sei. Sie könne eine mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende Beschäftigung nicht aufnehmen. Am 16. Juni 2008 erhob die Klägerin unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des LSG Hessen vom 20. August 2007, L 9 AL 35/04, Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2.Juli 2008 als unbegründet zurückwies.

Am 14. Juli 2008 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben und ihr Begehren weiterverfolgt. Es habe keine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, sondern ein Beschäftigungsverbot allein aus der Einstufung der Schwangerschaft als Risikoschwangerschaft vorgelegen. Zwar habe sie damit den Vermittlungsbemühungen der Beklagten nicht zur Verfügung gestanden; gleichwohl sei der Klägerin Alg zu gewähren, da ansonsten schwangere Arbeitslose verfassungswidrig benachteiligt würden. Mit Beschluss vom 5. November 2008 hat das SG die Krankenkasse der Klägerin beigeladen. Das SG hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts Dr. He. als sachverständige Zeugin schriftlich einvernommen. In ihrer Stellungnahme vom 18. November 2008 gab sie an, dass es sich nach einer Invitrofertilisation (IVF) um eine Risiko-Zwillingsschwangerschaft gehandelt habe. Aufgrund eines immer wieder auftretenden Ziehens im Bauch schon ab der 17. Schwangerschaftswoche habe die Gefahr einer Frühgeburt bestanden. Beschwerden oder Erkrankungen, die zu einer Arbeitsunfähigkeit geführt hätten, hätten nicht vorgelegen. Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, der Klägerin ab dem 1. Juni 2008 Arbeitslosengeld in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Gegen das der Beklagten nach ihren Angaben am 3. September 2009 zugestellte Urteil hat sie am 2. Oktober 2009 Berufung eingelegt und vorgetragen, aufgrund des Beschäftigungsverbotes sei die Klägerin körperlich nicht in der Lage gewesen, eine Beschäftigung aufzunehmen noch habe sie dies dürfen. Angesichts des immer wieder auftretenden Ziehens im Bauch sei auch nicht von einer normalen Schwangerschaft auszugehen, weshalb eine Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung vorgelegen habe. Schließlich habe das BSG in seinem Urteil vom 9. September 1999, B 11 AL 77/98 R, ausgeführt, dass ein generelles Beschäftigungsverbot ohne eine Verfügbarkeit ausschließende Arbeitsunfähigkeit nicht denkbar sein dürfte. § 126 SGB III sei bereits deshalb nicht einschlägig, da sie vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit keinen Leistungsanspruch erworben habe. Eine planwidrige Gesetzeslücke liege nicht vor, da auch bei einem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 2 MuSchG eine Verfügbarkeit nicht gegeben sei, weshalb davon ausgegangen werde, dass der Gesetzgeber auch in Fällen des gesetzten Beschäftigungsverbotes nach § 3 Abs. 1 MuSchG einen Anspruch auf Alg bewusst ausschließen wolle. Festzuhalten bleibe, dass in den Regeln zum MuSchG eine Entgeltleistung bzw. Sozialleistung für Mütter, die arbeitslos werden und unter das Beschäftigungsverbot fallen, nicht getroffen worden sei, was aber nicht dazu führen könne, dass ein Anspruch auf Alg für diese Zeit fingiert werde.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. August 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§ 151 SGG) ist zulässig, aber unbegründet. Das angefochtene Urteil des SG hat zu Recht den angefochtenen Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Alg ab 1. Juni 2008 in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Nach § 117 Abs. 1 Nr. 1 SGB III haben Arbeitnehmer Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit. Anspruch auf Alg bei Arbeitslosigkeit hat nach § 118 Abs. 1 SGB III derjenige, der arbeitslos ist (Nr. 1), sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet (Nr.2) und die Anwartschaftszeit erfüllt hat (Nr. 3). Die Klägerin hat sich bei der Beklagten am 8. Mai 2008 zum 10. Juni 2008 arbeitslos gemeldet. Sie hat auch die Anwartschaftszeit erfüllt, da sie innerhalb der Rahmenfrist von zwei Jahren mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat (vgl. §§ 123, 124, 25 SGB III). Die Klägerin war entgegen der Auffassung der Beklagten aber auch arbeitslos. Arbeitslosigkeit liegt gemäß § 119 Abs. 1 SGB III vor, wenn der Arbeitnehmer nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit), sich bemüht, seine Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Eigenbemühungen) und den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht (Verfügbarkeit). Den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit steht gemäß § 119 Abs. 5 Nr. 1 SGB III zur Verfügung, wer eine versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende zumutbare Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarktes ausüben kann und darf.

Zwar schließt das Bestehen eines Beschäftigungsverbotes gemäß § 3 Abs. 1 MuSchG die objektive Verfügbarkeit aus, da nach § 3 Abs. 1 MuSchG werdende Mütter nicht beschäftigt werden dürfen, soweit nach ärztlichem Zeugnis Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung gefährdet ist. Doch ist die Verfügbarkeit zu fingieren, da ansonsten eine verfassungswidrige Lücke entstünde.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Krankengeld, da eine Arbeitsunfähigkeit nicht vorliegt. Die behandelnde Frauenärztin hat überzeugend dargelegt, dass das Ziehen im Bauch Anzeichen für eine Frühgeburt sein könne, aber nicht zur krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit führt. Nicht überzeugend sind insofern die von der Beklagten vorgetragenen Ausführungen dahingehend, dass eine Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung vorgelegen habe. Soweit die Beklagte sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 9.September 1999 (B 11 AL 77/98 R) bezieht, wonach ein generelles Beschäftigungsverbot ohne die Verfügbarkeit ausschließende Arbeitsunfähigkeit nicht denkbar sein dürfte (veröffentlicht in juris, dort Randnummer 23), folgt dem der Senat - ebenso wie das SG - für den vorliegenden Sachverhalt nicht. Bei einem normalem Verlauf der Schwangerschaft mit üblichen Beschwerden liegt kein regelwidriger Körperzustand der Frau und damit keine Arbeitsunfähigkeit vor (BAG, Urteil vom 22. März 1995, 5 AZR 874/93, veröffentlicht in juris), auch wenn aufgrund der individuellen Konstitution der Schwangeren eine Gefährdung des Kindes oder der Mutter gegeben sein kann (vgl. Buchner/Becker, MuschG 8. Aufl. § 11 Rdnr. 47 ff.). Die behandelnde Frauenärztin hat überzeugend dargelegt, dass das wiederholt aufkommende Ziehen im Bauch kein regelwidriger Körperzustand der schwangeren Mutter darstellt; ein Ziehen im Bauch stellt weder eine Krankheit dar noch führt dies zur Arbeitsunfähigkeit. Arbeitsunfähig ist eine Schwangere, die ihre zuletzt ausgeübte Erwerbstätigkeit oder eine ähnlich geartete Tätigkeit nicht mehr im bisherigen Umfang oder nur auf die Gefahr hin, ihren Zustand zu verschlimmern, verrichten kann (Kasseler Kommentar, § 44 SGB V Rdnr. 10 ff. m.N. zur Rechtsprechung des BSG). Ein Ziehen im Bauch ist kein anormaler Verlauf der Schwangerschaft, sondern sind übliche Beschwerden einer Schwangerschaft; die Arbeitsfähigkeit wird dadurch nicht eingeschränkt. Weder verhindert das Ziehen die Tätigkeit als Altenpflegehelferin noch besteht die Gefahr, dass die Arbeit eine bestehende Krankheit weiter verschlechtert (s. hierzu BAG, NZA 2002, 738; Geyer/Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung, Krankengeld; Mutterschaftsgeld, § 11 Rdnr. 41b ff.). Es bestand allein auf Grund der durchgeführten künstlichen Befruchtung und der Zwillingsschwangerschaft die Gefahr einer Frühgeburt. Nach Auffassung des Senates handelt es sich auch um eine planwidrige Regelungslücke. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber bewusst den Schutz der schwangeren arbeitslosen Arbeitnehmerin geringer gestalten wollte, als den der schwangeren Arbeitnehmerin, die in einem Beschäftigungsverhältnis steht. Der schwangeren Arbeitslosen stünde bei Verneinung der Verfügbarkeit dann kein Anspruch auf Alg als Entgeltersatzleistung zu und sie hätte tatsächlich keine Möglichkeit, ein Arbeitseinkommen zu erzielen, da ihr eine Beschäftigung untersagt ist. Des Weiteren hat sie keinen Anspruch auf Krankengeld, solange nicht Arbeitsunfähigkeit hinzutritt. Zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 4 Grundgesetz ist demgemäß das Vorliegen von Verfügbarkeit zu fingieren (so auch Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 20. August 2007, L 9 AL 35/04; die hiergegen erhobene Nichtzulassungsbeschwerde wurde mit Beschluss des BSG vom 5.August 2008, B 11a AL 167/07B, zurückgewiesen). Damit wird sichergestellt, dass entsprechend dem MuSchG derjenige leistungspflichtig ist, der ohne das Beschäftigungsverbot auch leistungspflichtig wäre. Ob darüber hinaus ein Verstoß gegen Art. 3 GG vorliegt, da schwangere Erwerbstätige Leistungen erhielten, nicht hingegen schwangere Arbeitslose, braucht der Senat demnach nicht zu entscheiden, zumal die Angleichung durch den Gesetzgeber zu erfolgen hätte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Klage der Klägerin hat vollen Erfolg auch im Berufungsverfahren, so dass eine Kostenerstattung angemessen ist (zur Ermessensentscheidung s. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 9. Auflage, § 193 Rdnr. 12 ff.).

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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