S 2 SO 74/10

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 SO 74/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 SO 321/10 NZB
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 15.12.2009 und des Widerspruchsbescheides vom 08.03.2010 verpflichtet, der Klägerin Grundsicherungsleistungen aus dem ungekürzten Regelsatz zu bewilligen. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Klägerin wendet sich gegen die Kürzung der Grundsicherungsleistung unter dem Aspekt der häuslichen Ersparnis während einer stationären Krankenbehandlung.

Die Klägerin erhält von der Beklagten regelmäßig Leistungen der Grundsicherung. In der Zeit ab dem 23.11.2009 befand sich die Klägerin im Krankenhaus in C. Am 21.01.2010 wurde sie in die Reha nach C1 verlegt. Mit Bescheid vom 15.12.2009 bewilligte die Beklagte der Klägerin für den Monat Januar 2010 wiederum Leistungen der Grundsicherung. Dabei kürzte sie die Leistungen um 125,65 Euro. Irgendeine textliche Begründung hierzu enthält der Bescheid nicht. Gegen die Kürzung erhob die Klägerin Widerspruch. Die Kürzung des Regelsatzes sei nicht rechtens, schon gar nicht in der Höhe von 125,65 Euro, da im Regelsatz nur 40% für die Verpflegung vorgesehen seien. Mit Widerspruchsbescheid vom 08.03.2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII werde der Bedarf abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt sei. Während des stationären Krankenhausaufenthaltes werde der Bedarf insofern anderweitig gedeckt, als die Klägerin dort kostenlos vollständig verpflegt werde und insofern eigene Aufwendungen für die Ernährung einspart. Dem genannten Urteil des SG Detmold sei nicht zu folgen. In den Entscheidungen B 14 AS 22/07 R und B 4 AS 9/08 R habe das BSG eine abweichende Bedarfsfestsetzung im SGB XII für möglich erachtet.

Mit der dagegen erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Anliegen weiter. Eine Regelsatzkürzung während der Zeit des stationären Krankenhausaufenthaltes sei rechtswidrig. So sei zwar richtig, dass nach § 28 SGB XII der Regelsatz abweichend festgelegt werden könne, wenn der Bedarf anderweitig gedeckt sei. Da aber bei Krankenhausaufenthalten keine Ersparnis in der Haushaltskasse entstehe und die Beklagte keine individuellen Ermittlungen geführt habe, welche Aufwendungen tatsächlich durch den Krankenhausaufenthalt erspart worden seien, sei die Regelsatzkürzung rechtswidrig.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 15.12.2009 und des Widerspruchsbescheides vom 08.03.2010 zu verpflichten, ihr Grundsicherungsleistungen aus dem ungekürzten Regelsatz zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf ihre bisherigen Ausführungen.

Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte des Verwaltungsverfahrens.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin ist im Sinne von § 54 Absatz 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beschwert. Denn der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 15.12.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.03.2010 ist hinsichtlich der Kürzung der Leistungen der Grundsicherung wegen häuslicher Ersparnisse rechtswidrig und die Klägerin in ihren Rechten verletzt.

Die Klägerin hat für den Bewilligungszeitraum ab Januar 2009 Anspruch auf Grundsicherung in ungekürzter Höhe wie in den Monaten zuvor auch. Der gesamte Bedarf des notwendigen Lebensunterhalts ( ...) wird nach §§ 41 Nr. 1, 28 Abs. 1 SGB XII mit Ausnahme von Leistungen für Unterkunft und Heizung ( ...) nach Regelsätzen erbracht. Die Bedarfe werden abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist oder unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Die Klägerin hatte auch im Januar 2009 weder Einkommen noch Vermögen, das der Gewährung von Sozialhilfe entgegensteht. Insbesondere steht auch die in der Klinik gewährte Verpflegung einem Bedarf nicht als Einkommen entgegen. Insoweit wird auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts zu Aktenzeichen B 8/9b SO 21/06 R vom 11.12.2007 Bezug genommen. Davon, dass die Verpflegung ein Einkommen darstelle, geht im Übrigen auch die Beklagte nicht aus. Es liegt auch keine anderweitige Bedarfsdeckung nach § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII vor. Ein Bedarf ist grundsätzlich anderweitig gedeckt, wenn der Leistungsberechtigte einzelne Leistungen von Dritten erhält. Andererseits sind Kompensationsüberlegungen dergestalt, dass an anderer Stelle durch die besondere Situation höhere Kosten entstehen, zu berücksichtigen (dazu Grube-Wahrendorff, Kommentar zum SGB XII, § 28 Rdnr.1 2; Schellhorn, Kommentar zum SGB XII, § 28 Rdnr. 12 und 13 dort mit dem Beispiel eines Obdachlosen, der zwar keine Haushaltsenergie verbraucht, aber anderweitig höhere Kosten etwa für den Kauf warmer Mahlzeiten hat, gerade weil er auf der Straße lebt). Maßgeblich ist eine Gesamtbetrachtung (Schellhorn, a.a.O.). Das Bundessozialgericht hat zwar in seiner Entscheidung B 8/9b SO 21/06 R vom 11.12.2007 dargelegt, dass die regelmäßige Teilnahme an einem Mittagessen in einer Werkstatt für behinderte Menschen zu einer anteiligen, anderweitigen Bedarfsdeckung führt. Dabei ist die anderweitige Bedarfsdeckung dann aber nach den Ausführungen des BSG konkret zu ermitteln und nicht einmal das hat die Beklagte im hiesigen Verfahren gemacht. Bereits daran scheitert hier die Anrechnung einer anderweitigen Bedarfsdeckung, weil die Beklagte keine Aufstellung gemacht hat, welcher Wert der Klägerin zugeflossen ist und um welchen Betrag für vergebliche Aufwendungen allein im Bereich des Essens (verdorbene Lebensmittel daheim) dieser gegebenenfalls zu reduzieren ist. Stattdessen meint die hiesige Beklagte trotz der deutlichen Erläuterungen im Verfahren S 2 (6) SO 72/08, in der sie ebenfalls die Beklagte war, den Regelsatz pauschal um annähernd den gesamten für Lebensmittel darin vorgesehenen Betrag kürzen zu dürfen. Diese Vorgehensweise steht auch nicht mit dem oben genannten Urteil des BSG zum Mittagessen in Werkstätten für behinderte Menschen im Einklang. Es ist auf jeden Fall konkret zu ermitteln, welcher Bedarf anderweitig gedeckt ist. Soweit sich die Beklagte auf das Verfahren S 16 SO 73/09 beruft, verkennt sie, dass dort ein Vergleich abgeschlossen wurde; Vergleiche werden zwischen den Beteiligten und nicht vom Gericht abgeschlossen. Eine Entscheidung der 16. Kammer des hiesigen Gerichts, die der Rechtsprechung der hiesigen Kammer entgegenlaufen würde, gibt es nicht. Und die BSG-Entscheidungen B 14 AS 22/07 R und B 4 AS 9/08 R betreffen das SGB II und besagen lediglich, dass im SGB II eine Kürzung des Regelsatzes schon aus generellen, strukturellen Gründen nicht möglich ist, weil eine Öffnungsklausel entsprechend dem § 28 II SGB XII dort fehlt. Damit ist aber noch nicht gesagt, wann die Öffnungsklausel der anderweitigen Bedarfsdeckung im Rahmen des SGB XII zur Anwendung kommt, wann also ihre tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Und die oben genannte Entscheidung des Bundessozialgerichts zu § 28 II SGB XII im Verfahren B 8/9b SO 21/06 R vom 11.12.2007 kann zur Überzeugung der hiesigen Kammer, nur weil es den gemeinsamen Nenner der Gewährung von Verpflegung zwischen beiden Verfahren gibt, nicht auf die Situation eines gewöhnlichen Aufenthalts in einem Akutkrankenhaus oder in einer Reha-Klinik übertragen werden. Denn die Sachverhalte unterscheiden sich erheblich. Bei dem Mittagessen in der Werkstatt für behinderte Menschen handelt es sich um eine regelmäßige, in den Alltag des behinderten Menschen integrierte Situation, auf die er sich regelmäßig planend einstellen kann und die auch keine Kompensationskosten verursacht. Demgegenüber stellt ein Krankenhausaufenthalt einschließlich nachfolgender Reha-Maßnahme regelmäßig keine Alltagssituation dar. Vielmehr muss sich der Betroffene kurzfristig auf die Situation einstellen, was regelmäßig auch mit finanziellen Aufwendungen verbunden ist. Einen gesicherten Erfahrungssatz, dass man in der Haushaltskasse durch einen Krankenhausaufenthalt Geld sparen könne, gibt es nicht; insoweit wird auf die Anfrage an das statistische Bundesamt im Verfahren S 2 (6) SO 72/08 Bezug genommen. Die hiesige Kammer hatte dort eine entsprechende Anfrage an das statistische Bundesamt gerichtet. Beim Bundesamt war entsprechendes Zahlenmaterial nicht verfügbar. Die objektive Beweislast für die anderweitige Bedarfsdeckung geht ohnehin zu Lasten der Beklagten, die es nicht für erforderlich erachtet hat, irgendwelche Ermittlungen zur anderweitigen Bedarfsdeckung durchzuführen, sondern pauschal und ungeprüft den Regelsatz um annähernd den gesamten Anteil für Lebensmittel gekürzt hat. Die Fokussierung der Argumentation auf das ersparte Essen ist dabei ohnehin zu kurz gegriffen. Und selbst sie greift schon nicht, wenn der Betroffene beispielsweise auf dem Rückweg vom Wocheneinkauf mit dem Fahrrad dergestalt verunglückt, dass er stationär ins Krankenhaus aufgenommen werden muss, während seine eingekauften Lebensmittel verderben. Zwar mag es nahe liegen, dass Kosten für Frühstück, Mittagessen und Abendessen zumindest teilweise eingespart werden können, andererseits ist es dann genauso nahe liegend, dass andere Kosten anfallen. So ist es nicht ungewöhnlich, dass Patienten beispielsweise spontan einen neuen Schlafanzug oder ein neues Nachthemd, einen Bademantel oder Hausschuhe benötigen, weil sie zu Hause beispielsweise in Unterwäsche oder stark abgenutzter Nachtwäsche schlafen. Auch bei einem Reha-Aufenthalt sind Kompensationskosten nahe liegend, da es nicht ungewöhnlich ist, dass Patienten aufgefordert werden, beispielsweise einen Jogginganzug, Sportschuhe oder andere Sportbekleidung mitzubringen. So kann man etwa nicht regelmäßig davon ausgehen, dass jeder Bezieher von SGB XII-Leistungen ein paar geeignete Sportschuhe zu Hause hat. Ebenso fallen in Kliniken regelmäßig Telefonkosten oder Kosten für die Nutzung des Fernsehapparates auf dem Zimmer an. Regelmäßig ist hierfür heutzutage zunächst eine Chipkarte eventuell mit Grundgebühr zu erwerben, für die dann auch noch ein Pfand erhoben wird. Insoweit stehen der möglichen Kostenersparnis im Bereich der Ernährung dann Kompensationskosten an anderer Stelle gegenüber. Die Beklagte hat im Einzelfall nicht ermittelt, welche Kosten die Klägerin im Rahmen einer Gesamtbetrachtung denn ganz konkret eingespart hätte, und einen allgemeinen Erfahrungssatz zur Kostenersparnis zugunsten der privaten Haushaltskasse durch einen Krankenhausaufenthalt oder Reha-Aufenthalt gibt es wie oben ausgeführt nicht.
Rechtskraft
Aus
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