L 11 AS 381/10 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 AS 317/10 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AS 381/10 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Frage der Höhe der der Antragstellerin ab 01.04.2010 zustehenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II – Alg II)
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 06.05.2010 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.



Gründe:


I.

Die Beteiligten streiten über die Höhe der der Antragstellerin (ASt) ab 01.04.2010 zustehenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II - Alg II) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die 1963 geborene ASt steht zusammen mit den mit ihr in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Kindern E. (geb. 1995) und R. (geb. 1998) seit 2008 im Leistungsbezug bei der Antragsgegnerin (Ag).
Die ASt ist Eigentümerin des Anwesens A-Straße in A-Stadt. Nach der Anzeige der ASt in "Immobilien-Scout 24" handelt es sich um ein vollständig renoviertes Mehrfamilienhaus bestehend aus 2 Stockwerken mit je 3 Zimmern, Küche, Bad und Nebenräumen, die Wohnfläche beträgt ca. 130 qm. Der Verkehrswert liegt nach der Auskunft des Gutachterausschusses des Landratsamt Bad K. bei rund 48.500.- Euro, eine Teilung des Wohnhauses in drei Wohneinheiten ist jederzeit möglich. Ab 2008 vermietete die ASt an D. B. (DB) eine im Erdgeschoss des Anwesens gelegene Wohnung bestehend aus 2 Zimmern, Küche, Diele, Kammer, Bad/WC (Kellerraum) mit einer Wohn-/Nutzfläche von 43 qm. Die monatliche Grundmiete betrug 242,52 Euro, hinzu kamen eine monatliche Betriebskostenvorauszahlung von 50.- Euro und eine Heizkostenpauschale von monatlich 47.- Euro.
Zuletzt bewilligte die Ag für die Zeit vom 01.04.2010 bis 30.04.2010 einen monatlichen Gesamtbetrag von 457,11 Euro und für die Zeit vom 01.05.2010 bis 30.09.2010 einen monatlichen Gesamtbetrag von 493,01 Euro (Bescheid vom 25.02.2010). Hierbei berücksichtigte sie bei der ASt Mieteinnahmen i.H.v. 285,19 Euro.
Mit Veränderungsmitteilung vom 14.02.2010 teilte die ASt der Ag mit, dass sie ab 01.04.2010 keine Mieteinnahmen mehr erhalte, sie beantrage die Neuberechnung der Leistungen, hierfür werde eine Frist bis 15.04.2010 gesetzt. DB lebe seit dem 01.04.2010 mietfrei im Rahmen einer Wohngemeinschaft im Anwesen, es handle sich aber nicht um eine eheähnliche Partnerschaft, die Gründe für diese Änderung seien privater Natur. Nach einem in der Akte der Ag enthaltenen "Aufhebungsvertrag für den Mietvertrag vom 01.06.2008" vom 25.03.2010 einigten sich die ASt und DB einvernehmlich auf eine Beendigung des Mietvertrages zum 31.03.2010. Das aufgehobene Mietverhältnis gehe ab dem 01.04.2010 in eine eigenständige und kostenfreie Wohngemeinschaft über, die ASt und DB hätten gegenseitig das Recht, die jeweils anderen Räumlichkeiten im Sinne einer Wohngemeinschaft zu nutzen. Für die Kündigung dieser Wohngemeinschaft würden die Kündigungsfristen für ein reguläres Mietverhältnis i.S.d. § 573c Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entsprechend gelten.
Die Ag lehnte mit Bescheid vom 13.04.2010 eine Herausnahme der Mieteinnahmen i.H.v. 285,19 Euro aus der Leistungsberechnung ab. Die von der ASt mitgeteilten Gründe rechtfertigten keine Neuberechnung, die ASt habe nach § 2 Abs. 2 S. 1 SGB II alle Möglichkeiten in eigener Verantwortung zu nutzen, um ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln und Kräften zu bestreiten.
Am 13.04.2010 hat die ASt im Wege einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht Würzburg (SG) die Zusendung eines berichtigten Leistungsbescheides und die Auszahlung eines Betrages i.H.v. 285,19 Euro wegen der nunmehr nicht mehr erzielbaren Miete beantragt. Mit einem Schreiben hat die ASt der Ag mitgeteilt, dass sie zusammen mit ihren Kindern lediglich über ein Schlafzimmer, jeweils ein Kinderzimmer und eine kleine Küche verfügt habe. Aufgrund des bestehenden Platzproblems und ihrer Depressionen habe sie zusammen mit ihren Kindern und DB das Wohnzimmer und Küche des DB benutzt. Aufgrund der Verschlechterung ihres Gesundheitszustands habe sie DB angeboten, kostenfrei bei ihr zu wohnen. Er habe sich im Gegenzug dazu bereit erklärt, auf ihre Kinder aufzupassen, wenn sie Migräne habe.
Mit Beschluss vom 06.05.2010 hat das SG den Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Auch wenn sich das Einkommen der ASt aufgrund des Wegfalls der Mieteinnahmen tatsächlich verringert habe, habe sich doch am Umfang der Hilfebedürftigkeit nichts geändert. Die bisherigen Mieteinnahmen seien der ASt weiterhin als Einkommen zuzurechnen. Zwar sei die Berücksichtigung fiktiven Einkommens im Regelfall ausgeschlossen, eine Ausnahme gelte aber bei tatsächlich bestehenden, zumutbaren und kurzfristig realisierbaren, aber ungenutzten Selbsthilfemöglichkeiten. Auf eine solche bestehende Möglichkeit habe die ASt durch den Abschluss eines Aufhebungsvertrags und die unentgeltliche Überlassung der bisher vermieteten Räume an den DB verzichtet.
Hiergegen hat die ASt Beschwerde zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Wenn sie vorher Wohnraum vermiete und mit ihren 2 Kindern in einer beengten Wohnsituation leben müsse, sei sie nicht verpflichtet, weiterhin diese Räume zu vermieten, wenn sie diese selber bewohnen wolle. Sie habe nun das Wohnzimmer und die Küche im unteren Stockwerk, DB dürfe diese Zimmer nur im Sinne einer Wohngemeinschaft benutzen. Der Aufenthalt des DB sei gleichzusetzen mit einem Besuch.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Akten der Ag, sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerechte Beschwerde ist zulässig, §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG), aber unbegründet.
Rechtsgrundlage für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist vorliegend
§ 86 b Abs. 2 S. 2 SGG, denn die ASt begehrt die Bewilligung höherer Leistungen nach dem SGB II.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG ist eine einstweilige Regelung ist zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1998 BVerfGE 79, 69 (74); vom 19.10.1997 BVerfGE 46, 166 (179) und vom 22.11.2002 NJW 2003, 1236; Niesel/Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 5. Aufl. Rn. 652)
Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den der ASt sein Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat der ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG i.V.m. § 920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung - ZPO -; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 86b Rn. 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage im vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG vom 12.05.2005 Breithaupt 2005, 803 = NVwZ 2005, 927, NDV-RD 2005, 59) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.
Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen, sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch weniger streng zu beurteilen. In diesem Fall ist ggf. auch anhand einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des ASt zu entscheiden (vgl. BVerfG vom 12.05.2005 aaO und 22.11.2002 NJW 2003, 1236; zuletzt BVerfG vom 15.01.2007 - 1 BvR 2971/06 -).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Anordnungsgrundes, also der Eilbedürftigkeit der Sache, ist in jeder Lage des Verfahrens, insbesondere auch noch im Beschwerdeverfahren, der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Beschluss des Senats vom 12.04.2010 - L 11 AS 18/10 B ER - veröffentlicht in
juris -). Vorliegend ist für die Zeit vom 01.04.2010 bis zum Erlass dieses Beschlusses ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht, ab Erlass des Beschlusses ist ein Anordnungsanspruch nicht gegeben.
Es ist ständige Rechtsprechung des Senates (zuletzt Beschluss vom 12.04.2010 aaO), dass für Leistungsansprüche, die allein für die Vergangenheit im Streit stehen, in aller Regel ein Anordnungsgrund, d.h. die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit nicht glaubhaft zu machen ist. Es ist rechtlich zwar nicht auszuschließen, dass auch für vergangene Zeiträume diese Dringlichkeit angenommen werden kann; diese überholt sich jedoch regelmäßig durch Zeitablauf. Ein Anordnungsgrund für Zeiträume vor einer gerichtlichen Entscheidung ist daher nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird, und sich ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht. Ein solcher Nachteil ist vorliegend nicht erkennbar.
Für die Zeit danach fehlt es der ASt an einem Anordnungsanspruch. Nach § 7 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch u.a. Personen die hilfebedürftig sind (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II). Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht (1) durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, (2) aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Als zu berücksichtigendes Einkommen zählen nach § 11 Abs. 1 SGB II grundsätzlich alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert.
Fiktives Einkommen ist dem Hilfebedürftigen regelmäßig nicht zuzurechnen (allg. Meinung, lediglich beispielshaft Mecke in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 11 Rdnr. 13 mwN). Etwas anderes gilt jedoch bei tatsächlich bestehenden, zumutbaren und kurzfristig realisierbaren, aber ungenutzten Selbsthilfemöglichkeiten des Hilfebedürftigen. Zwar verlangt das Faktizitäts- oder Tatsächlichkeitsprinzip nicht nach den Ursachen einer tatsächlich vorhandenen Notlage zu fragen und auch bei selbstverschuldeten Notlagen voll zu leisten. Dennoch schließt das Subsidiaritätsprinzip des § 3 Abs. 3 SGB II bzw. § 9 Abs. 1 S. 1 SGB II einen Leistungsanspruch grundsätzlich aus, wenn die Nutzung tatsächlich bestehender Möglichkeiten zur kurzfristigen Selbsthilfe unterbleibt (vgl. Mecke aaO, § 11 Rdnr. 14 mwN).
Der ASt steht eine solche Möglichkeit zur Verfügung. Vorliegend diente der zwischen der ASt und DB geschlossene Aufhebungsvertrag und der weiter begründete unentgeltliche Nutzungsvertrag über dieselben Räumlichkeiten erkennbar einzig und allein dem Zweck, einen erhöhten Anspruch der ASt auf Leistungen nach dem SGB II zu begründen. Eine vertragliche Vereinbarung, die aber einzig und allein den Zweck hat, dass der Vertragspartner zwangsläufig der Sozialhilfe anheim fallen muss, ist gemäß § 138 BGB nichtig (so für den Fall der Sittenwidrigkeit eines Unterhaltsverzichts unter Ehegatten: Bundesgerichtshof - BGH -, Urteil vom 17.9.1986, BGHZ 86, 82, 86 - NJW 1987, 1546, 1548).
Ein anderer, nachvollziehbarer Grund für den Wegfall der Mietverpflichtung und die Einräumung eines unentgeltlichen Nutzungsrechts ist dem Senat auch nicht ersichtlich. Dieses unentgeltliche Nutzungsrecht war entgegen der Auffassung der ASt schon nicht lediglich temporär angelegt. Eine Gleichsetzung mit einem Besuch war somit keinesfalls vorzunehmen, nach dem Vertrag vom 25.03.2010 waren dem Mietrecht entsprechende Kündigungsfristen vereinbart.
Auch die der ASt und ihren Kindern verbleibenden Räumlichkeiten waren nicht unzumutbar. Ausweislich der eigenen Anzeige der ASt handelt es sich bei ihrem Anwesen um ein Mehrfamilienhaus, damit um getrennte Wohnungen. Das Anwesen hat eine Gesamtwohnfläche von 130 qm, vermietet waren 43 qm, so dass der ASt und den mit ihr in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden 2 Kindern ein Wohnfläche von ca. 90 qm verblieb. Der der Bedarfsgemeinschaft zur Verfügung stehende Wohnraum war somit angemessen (für drei Personen ca. 75-80 qm, vgl. Berlit in LPK-SGB II, 3. Aufl. 2009, § 22 Rdnr. 32). Weitere Gründe, die einen Wegfall der Entgeltlichkeit der Nutzung rechtfertigen könnten, sind dem Senat nicht ersichtlich; allein eine eventuell erfolgende Betreuung der fünfzehn und zwölfjährigen Kinder der ASt durch den DB rechtfertigt den Wegfall des Mietzinses jedenfalls nicht. Der ASt steht somit die auch kurzfristig zu realisierende Möglichkeit der Mietzinszahlung durch den DB zur Vermeidung einer Hilfebedürftigkeit zur Verfügung.
Die Beschwerde war somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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