S 7 (28) AS 224/08

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 7 (28) AS 224/08
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin auf die Bewilligung von Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU).

Die 1987 geborene Klägerin zog zum 01.08.2008 ohne vorherige Zustimmung der Beklagten aus dem vormals mit ihrer Mutter gemeinsam bewohnten Haushalt aus und als dritte Person in die bereits als Wohngemeinschaft genutzte Wohnung ihres Lebensgefährten ein. Die Klägerin und ihre Mutter bezogen seit November des Jahres 2006 als Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II).

Bereits unter dem 02.07.2008 hatte die Mutter der Klägerin bei der Beklagten eine Änderungsmitteilung vorgelegt, in der sie anzeigte, dass die Klägerin zum 01.08.2008 ausziehen werde. Mit dem Einzug in die Wohnung ihres Lebensgefährten stellte die Klägerin dann einen eigenen Leistungsantrag bei der Beklagten.

Auf diesen Antrag hin bewilligte die Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 01.08.2008 bis zum 31.01.2009 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, jedoch keine Leistungen für die KdU (Bescheid vom 27.08.2008).

Der unterbliebenen Bewilligung von Leistungen für die KdU widersprach die Klägerin. Zur Begründung führte sie aus, dass es in der Vergangenheit mehrfach zu Handgreiflichkeiten zwischen ihr und ihrer Mutter gekommen sei. Da diese auch für die Zukunft zu erwarten seien, lägen schwerwiegende soziale Gründe vor, derentwegen die Klägerin nicht auf ein Verbleiben in der Wohnung ihrer Mutter verwiesen werden könne.

Der Widerspruch wurde als unbegründet zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 16.10.2008). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Klägerin und ihre Mutter im Vorfeld des Widerspruchsverfahrens zwar persönlich vorgesprochen und von Streitereien berichtet, jedoch keine Angaben zu Handgreiflichkeiten gemacht hätten. Sofern diese im Widerspruchsverfahren vorgebracht würden, gebe es zugleich ausreichend Grund zu der Annahme, dass die Klägerin durch eigenes, zumutbares Bemühen zu einem friedlichen Zusammenleben mit ihrer Mutter finden könne. Ein Umzug sei daher nicht erforderlich gewesen, Leistungen für KdU nicht zu erbringen.

Hiergegen hat die Klägerin unter Wiederholung und Vertiefung ihres Vorbringens aus dem Vorverfahren am 13.11.2009 die vorliegende Klage erhoben.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, ihr unter Abänderung des Bescheides vom 27.08.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2008 zusätzlich Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von sechs mal einem Drittel aus 470,00 EUR Warmendmiete, also 939,99 Euro, zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie tritt dem Vorbringen der Klägerin unter Vertiefung ihres Vorbringens aus dem Widerspruchsverfahren entgegen.

Das Gericht hat die Klägerin im Termin zur Erörterung des Sachverhalts vom 22.02.2010 ausführlich befragt und Gelegenheit zu weiterem Sachvortrag gegeben. Diesbezüglich wird auf das Protokoll aus dem Termin vom 22.02.2010 verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, Az. 38502BG0010679, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist unbegründet.

Die Klägerin ist durch die Versagung von Leistungen für die KdU nicht beschwert nach § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen für die KdU.

Streitentscheidende Norm ist § 22 Abs. 2a des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB II).

§ 22 Abs. 2a S. 1 SGB II ordnet an: "Sofern Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, umziehen, werden ihnen Leistungen für die Unterkunft und Heizung für die Zeit nach einem Umzug bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nur erbracht, wenn der kommunale Träger dies vor Abschluss des Vertrages über die Unterkunft zugesichert hat."

Eine entsprechende Zusicherung hat die Beklagte als kommunale Trägerin der Leistungen für die KdU nicht erteilt.

Nach § 22 Abs. 2a S. 3 SGB II kann - da auf die Voraussetzungen des § 22 Abs. 2a SGB II verwiesen wird - von dem Erfordernis der Zusicherung abgesehen werden, wenn der kommunale Träger zur Erteilung der Zusicherung verpflichtet gewesen wäre und es dem Betroffenen aus wichtigem Grund nicht zumutbar war, die Zusicherung einzuholen.

Nach § 22 Abs. 2a S. 2 SGB II ist der kommunale Träger zur Zusicherung verpflichtet, wenn der Betroffene aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden kann (Nr. 1), der Bezug der Unterkunft zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erforderlich ist (Nr. 2) oder ein sonstiger, ähnlich schwerwiegender Grund vorliegt (Nr. 3).

Die Beklagte wäre zur Erteilung der Zusicherung nicht verpflichtet gewesen.

Der Umzug war im Sinne des § 22 Abs. 2a S. 2 Nr. 2 SGB II nicht erforderlich zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Es lagen auch keine schwerwiegenden sozialen Gründe nach § 22 Abs. 2a S. 2 Nr. 1 SGB II vor, die es als unzumutbar hätten erscheinen lassen, die Klägerin auf die Wohnung ihrer Mutter zu verweisen.

Bei dem Tatbestandsmerkmal der "schwerwiegenden sozialen Gründe" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Reichweite und Anwendung gerichtlich voll überprüft werden kann (vgl. Lang/Link, in: Eicher/Spellbrink (Hg.): SGB II, 2. Aufl. 2008, § 22 RN 80 o).

Das Tatbestandsmerkmal der "schwerwiegenden sozialen Gründe" stellt nach seinem Wortlaut, seinem Zweck und seiner systematischen Stellung im Gefüge des Rechts der Leistungsverwaltung eine besondere Härtefallregelung dar.

Nach der allgemeinen Wertung des Gesetzgebers im Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) werden Schüler und Auszubildende der Klassen 10 bis 13 regelmäßig auf ein Wohnen in der Elternwohnung verwiesen. Nur in besonderen sozialen Konstellationen (Entfernung zur Ausbildungsstätte, Heirat, Elternschaft, vgl. § 2 Abs. 1a S. 1 BAföG) erhalten sie Ausbildungsförderungsleistungen. In § 2 Abs. 1a S. 2 BAföG ist geregelt, dass die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bestimmen kann, dass über Satz 1 hinaus Ausbildungsförderung für den Besuch der in Absatz 1 Nr. 1 bezeichneten Ausbildungsstätten auch in Fällen geleistet wird, in denen die Verweisung des Auszubildenden auf die Wohnung der Eltern aus schwerwiegenden sozialen Gründen unzumutbar ist.

Eine solche Verordnung ist bislang jedoch nicht erlassen worden. Hieraus ist der Schluss zu ziehen, dass der Gesetzgeber sonstige soziale Gründe für nicht ausreichend hält, um die Bezuschussung einer eigenen Wohnung mit BAföG-Leistungen als gerechtfertigt anzusehen (vgl. VG Münster, Urteil vom 28.10.2009, Az. 6 K 2424/08, mit weiteren Nachweisen zum Gesetzgebungsverfahren und zur obergerichtlichen Rechtsprechung).

Diese Wertung wurde ebenso auf die berufliche Ausbildungsförderung in § 40 Abs. 1 Satz 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG), nunmehr § 64 des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB III), übertragen. Nur in Härtefällen werden Auszubildende, die sich in einer Berufsausbildung befinden, nicht auf die Elternwohnung verwiesen. Das in § 64 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB III verwendete Merkmal der "schwerwiegenden sozialen Gründe" soll seinem Zweck nach nur solche Sachverhalte erfassen, die als "besondere Gründe" im Sinne der familienrechtlichen Rechtsprechung zu § 1612 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) dazu berechtigten, auf Antrag des Kindes durch das Vormundschaftsgericht die elterliche Bestimmung über die Art der Unterhaltsgewährung zu ändern (vgl. Fuchsloch, in: Gagel (Hg.), SGB III, Loseblattkommentar, Stand 39. Ergänzungslieferung 2010, § 64 Rn. 39 f.; zu den durch die Rechtsprechung gebildeten Fallgruppen und Kriterien nach § 1612 Abs. 2 BGB vgl. Born, in: Rebmann/Säcker/Rixecker (Hg.), Münchner Kommentar zum BGB, Band 8, 5. Auflage 2008, § 1612 Rn. 83 ff.). Ohne Rücksicht auf die Wohnform wird nach dem BAföG grundsätzlich erst eine auf die schulische und betriebliche Bidlung folgende Ausbildung, z.B. an einer Hochschule (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 BAföG), gefördert. Das Unterhalten einer eigenen Wohnung wird dann bei der Leistungsgewährung berücksichtigt, wobei (sparsame) Festbeträge für die Unterkunftskosten gewährt werden.

Diese gesetzgeberische Wertung und das Ziel einer sparsamen wirtschaftlichen Mittelverwendung ist auch bei der Sicherung des Lebensunterhalts durch Leistungen nach dem SGB II umgesetzt und mit der Schaffung des § 22 Abs. 2a SGB II erweitert worden. Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht erreicht haben und nicht wirtschaftlich selbständig sind, werden grundsätzlich auf ein Wohnen in der elterlichen Wohnung verwiesen.

Dabei fällt besonders ins Gewicht, dass die Vorhaltung von Leistungen für die KdU nach dem SGB II allein der Sicherung des Existenzminimums dient. Demgegenüber fördern Leistungen nach § 2 BAföG und § 64 SGB III die Bemühungen des Einzelnen, über Bildung und Ausbildung einen Platz im Erwerbsleben zu erhalten. Ihnen kommt damit auch eine Anreiz- und Belohnungsfunktion zu. Wenn der Bezug von Leistungen nach dem SGB II es ermöglichte, vergleichbare Leistungen der Allgemeinheit für die Unterhaltung einer eigenen Wohnung auch ohne eigene Anstrengungen in Bildung und Ausbildung zu erhalten, würde jenes Anreiz- und Belohnungssystem erheblich gefährdet, wenn nicht wirkungslos. Dies kann der Gesetzgeber erkennbar nicht gewollt haben.

Die Ausnahmevorschrift nach § 22 Abs. 2a Satz 2 Nr. 1 SGB II ist daher eine Härtefallvorschrift, deren Anwendungsbereich auf dauerhaft und tiefgreifend gestörte Eltern-Kind-Beziehungen beschränkt sein muss. Eine tiefgreifende Störung der Eltern-Kind-Beziehung, die ein weiteres Zusammenwohnen unzumutbar erscheinen lässt, liegt erst dann vor, wenn ernsthafte Versuche der Beteiligten, die bestehenden gravierenden Konflikte – gegebenenfalls mit professioneller Hilfe – zu lösen, ohne Erfolg geblieben sind und sich das Verbleiben in der Wohnung für den jungen Erwachsenen als "ausweglose Situation" darstellt, die seiner Steuerung vollständig entzogen ist.

Dabei kann die unterlassene Einschaltung eines professionellen Helfers, etwa eines Jugendhilfeträgers, einer Erziehungsberatung, eines Familientherapeuten und bei Gewalttätigkeiten auch der Polizei ein Indiz dafür sein, dass nicht hinreichend versucht worden ist, die Konflikte zu lösen. Auch wenn die beschriebenen professionellen Anlaufstellen für junge Erwachsene Hilfsangebote sind, die nicht aufgezwungen werden sollen und können, kann ein Verzicht auf professionelle Hilfe nicht automatisch dazu führen, dass der leichtere Weg einer Trennung durch die Gewährung von Sozialleistungen (hier KdU gemäß SGB II) zu finanzieren ist. Etwas anderes kann gelten, wenn das Zerwürfnis so tiefgreifend ist, dass die Inanspruchnahme professioneller Hilfe von vornherein aussichtslos ist (vgl. Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 16.06.2010, Az. L 5 AS 383/09 ER).

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Die Klägerin hat nicht das ihr Zumutbare getan, um die Konflikte mit ihrer Mutter zu befrieden. Nach ihrer eigenen Schilderung hatte die Klägerin an den geschilderten Handgreiflichkeiten und Streitereien ganz erheblichen eigenen Anteil. Sie hat nicht versucht, sich hier zu beherrschen. Die Anlässe, auf die sie sich zur Rechtfertigung beruft, können sie nicht entlasten. Es ist ein verantwortungsvolles und fürsorgliches Verhalten ihrer Mutter, die Klägerin zum Schulbesuch und zur tatkräftigen Gestaltung des eigenen Lebens anzuhalten. Hier zu opponieren, kann kein Verständnis finden. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die geschilderten Konflikte der Klägerin als "ausweglose Situation" darstellten, der sie ohne ihr eigenes Zutun ausgeliefert sei.

Dieser Eindruck verfestigt sich dadurch, dass die Klägerin und ihre Mutter nicht versucht haben, professionelle Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Die Klägerin hätte sich jedenfalls dem sie zeitweilig betreuenden Rechtsanwalt M offenbaren und mit diesem nach Lösungsmöglichkeiten suchen können. Die Klägerin hat jedoch selbst mit diesem nicht in der notwendigen Ausführlichkeit über die häuslichen Konflikte gesprochen. Auch sonst haben die Klägerin und ihre Mutter keine Anlaufstellen aufgesucht, um die häusliche Situation zu befrieden.

Es ist auch nicht davon auszugehen, dass solche Bemühungen sich als von Anfang an zwecklos dargestellt hätten. Die Klägerin selbst hat wiederholt erklärt, dass sie ihre Mutter als solche schätze und sich nicht vollends mit ihr zerstreiten wolle. Hinzu tritt ein weiterer Umstand:

Die handschriftlich eingetragenen persönlichen Daten in demjenigen Leistungsantrag, den die Klägerin zu ihrem Umzug stellte, weisen - wie auch schon bei vorherigen Leistungsanträgen - das Schriftbild der Handschrift der Mutter der Klägerin auf, das an verschiedenen Stellen in der Verwaltungsakte der Beklagten durch die Unterschrift der Mutter der Klägerin als solches zu erkennen ist. Dem Antrag beigefügt war ferner die Kopie eines Untermietvertrages zwischen der Klägerin und ihrem Lebensgefährten, nach dem die Klägerin für die Nutzung eines Drittels der nun von ihr, ihrem Freund und wechselnden Dritten bewohnten Wohnung die Hälfte der monatlichen Warmendmiete für die gesamte Wohnung begleichen sollte. Der in den Vordruck individuell eingefügte Vertragstext trägt dabei wiederum das Schriftbild der Handschrift der Mutter der Klägerin. Hiervon umfasst ist auch die Orts- und Datumsangabe "S, 00.00.”.

Hieraus folgt, dass die Klägerin vor, während und nach ihrem Umzug in wesentlichen Fragen der Lebensgestaltung ihre Mutter um Hilfe gebeten und diese auch erhalten hat. Dieser Befund spricht abschließend gegen die Annahme einer dauerhaft und irreparabel tiefgreifend gestörten Eltern-Kind-Beziehung.

Da ein schwerwiegender sozialer Grund nach § 22 Abs. 2a S. 2 Nr. 1 SGB II aus den genannten Gründen nicht anzuerkennen ist, kommt auch die Annahme eines sonstigen, ähnlich schwerwiegenden Grundes im Sinne des § 22 Abs. 2a S. 2 Nr. 3 SGB II nicht in Betracht. Die Anwendung dieses Auffangtatbestandes darf nicht zur Umgehung der Voraussetzungen des § 22 Abs. 2a S. 2 Nr. 1 SGB II führen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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