S 4 AS 5722/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 4 AS 5722/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AS 3614/08
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
§ 16 Abs. 1 S. 2 SGB II eröffnet nur ein Ermessen bezüglich des "Ob" der Leistungserbringung (Erschließungsermessen), nicht jedoch auch ein Ermessen bezüglich des "Wie" (Auswahlermessen).
1. Der Bescheid vom 06.07.2007 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2007 wird abgeändert und der Beklagte verpflichtet, dem Kläger weitere 593,40 EUR an Fahrtkosten zu bewilligen. 2. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach. 3. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Höhe einer Fahrtkostenerstattung als Weiterbildungskosten für die Fahrten zwischen Wohnung und Bildungsstätte.

Der Kläger erhält vom Beklagten seit dem 01.01.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

Der Kläger nahm ab dem 23.10.2006 an einer Qualifizierungsmaßnahme in O. teil. Am 30.11.2006 beantragte er die Übernahme von Fahrtkosten zu dieser Maßnahme. Mit Bescheid vom 05.12.2006 gewährte der Beklagte eine einmalige Leistung für Fahrtkosten nach § 16 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 81 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) in Höhe von 88,30 EUR. Dies entsprach den Kosten für zwei Wochen- und eine Monatskarte (Oktober und November). Auch für die weiteren Monate wurde Fahrtgeld für Monatskarten gewährt.

Gegen den Bescheid vom 05.12.2006 legte der Kläger am 02.01.2007 Widerspruch ein, mit dem er die Erstattung der Kosten für die Fahrt mit dem privaten PKW begehrte. Er sei an insgesamt 129 Tagen nach O. gefahren. Die einfache Fahrstrecke betrage 25 km. Mit Bescheid vom 06.07.2007 wurde dem Widerspruch abgeholfen und Fahrtkosten für die Fahrt mit dem privaten PKW in Höhe von 645,00 EUR gewährt.

Gegen den Abhilfebescheid vom 06.07.2007 legte der Kläger durch seinen Bevollmächtigten mit Schreiben vom 10.07.2007 Widerspruch ein. Die einfache kürzeste Fahrstrecke betrage 24,1 km. Nach § 81 Abs. 2 SGB III seien für die ersten zehn Entfernungskilometer 0,36 EUR/km und ab dem elften Entfernungskilometer 0,40 EUR/km zu Grunde zu legen. Es ergebe sich daher ein Erstattungsanspruch in Höhe von insgesamt 1.186,80 EUR.

Am 02.11.2007 erhob der Kläger zunächst Untätigkeitsklage zum Sozialgericht Freiburg. Mit Widerspruchsbescheid vom 19.11.2007 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 3 b Arbeitslosengeld II/ Sozialgeld-Verordnung (Alg II-V) würden bei Benutzung eines PKW für die Fahrt zwischen Wohn- und Arbeitsstätte 0,20 EUR je Entfernungskilometer erstattet. Bei einer Entfernung von 25 km ergäbe sich daher ein Betrag von 645,00 EUR.

Daraufhin begehrte der Kläger nunmehr die Erstattung höherer Fahrtkosten. Die Alg II-V bezöge sich nur auf die Einkommensermittlung und könne nicht zur Erstattungsberechnung von Fahrtkosten herangezogen werden. Sein Ermessen aus § 16 SGB II habe der Beklagte bereits durch die Kostengrundentscheidung ausgeübt. Bezüglich der Höhe der Kostenerstattung räume § 81 Abs. 2 SGB III kein Ermessen mehr ein. Bei einer vom Beklagten angenommenen Entfernung von 25 km betrage der Erstattungsanspruch somit insgesamt 1238,40 EUR.

Der Kläger beantragt nun,

den Bescheid vom 06.07.2007 in der Form des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2007 aufzuheben, soweit eine Kostenerstattung über den Betrag von 645,00 EUR abgelehnt wurde und den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger die Erstattung von weiteren 593,40 EUR für Fahrtkosten zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

§ 16 SGB II räume dem Leistungsträger ein Ermessen ein. Dies habe der Beklagte dadurch ausgeübt, indem er § 3 Abs. 1 Nr. 3b Alg II-V zur Berechnung der Fahrtkosten heranzog.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Verfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben. Sie ist auch im Übrigen zulässig und als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Die Klage ist auch begründet.

Nach § 16 Abs. 1 S. 2 SGB II kann die Agentur für Arbeit u.a. die im Ersten bis Dritten (§§ 45-55) und Sechsten Abschnitt (§§ 77-87) des Vierten Kapitels des SGB III geregelten Leistungen erbringen. Soweit das SGB II nichts Abweichendes regelt, gelten für diese Leistungen nach § 16 Abs. 1a SGB II die Voraussetzungen und Rechtsfolgen des SGB III. Nach § 81 Abs. 1 Nr. 1 SGB III können Fahrtkosten für Fahrten zwischen Wohnung und Bildungsstätte (Pendelfahrten) übernommen werden. Dabei sind nach Abs. 2 S. 1 dieser Vorschrift als Fahrtkosten für jeden Tag, an dem der Teilnehmer die Bildungsstätte aufsucht, für die ersten zehn vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Bildungsstätte 0,36 EUR und für jeden weiteren vollen Kilometer 0,40 EUR als Entfernungspauschale anzusetzen.

Die Entscheidung, ob Fahrtkosten erstattet werden, steht sowohl nach § 16 Abs. 1 S. 2 SGB II als auch nach § 81 Abs. 1 SGB III im Ermessen des Leistungsträgers. Dieses Ermessen bezieht sich entgegen der Auffassung des Beklagten jedoch nur auf die Frage, ob Leistungen erbracht werden, nicht aber auf die Höhe der Leistungsgewährung (vgl. Eicher in Eicher/Spellbrink SGB II, 2. Aufl. 2008, § 16 Rn. 62; Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 16 Rn. 78; Harks in: jurisPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 16 Rn 36).

Der Gesetzgeber hat die Frage, ob § 16 Abs. 1 S. 2 SGB II auch ein Ermessen bezüglich des Umfangs der dort genannten Leistungen eröffnet, nicht ausdrücklich geregelt (anders Niewald in LPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 16 Rn. 7, der auch den Leistungsumfang in das Ermessen des Leistungsträgers gestellt sieht, was sich gerade aus der Gesetzesbegründung ergeben solle). In der Gesetzesbegründung (BT-Dr. 15/2997, 24 zu Art. 1 Nr. 9a) wird ausgeführt, dass es sich bei den jetzt in § 16 Abs. 1 S. 2 SGB II genannten Leistungen um solche handelt, deren Erbringung auch dann im Ermessen steht, wenn es sich nach dem SGB III um Pflichtleistungen handelt. Damit wird jedoch nur klar gestellt, dass das "Ob" der Leistungserbringung in jedem Fall im Ermessen des Leistungsträgers steht, somit ein Erschließungsermessen besteht. Ob jedoch die Rechtsfolgen auch dann im Ermessen stehen, wenn sie im SGB III ausdrücklich geregelt wurden, also ein Auswahlermessen besteht, kann dieser Begründung nicht entnommen werden.

Bereits aus dem Wortlaut von § 16 Abs. 1a SGB II, wonach für Leistungen des Abs. 1 die Rechtsfolgen des SGB III gelten, wenn das SGB II nichts Abweichendes regelt, ergibt sich jedoch, dass nur die Frage des "Ob" der Leistungsgewährung im Ermessen des Leistungsträgers stehen kann (vgl. SG Berlin, Urteil v. 15.11.2006, Az. S 102 AS 4364/06).

Eine abweichende Regelung im Sinne des § 16 Abs. 1a, 1. Halbsatz SGB II besteht im SGB II nicht. Die Regelung des Abs. 1 S. 2 SGB II kann nicht als andere Regelung in diesem Sinne verstanden werden. Dagegen spricht die systematische Stellung dieser Vorschrift, da in diesem Fall die Regelung des Abs. 1a, 2. Halbsatz, der ausdrücklich von den Leistungen des Abs. 1 spricht, keinen Anwendungsbereich mehr hätte. Mit abweichender Regelung kann daher nur eine Regelung im SGB II außerhalb des § 16 Abs. 1 SGB II gemeint sei.

Ebenso stellt die Alg II-V keine andere Regelung im Sinne des § 16 Abs. 1a SGB II dar. Die Vorschriften der Alg II-V sind keine Regelungen des SGB II im Sinne dieser Vorschrift. Im Übrigen dienen sie der Berechnung des Einkommens und enthalten keine Regelung zur Kostenerstattung.

Darüber hinaus ist kein Grund ersichtlich, warum Empfänger von Arbeitslosengeld II hinsichtlich einer Fahrtkostenerstattung nach § 81 SGB III anders behandelt werden sollten als Empfänger von Arbeitslosengeld I, indem sie für eine mit ihrem privaten PKW zurückgelegte Strecke eine niedrigere pauschalierte Kostenerstattung erhalten.

Der Beklagte hat somit sein ihm zustehendes Ermessen durch die Entscheidung, dem Kläger Fahrtkosten zu erstatten, bereits ausgeübt. Bezüglich der Höhe war er an die Regelung in § 81 Abs. 2 SGB III gebunden.

Hiervon ausgehend hat der Kläger einen Anspruch auf eine tägliche Fahrtkostenpauschale in Höhe von 9,60 EUR (10 km - 0,36 EUR, 15 km - 0,40 EUR). Bei 129 Ausbildungstagen ergibt sich somit eine Fahrtkostenpauschale in Höhe von 1.238,40 EUR. Abzüglich der bereits vom Beklagten geleisteten 645,00 EUR hat der Kläger Anspruch auf den begehrten Differenzbetrag in Höhe von 593,40 EUR.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved