L 25 AS 70/09 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
25
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 121 AS 40412/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 25 AS 70/09 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Dezember 2008 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 12. Februar 2009 bis zum 31. Mai 2009, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, vorläufig Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von weiteren 310 EUR monatlich zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller 3/5 der Kosten des Verfahrens für beide Instanzen zu erstatten. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten ohne Festsetzung von Monatsraten oder aus dem Vermögen zu zahlenden Beträgen bewilligt.

Gründe:

Die den Zeitraum vom 1. Dezember 2008 bis zum 31. Mai 2009 betreffende Beschwerde des Antragstellers gegen den denselben Zeitraum erfassenden Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Dezember 2008 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet. Der angegriffene Beschluss ist unzutreffend, soweit dem Antragsteller hiermit die ihm nunmehr im Wege der einstweiligen Anordnung zuerkannten Leistungen versagt worden sind.

Bezogen auf die dem Antragsteller nunmehr zuerkannten Leistungen erweist sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG zunächst als zulässig. Ungeachtet der Frage des richtigen Prüfungsstandorts (streitiges Rechtsverhältnis, Rechtsschutzbedürfnis) steht der Zulässigkeit des Antrags insbesondere nicht entgegen, dass der Bescheid des Antragsgegners vom 12. November 2008, mit dem der Antragsgegner die begehrten Leistungen abgelehnt hat, nach Lage der Akten bestandskräftig geworden ist, weil der Antragsteller hiergegen erst nach Ablauf der Widerspruchsfrist Widerspruch erhoben hat und der Antragsgegner diesen Widerspruch möglicherweise bereits mit seinem – in den Verwaltungsvorgängen allerdings nur als Entwurf vorhandenen – Widerspruchsbescheid vom 13. Januar 2009 als unzulässig verworfen hat. Denn mit Rücksicht auf die nach Lage der Akten eingetretene Bestandskraft des Ablehnungsbescheides steht zwischen den Beteiligten zwar nach § 77 SGG bindend fest, dass der vom Antragsteller verfolgte Leistungsanspruch derzeit nicht besteht. Angesichts der hier vorliegenden Besonderheiten des Einzelfalls bedeutet dies jedoch nicht, dass dem Antragsteller kein der vorläufigen Regelung fähiges Recht zur Seite stünde. Denn es darf hier nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Antragsteller bereits am 22. Dezember 2008 bei dem Antragsgegner beantragt hat, die Bestandskraft des Bescheides vom 12. November 2008 zu durchbrechen und ihm unter Aufhebung der entgegenstehenden Entscheidung die abgelehnten Leistungen zu gewähren. Diesem Antrag lässt sich eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht absprechen, wobei dahinstehen kann, ob der mit ihm verfolgte Anspruch aus § 44 Abs. 1 oder § 48 Abs. 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) herzuleiten wäre. Denn unterschiedliche Ergebnisse folgen hieraus für das vorläufige Rechtsschutzverfahren nicht. Entscheidender Gesichtspunkt dafür, dass dem Antrag Erfolgsaussichten zu bescheinigen sind, ist hier (neben dem eventuellen Bestehen einer temporären Bedarfsgemeinschaft des Antragstellers mit seinem Sohn und/oder dem Fehlen einer erneuten Kostensenkungsaufforderung für die Zeit nach dem Auszug des Sohnes aus der bis dahin gemeinsam bewohnten Wohnung) der Umstand, dass dem Antragsteller ein Auszug aus der von ihm seit Jahren bewohnten Wohnung jedenfalls seit Ende 2008 aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar sein könnte. Diesen Umstand hat der Antragsteller aus Sicht des Senats durch Vorlage des ärztlichen Attests der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. (UMF Buk) K vom 8. Dezember 2008 hinreichend dargelegt. Denn anders als das Sozialgericht gemeint hat, betrifft dieses Attest bei vernünftiger Auslegung nicht die Frage, ob dem Antragsteller der Transport des Umzugsgutes zuzumuten ist, sondern bescheinigt, dass der Antragsteller aus ärztlicher Sicht in der von ihm bewohnten Wohnung verbleiben müsse, weil ihm im Falle eines Auszugs gravierende gesundheitliche Gefahren drohten. Diese Einschätzung reicht im Lichte des in Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) verankerten Gebots effektiven Rechtsschutzes aus, um im Rahmen der Zulässigkeit des Antrags ein der vorläufigen Regelung fähiges Recht zu bejahen, weil der Antragsgegner beim Vorhandensein drohender Gesundheitsgefahren – abhängig vom Zeitpunkt des Eintritts der Gefahrenlage – den Ablehnungsbescheid vom 12. November 2008 entweder nach § 44 Abs. 1 SGB X von Anfang an oder nach § 48 Abs. 1 SGB X mangels atypischer Gesichtspunkte ab Eintritt der Gefahrenlage im Wege einer gebundenen Entscheidung aufheben und dem Antragsteller die begehrten Leistungen gewähren müsste.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erweist sich darüber hinaus bezogen auf die dem Antragsteller nunmehr zuerkannten Leistungen auch als begründet. Denn der Antragsteller hat insoweit sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (§ 86b Abs. 2 S. 2 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO -).

Unter Beachtung des sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Gebots effektiven Rechtsschutzes bestehen zunächst gegen die Eilbedürftigkeit der Sache keine Bedenken. Denn dem Antragsteller ist es insoweit nicht zuzumuten, eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten. Er ist nach Lage der Akten nicht dazu in der Lage, für die zuerkannten Leistungen auch nur teilweise selbst aufzukommen oder sich auf sonstige Weise selbst zu helfen, benötigt die Leistungen jedoch, um seinen laufenden Bedarf an den Kosten der Unterkunft und Heizung decken und hierdurch die von ihm bewohnte Wohnung weiterhin erhalten zu können, in der er nach dem ärztlichen Attest vom 8. Dezember 2008 aus gesundheitlichen Gründen verbleiben muss. Hieran ändert nichts, dass ihm und seinem Sohn bzw. ihm allein bis August oder November 2008 Kosten der Unterkunft und Heizung lediglich in abgesenkter Höhe von 488,40 EUR monatlich bewilligt worden sind. Denn abgesehen davon, dass es in der Vergangenheit bereits zu Mietschulden gekommen ist, verfügten der Antragsteller und sein Sohn jedenfalls bis August 2008 zusammen betrachtet über finanzielle Mittel, aus denen die Differenz zu den Kosten der Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe bei ansonsten sparsamer Lebensführung aufgebracht werden konnte.

Des Weiteren ist hinsichtlich der zuerkannten Leistungen auch ein Anordnungsanspruch zu bejahen, der sich im Fall des Antragstellers allerdings nicht aus § 22 Abs. 1 des Zweiten Buches des Sozialgesetzbuches, sondern aus einer Folgenabwägung ergibt, bei der in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat und stattdessen die Folgen abzuwägen sind, die eintreten würden, wenn die begehrte Anordnung nicht erginge, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren aber obsiegen würde, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die Anordnung erlassen würde, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren indes keinen Erfolg hätte.

Eine solche Folgenabwägung erscheint im Lichte von Art. 19 Abs. 4 GG im vorliegenden Fall zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich, weil der Antragsteller hier Leistungen begehrt, die dazu dienen, ihm ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, das sicherzustellen der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Da das vorläufige Rechtsschutzverfahren für dieses Begehren die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens vollständig übernimmt und dem Antragsteller bei einer Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes eine endgültige Grundrechtsverletzung droht, dürfen nach Art. 19 Abs. 4 GG die Anforderungen an die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht überspannt werden. Um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zu genügen, darf sich das zur Entscheidung berufene Gericht nicht auf eine nur summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache beschränken, sondern muss die Sach- und Rechtslage abschließend prüfen. Ist ihm dies im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht möglich, ist eine Folgenabwägung vorzunehmen (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -, zitiert nach juris). Letzteres ist hier der Fall. Denn die Entscheidung, ob die Bestandskraft des Bescheides vom 12. November 2008 zu durchbrechen ist und dem Antragsteller die mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrten Leistungen tatsächlich zustehen, hängt nicht nur von der Klärung der Frage ab, ob er mit seinem Sohn in einer temporären Bedarfsgemeinschaft lebt und mit welchen rechtlichen Konsequenzen das Bestehen oder Nichtbestehen einer solchen temporären Bedarfsgemeinschaft für den Anspruch auf Gewährung der tatsächlich anfallenden Kosten der Unterkunft und Heizung verbunden ist. Zu klären ist vielmehr vor allem auch, ob es der Gesundheitszustand des Antragstellers erlaubt, die Kosten der Unterkunft und Heizung insbesondere durch einen Wohnungswechsel zu senken. Vor allem die Klärung der letzten Frage muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben, weil insoweit weitere medizinische Ermittlungen erforderlich erscheinen, die den Charakter des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens sprengen würden.

Die zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Folgenabwägung fällt im vorliegenden Fall zu Gunsten des Antragstellers aus, weil ihm bei einer Ablehnung seines Antrags existenzielle Nachteile drohen, die er aus eigener Kraft nicht imstande ist von sich abzuwenden. Diesen Nachteilen stehen auf der Seite des Antragsgegners lediglich finanzielle Interessen gegenüber, die sich im Hinblick auf den in Rede stehenden Betrag in Höhe von 310 EUR monatlich für die Zeit vom 12. Februar 2009 bis zum 31. Mai 2009 in einem für den Antragsgegner überschaubaren Rahmen halten und dementsprechend hinter den dem Antragsteller drohenden Nachteilen zurückzutreten haben.

Zurückzuweisen war die Beschwerde jedoch, soweit der Antragsteller Leistungen auch für die Zeit vor der Entscheidung des Senats begehrt. Denn insoweit erweist sich die Sache aus heutiger Sicht nicht (mehr) als eilbedürftig. Dem Antragsteller ist es insoweit (mittlerweile) auch im Lichte des in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Gebots effektiven Rechtsschutzes zuzumuten, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Denn der Zeitraum bis zur Entscheidung des Senats ist abgelaufen und schwere und unwiederbringliche Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage sein könnte, hat der Antragsteller nicht dargelegt. Sie sind auch sonst nach Lage der Akten nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO. Die in diesen Vorschriften geregelten Voraussetzungen liegen vor. Denn wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, hat die Beschwerde hinreichende Aussicht auf Erfolg und kann auch nicht als mutwillig bezeichnet werden. Zudem ist der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung auch nur anteilig aufzubringen, und schließlich erscheint seine Vertretung durch seinen Verfahrensbevollmächtigten angesichts der Schwierigkeiten des Falles erforderlich.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved