L 11 AS 8/08

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
11
1. Instanz
SG Schleswig (SHS)
Aktenzeichen
S 2 AS 812/05
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AS 8/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine fehlende Anhörung wird wirksam nachgeholt und der Verfahrensfehler ist geheilt, wenn in der letzten
mündlichen Verhandlung der letzten Tatsacheninstanz den Beteiligten Gelegenheit gegeben wird, sich
umfassend zu äußern. Ein formelles Anhörungsverfahrens unter Einräumung einer Äußerungsfrist bedarf es
nicht entgegen BSG).
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 14. August 2007 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Verfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung eines leistungsbewilligenden Bescheides für den Zeitraum vom 1. März 2005 bis zum 31. Juli 2005 und die Rückforderung von 2.525,00 EUR.

Der am 22. Juli 1969 geborene Kläger stellte am 14. Februar 2005 bei der Beklagten einen Antrag auf Leistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II). Dabei gab er an, dass er bis zum 28. Februar 2005 Arbeitslosengeld beziehe. Am 2. März 2005 teilte der Kläger der Agentur für Arbeit mit, dass er seit dem 25. Februar 2005 Krankengeld beziehe.

Mit Bescheid vom 18. April 2005 gewährte die Beklagte dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 505,00 EUR monatlich für die Zeit vom 1. März bis zum 31. Juli 2005. Diesen Bescheid hob die Beklagte mit Bescheid vom 14. Juli 2005 unter Hinweis auf § 48 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), wegen des Bezugs von Krankengeld auf. Außerdem forderte sie einen Betrag von 2.525,00 EUR zurück. Der Kläger legte durch seinen Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 27. am 28. Juli 2005 Widerspruch ein mit der Begründung, er habe den Bezug von Krankengeld mitgeteilt. Mit Widerspruchsbescheid vom 31. Au¬gust 2005 wies die Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, der Bescheid vom 18. April 2005 sei gemäß § 45 Abs. 2 SGB X zurückzunehmen, da der Kläger sich nicht auf Vertrauensschutz berufen könne. Er habe die Rechtswidrigkeit des Bescheides infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt, denn er hätte der dem Bescheid beigefügten Berechnung entnehmen können, dass ab März 2005 keinerlei Einkommen angerechnet worden sei.

Der Kläger hat am 28. September 2005 Klage erhoben und ausgeführt, dass er den Krankengeldbezug der Beklagten mitgeteilt habe und im Übrigen die Leistungen verbraucht seien. Er habe keine Pflicht, die Bescheide unter der Maßgabe zu kontrollieren, ob sämtliche von ihm getätigten Angaben hinreichend durch die Beklagte berücksichtigt bzw. umgesetzt worden seien. Insoweit könne er sich auf Vertrauensschutz berufen.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid vom 14. Juli 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2005 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat sie sich im Wesentlichen auf den Inhalt der angegriffenen Bescheide berufen und ergänzend ausgeführt, auf Vertrauen könne sich der Kläger gerade nicht berufen, da auch für einen Laien klar erkennbar gewesen sei, dass bei der Berechnung Krankengeld nicht angerechnet worden sei.

Mit Urteil vom 14. August 2007, verkündet am 25. Oktober 2007 und fälschlicherweise unter diesem Datum ergangen, hat das Sozialgericht Schleswig den Bescheid vom 14. Juli 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2005 aufgehoben. Das Urteil ist der Beklagten am 2. Januar 2008 zugestellt worden.

Die Beklagte hat am 23. Januar 2008 Berufung eingelegt und zur Begründung ausgeführt, der Kläger habe die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides zumindest grob fahrlässig nicht gekannt, da er in der mündlichen Verhandlung angegeben habe, den Bescheid überhaupt nicht gelesen zu haben. Das Sozialgericht habe diese Feststellung verfahrensfehlerhaft nicht in das Protokoll der mündlichen Verhandlung aufgenommen. Für die Frage der Fahrlässigkeit sei jedoch entscheidend, inwieweit der Kläger den Inhalt überhaupt zur Kenntnis genommen habe. Es sei herrschende Meinung, dass allein der Umstand, einen Bescheid nicht gelesen zu haben, den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit begründe. Im Übrigen sei ein Bescheid auch im Ganzen durchzusehen. Schließlich hätte der Kläger die Rechtswidrigkeit des Bescheides ohne Mühen erkennen können, da für die Monate März bis Juli 2005 keinerlei Einkommen angerechnet worden sei. Die Nichtanrechnung des Krankengeldes sei leicht erkennbar und für den Kläger augenfällig gewesen. Ein eventuelles Mitverschulden der Behörde sei unerheblich. Auch subjektiv sei der Kläger, der über einen Haupt- und Realschulabschluss sowie eine Ausbildung zum Lageristen verfüge, in der Lage, den Gehalt des Bescheides und dessen Fehlerhaftigkeit zu erfassen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 25. Ok¬tober 2007 (14. August 2007) aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend. Von ihm könne eine Richtigkeitsprüfung jeder einzelnen Seite des Bescheides nicht verlangt werden, da er hierzu insbesondere vor dem Hintergrund der fehlenden Klarheit und Nachvollziehbarkeit der Bescheide der Beklagten intellektuell nicht in der Lage sei. Ferner sei er lediglich verpflichtet, Änderungen in den persönlichen Verhältnissen mitzuteilen. Dieser Verpflichtung sei er nachgekommen. Die Beurteilung der Auswirkungen der Veränderungen der Verhältnisse obliege einzig und allein der Beklagten. Der Kläger bestreitet, in der mündlichen Verhandlung vom 14. August 2007 die Aussage getätigt zu haben, er habe sich den Bewilligungsbescheid nicht durchgelesen. Jedenfalls könne er sich an eine solche Aussage nicht erinnern.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf die Gerichts- und Beiakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Das auf die mündliche Verhandlung vom 14. August 2007 ergangene, angegriffene Urteil des Sozialgerichts, welches lediglich am 25. Oktober 2007 verkündet wurde, ist fehlerhaft und daher aufzuheben.

Der Bescheid vom 14. Juli 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2005 ist nicht rechtswidrig.

Allerdings ist der Bescheid vom 14. Juli 2005 verfahrensfehlerhaft zu Stande gekommen, denn der Kläger ist vor dem Erlass des Bescheides nicht angehört worden.

Bevor ein Verwaltungsakt, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, erlassen wird, ist diesem gemäß § 24 Abs. 1 SGB X Gelegenheit zu geben, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern. Diese Verpflichtung zur Anhörung hat angesichts des belastenden Charakters der Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung hier bestanden, denn ein Fall des § 24 Abs. 2 SGB X, wonach von einer Anhörung ausnahmsweise abgesehen werden kann, lag nicht vor.

Die unterlassene Anhörung führt gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X nicht zur formellen Rechtswidrigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides, denn eine Verletzung von Verfahrens- und Formvorschriften, die den Verwaltungsakt nicht nach § 40 SGB X nichtig macht, ist unbeachtlich, wenn insbesondere die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird. Die Anhörung kann bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden (§ 41 Abs. 2 SGB X).

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist dieser Verfahrensmangel allerdings nicht im Widerspruchsverfahren durch die gewährte Akteneinsicht und die Widerspruchsbegründung geheilt worden. Die Anhörung kann nur dann im Widerspruchsverfahren nachgeholt werden, wenn der Ausgangsbescheid selbst alle wesentlichen – entscheidungserheblichen – Tatsachen enthält, zu denen der Betroffene dann im Vorverfahren Stellung nehmen kann (Schütze in: von Wulffen, SGB X, 6. Aufl. 2008, § 41 Rn. 15, auch zum Folgenden; vgl. BSG, Urt. v. 13. Dezember 2001 – B 13 RJ 67/99 R, BSGE 89, 111, 114). Entscheidungserheblich sind dabei alle Tatsachen, auf die die Behörde den Verfügungssatz gestützt hat oder auf den es nach ihrer materiell rechtlichen Ansicht objektiv ankommt. Enthält der Bescheid alle wesentlichen Tatsachen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung gestützt hat und im Widerspruchsbescheid stützen will, reicht für die Anhörung die Möglichkeit der Stellungnahme im Widerspruchsverfahren aus. Solange der Entscheidung über den Widerspruch keine neuen Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen der Widerspruchsführer neu angehört werden müsste, ist insoweit kein gesondertes förmliches Anhörungsverfahren erforderlich. Das gilt hier jedoch nicht, denn der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14. Juli 2005 enthält als entscheidungserhebliche Tatsache lediglich den Bezug von Krankengeld und führt als relevante Aufhebungsnorm § 48 SGB X an. Weder aus dem angegriffenen Bescheid noch aus dem Inhalt der Verwaltungsakte war für den Kläger während des Vorverfahrens erkennbar, dass die Beklagte ihre Aufhebungsentscheidung in der Fassung des Widerspruchsbescheides auf § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X stützen werde. Neben dem Bezug von Krankengeld stellt der Widerspruchsbescheid vom 31. August 2005 auf einen mangelnden Vertrauensschutz infolge grober Fahrlässigkeit als entscheidungserhebliche Tatsache ab, ohne dass dem Kläger während des Vorverfahrens Gelegenheit gegeben wurde, sich zu den Tatsachen, die den Vorwurf des grob fahrlässigen Verhaltens begründen, zu äußern.

Der Verfahrensmangel der unterbliebenen Anhörung ist jedoch im Klageverfahren vor dem Sozialgericht durch die Stellungnahme des Klägers zu dem Vorwurf der groben Fahrlässigkeit geheilt.

Das Bundessozialgericht (Urt. v. 23. Januar 2008 – B 10 LW 1/07 R; Urt. v. 5. Februar 2008 – B 2 U 6/07 R, SGb 2009, 156) lässt eine Heilung des Verfahrensfehlers der fehlenden Anhörung zu, wenn bis einschließlich der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren eine Anhörung durch ein förmliches Verfahren seitens der Beklagtenseite durchgeführt worden ist. Zwar ist eine Heilung nach der Rechtsprechung des 4. Senats (Urt. v. 31. Okto¬ber 2002 – B 4 RA 15/01 R, SozR 3-1300 § 24 Nr. 22) ausgeschlossen, wenn die Behörde die Anhörungspflicht vorsätzlich, rechtmissbräuchlich oder durch Organisationsverschulden verletzt hat. Diese einschränkende Auffassung wird zutreffend vom 2. Senat nicht geteilt (vgl. Urt. v. 5. Februar 2008, a. a. O.). Im Übrigen sind hier keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Beklagte ihre Anhörungspflicht vorsätzlich verletzt haben sollte.

Allerdings ist bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz auch kein förmliches Anhörungsverfahren durchgeführt worden. Das ist nach Auffassung des Senats aber entbehrlich. Zusammen mit dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Urt. v. 20. August 2007 – L 20 AS 99/06 -) ist der Senat der Auffassung, dass eine fehlende Anhörung wirksam nachgeholt und geheilt ist, wenn in der mündlichen Verhandlung der letzten Tatsacheninstanz des sozialgerichtlichen Verfahrens den Beteiligten ausdrücklich Gelegenheit gegeben wird, sich zu äußern und der Hilfebedürftige sich im Übrigen zu den relevanten Umständen im Klageverfahren geäußert hat. Ein nochmaliger Hinweis auf die bereits bekannten Haupttatsachen durch den Leistungsträger in einem formellen Anhörungsverfahren unter Einräumung einer Äußerungsfrist wäre eine inhaltsleere Formalität.

Zwar ist der 7a. Senat des Bundessozialgerichts (Urt. v. 6. April 2006 – B 7a AL 64/05 R -) der Auffassung, es sei für die Heilung nicht ausreichend, dass – wie im Widerspruchsverfahren – der Betroffene aufgrund des Bescheides die Möglichkeit hat, Stellung zu nehmen. Vielmehr müsse gewährleistet sein, dass die beklagte Beteiligte dem Betroffenen die Möglichkeit gebe, sich zu der bereits vorliegenden Entscheidung zu äußern, um dann zumindest formlos darüber zu befinden, ob sie bei ihrer Entscheidung verbleibe. Dies sei – im Unterschied zum Widerspruchsverfahren, in dem noch ein Widerspruchsbescheid erfolge – nicht gewährleistet, wenn lediglich das Gericht den Betroffenen im Rahmen des Klageverfahrens diese Möglichkeit eröffne. Dem ist entgegen zu halten, dass es Ziel der Anhörung ist, dem Betroffenen rechtzeitig Gelegenheit zum Vortrag entscheidungserheblicher Tatsachen zu geben, damit dieser nicht durch einen Verwaltungsakt überrascht wird, der seine Rechtsposition schmälert. Die Behörde soll den Betroffenen so als berechtigtes Subjekt in den Prozess der Entscheidungsbildung einbeziehen. Zugleich soll das Angebot zum tatsächlichen Vorbringen durch die Beteiligten dazu beitragen, den zu beurteilenden Sachverhalt vollständig zu klären (Dörr, Anm. zum Urteil des BSG vom 5. Februar 2008, SGb 2009, 159 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien). Dann ist aber ausreichend, dass der von einer für ihn negativen Entscheidung Betroffene im Laufe des Verwaltungs- und des Gerichtsverfahrens die Möglichkeit hat, alle für ihn bedeutsamen Argumente gegen die behördliche Entscheidung vorzutragen. Dies ist im erstinstanzlichen Verfahren und im Berufungsverfahren jeweils der Fall. Hierzu bedarf es keines zusätzlichen Verfahrens seitens der Beklagten. Die Rechte der betroffenen Partei sind durch die Möglichkeit gewahrt, bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz umfassend vortragen zu können. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass nur durch ein mehr oder weniger förmliches Verfahren der Beklagtenseite die Rechte der betroffenen Partei gewahrt werden und anderenfalls eine Rechtsverletzung mit beeinträchtigendem Charakter vorliegt.

Zu fordern, der Verwaltungsträger müsse vor Abschluss der gerichtlichen Tatsacheninstanz dem Betroffenen, dem bereits alle für die Entscheidung der Behörde wesentlichen Tatsachen bekannt sind, gleichsam nochmals mit Einräumung einer Äußerungsfrist auf diese Tatsachen hinzuweisen und gegebenenfalls anschließend eine nach § 96 SGG zum Gegenstand des Verfahrens werdende Entscheidung über Bestätigung, Änderung und Aufhebung des Eingriffs treffen, unterläuft zudem die Regelung des § 41 Abs. 2 SGB X in der Fassung ab 1. Januar 2001. Denn diese Vorschrift dient der Vereinfachung des Verfahrens, wenn Rechte des Betroffenen nicht beeinträchtigt sind. Zwar kann der Anhörungszweck eines Schutzes vor Überraschungsentscheidungen von vornherein nicht durch eine Nachholung der Anhörung ungeschehen gemacht werden. Der Betroffene hat aber die Gelegenheit, seine Sicht der Dinge während des Verwaltungsverfahrens und gerichtlichen Verfahrens darzulegen. Die Behörde kann daraufhin ihr Handeln noch einmal überprüfen, sodass die übrigen Zwecke der Anhörung vollständig gewahrt bleiben. Insofern ist die Behörde ohnehin während des gerichtlichen Verfahrens ständig gehalten, ihre Entscheidung nochmals – z. B. im Hinblick auf das vom Kläger Vorgebrachte – zu prüfen und gegebenenfalls durch teilweises oder vollständiges Anerkenntnis das Vorgebrachte zu würdigen. Tut sie dies nicht, bringt sie damit erkennbar zum Ausdruck, dass ihre Entscheidung auch in Ansehung des Vorgetragenen nicht geändert werden soll. Die Behörde zu zwingen, einen weiteren nach § 96 SGG zum Gegenstand des Verfahrens werdenden Verwaltungsakt zu erlassen, "wäre demgegenüber eine förmelnde Verkomplizierung des Prozessstoffes ohne weiteren Erkenntnisgewinn für Beteiligte und Gericht und ohne jeden Rechtsschutzgewinn für den Kläger" (LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 20. August 2007 – L 20 AS 99/06 -).

Der Bescheid vom 14. Juli 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2005 ist von der Sache her rechtmäßig. Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 der Vorschrift mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, soweit er rechtswidrig ist. Soweit dem Kläger mit Bescheid vom 18. April 2005 für die Zeit von März bis Juli 2005 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 505,00 EUR monatlich bewilligt worden sind, war diese Entscheidung von Anfang an rechtswidrig, denn der Kläger hatte ab 25. Februar 2005 Krankengeld bezogen und daher ab dem 1. März 2005 keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II.

Dem Bedarf des Klägers in dem maßgeblichen Zeitraum in Höhe von 445,00 EUR (345,00 EUR Regelsatz und 100,00 EUR Kosten der Unterkunft) monatlich stand ein Einkommen aus Krankengeld in Höhe von 20,77 EUR täglich, mithin 623,10 EUR monatlich, gegenüber. Von dem monatlichen Krankengeld sind nach § 11 Abs. 2 SGB II der Beitrag zur Kfz-Haftpflichtversicherung in Höhe von 17,38 EUR monatlich und die Versicherungspauschale in Höhe von 30,00 EUR monatlich sowie der geförderte Altersvorsorgebeitrag in Höhe von 50,00 EUR monatlich abzusetzen, so dass sich in dem Zeitraum von März bis Juli ein anzurechnendes Einkommen aus Krankengeld in Höhe von 525,72 EUR monatlich ergab. Da das anzurechnende Einkommen den Bedarf des Klägers überstieg, bestand kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II, so dass auch der gemäß § 24 Abs. 2 SGB II bei Bezug von Leistungen zu berücksichtigende Zuschlag nach Bezug von Arbeitslosengeld in Höhe von hier 60,00 EUR monatlich entfiel.

Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Allerdings kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die in der Personengruppe herrschende Sorgfaltspflicht in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden ist, wenn also außer Acht gelassen worden ist, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Die Rechtswidrigkeit muss sich ohne weitere Nachforschungen aus dem Bescheid selbst ergeben und es muss anhand der Umstände und ganz naheliegender Überlegungen einleuchten und auffallen, dass der Bescheid fehlerhaft ist (vgl. Schütze, a.a.O., § 45 Rn. 56). Dabei ist auch in subjektiver Hinsicht ein gegenüber einfacher Fahrlässigkeit gesteigertes Verschulden nötig. Eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit kann dabei allerdings nicht außer Betracht bleiben. Der Betroffene muss unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit seine Sorgfaltspflichten in außergewöhnlich hohem Maße, d. h. in einem das gewöhnliche Maß an Fahrlässigkeit erheblich übersteigenden Ausmaß verletzt haben. Ob ein Kennenmüssen zu bejahen ist, muss unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Persönlichkeit des Betroffenen, beurteilt werden (vgl. Schütze, a.a.O., § 45 Rn. 56, 52). Dabei ist unerheblich, wer die Rechtswidrigkeit verursacht hat. Die grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit entfällt nicht dadurch, dass die wesentliche Ursache der Unrichtigkeit des Verwaltungsaktes bei der Behörde liegt.

Gemessen an diesen Maßstäben ist eine grob fahrlässige Unkenntnis des Klägers mit der Folge zu bejahen, dass er nicht auf den Bestand des Bescheides vertrauen durfte.

Unerheblich ist dabei, ob die Behauptung der Beklagten, der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht geäußert, den Bewilligungsbescheid nicht gelesen zu haben, zutrifft. Denn selbst wenn der Kläger den Bescheid gelesen haben sollte, so hätte ihm die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides auffallen können oder müssen.

Die Rechtswidrigkeit des Bescheides ergab sich ohne weitere Nachforschungen aus diesem selbst. Der Kläger wusste, dass er seit dem 25. Februar 2005 Krankengeld erhielt und dass dieses auf den Bedarf anzurechnen war. So wurde er in dem Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter IV (Einkommensverhältnisse) des Antragsvordruckes u. a. auch nach dem Bezug von Krankengeld gefragt. Dort hat er den Bezug von Krankengeld nicht angegeben. Ferner versicherte er am 14. Februar 2005 durch seine Unterschrift, alle Änderungen – insbesondere der Einkommensverhältnisse – unaufgefordert und unverzüglich mitzuteilen. Er hat auch den Bezug von Krankengeld mitgeteilt, allerdings nicht der Beklagten, sondern der Agentur für Arbeit. Dieses Verhalten zeigt, dass er gemessen an seinen subjektiven Fähigkeiten in der Lage war, die Relevanz des Krankengeldbezuges für seinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zu erkennen.

Der Kläger war auch verpflichtet, den Bewilligungsbescheid vom 18. April 2005 auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen. Diese Verpflichtung bezieht sich nicht nur auf den Verfügungssatz, sondern auf alle wesentlichen Punkte der Berechnung der jeweiligen Bedarfsmonate. Dabei kann von dem Kläger bei der Komplexität der Bescheide der Beklagten zugegebenermaßen nicht verlangt werden, eine eventuell erfolgte Einkommensanrechnung in allen Einzelheiten, insbesondere im Hinblick auf die Berechnung von Freibeträgen und ähnlichem, nachzuvollziehen. Jedoch ist zu erwarten, dass der Kläger die Frage, ob Einkommen überhaupt angerechnet wird oder nicht, erkennt.

Bei Durchsicht der Bedarfsberechnungen war auch für den Kläger als juristischen Laien leicht erkennbar, dass in den Monaten März bis Juli 2005 keinerlei Einkommen angerechnet worden war, also auch kein Einkommen aus Krankengeld. Da sich die Rechtswidrigkeit des Bescheides augenfällig aus diesem selbst ergab, hätte der Kläger die Fehlerhaftigkeit des Bescheides ohne Mühen erkennen können, zumal aus dem Bescheid vom 18. April 2005 eindeutig ersichtlich war, dass für Februar 2005 Einkommen in Form des Arbeitslosengeldes I angerechnet worden war, für die übrigen Monate aber trotz Bezugs von Krankengeld keine Einkommensanrechnung erfolge.

Der Kläger war auch unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit zum Erkennen der Fehlerhaftigkeit des Bescheides in der Lage. Er verfügt über einen Schulabschluss und eine abgeschlossene Berufsausbildung als Lagerist/Handelsfachpacker. Der Beruf des Handelsfachpackers/Lage¬rist setzt annähernd durchschnittliche Kenntnisse in Mathematik und ausreichende Sicherheit in der Rechtschreibung voraus. So müssen Flächen- und Umfangberechnungen von Transportgütern angestellt, Lade- und Warenbegleitpapiere ausgefüllt und Listen und Tabellen kontrolliert und überwacht werden. Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger in der Lage war und ist, den tabellenartig aufgeführten Bescheid der Beklagten zumindest insoweit nachzuvollziehen, als dass kein anzurechnendes Einkommen aufgeführt worden ist.

Hierfür ist auch nicht erforderlich, das anzurechnende Einkommen aus Krankengeld mit 0,00 EUR anzugeben, wie der Kläger meint. Das würde bedeuten, dass in den Bewilligungsbescheiden alle denkbaren Einkommensarten aufzuführen sind und mit jeweils 0,00 EUR angegeben werden müssten. Dies würde zu einer inhaltlichen Überfrachtung der Bescheide führen. Ausreichend, übersichtlich und verständlich ist es, lediglich die Einkommensarten in die Bedarfsberechnung aufzunehmen, die für die Ermittlung des Leistungsanspruchs von Relevanz sind.

Ein eventuelles Verschulden der Beklagten bei Erlass des rechtswidrigen Bewilligungsbescheides ist unbeachtlich. Diese wäre allenfalls im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen gewesen. Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III handelt es sich hier jedoch um eine gebundene Entscheidung, so dass auch für die Erstattungshöhe allein entscheidend ist, ob der Kläger die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides hätte erkennen können und müssen.

Der Bewilligungsbescheid vom 18. April 2005 war daher gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X für die Zeit von März bis Juli 2005 mit der Folge aufzuheben, dass gemäß § 50 SGB X die für diesen Zeitraum zu Unrecht erbrachten Leistungen in Höhe von insgesamt 2.525,00 EUR zu erstatten sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision ist gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG zuzulassen, weil diese Entscheidung von den Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Anhörung abweicht.
Rechtskraft
Aus
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