S 3 AS 2665/09 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Konstanz (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 3 AS 2665/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Den Antragstellern wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Konstanz Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwältin xxxxx beigeordnet.

Der Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vorläufig darlehensweise Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 2. Oktober bis 6. November 2009 zu gewähren.

Im übrigen werden die Anträge abgelehnt.

Der Beigeladene hat ein Drittel der außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu erstatten.

Gründe:

Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die ersten drei Monate nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland.

I.

Die Antragsteller sind nach Aktenlage (vgl. Verwaltungsakten Bl. 164, 165, 166) kasachische Staatsangehörige. Sie reisten am 7. August 2009 zur Familienzusammenführung mit dem Ehemann bzw. Vater xxxxx in das Bundesgebiet ein.

Herrn xxxxx waren bereits mit Bescheid vom 30. Juli 2009 (Verwaltungsakten Bl. 125 ff.) Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch in Höhe von 372 EUR bewilligt worden. Nachdem er am 12. August 2009 auch Leistungen für die Antragsteller geltend gemacht hatte (vgl. Verwaltungsakten Bl. 142), setzte die Agentur für Arbeit Xxxxx mit Bescheid vom 19. August 2009 (Verwaltungsakten Bl. 138 ff.) die dem Kläger zu gewährende Leistung ab 1. September 2009 im Hinblick auf § 20 Abs. 3 Zweites Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) auf 336 EUR herab und lehnte die Leistungsgewährung für die Antragsteller ab. Den hiergegen am 3. September 2009 eingelegten Widerspruch wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 14. September 2009 (Verwaltungsakten Bl. 188/191) unter Berufung auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II zurück, weil die Antragsteller Ausländer und in Deutschland weder Arbeitnehmer noch Selbständige noch Freizügigkeitsberechtigte seien. Hiergegen wurde am 6. Oktober 2009 Klage zum Sozialgericht Konstanz erhoben (Az.: S 3 AS 2698/09).

Am 18. September 2009 beantragten die Antragsteller beim Landkreis Xxxxx Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch. Mit Bescheid vom 25. September 2009 (Gerichtsakte Bl. 41/42) lehnte der Sozialhilfeträger diesen Antrag ab, weil die Antragsteller dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem Zweiten Buch seien. Über den Widerspruch vom 6. Oktober 2009 (Gerichtsakte Bl. 40) ist - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden.

Am 2. Oktober 2009 wurde der vorliegende Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die Bundesagentur für Arbeit gestellt. Mit Beschluss vom 28. Oktober 2009 hat das Gericht den Landkreis xxxxx als Sozialhilfeträger beigeladenen.

Antragsgegnerin und Beigeladener sind dem Antrag unter Beibehaltung ihrer jeweiligen Argumentation entgegengetreten.

Dem Gericht liegen die Akten der Agentur für Arbeit und des Landratsamts xxxxx vor, auf welche ebenso wie auf die Gerichtsakten wegen des weiteren Sachverhalts verwiesen wird.

II.

Die Anträge sind als solche auf Erlass einer einstweiligen Anordnung statthaft, in ihrer berichtigten Fassung (vgl. Gerichtsakte Bl. 39) auch im übrigen zulässig und im Sinne einer Verpflichtung des Beigeladenen teilweise begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Reglung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung ist hierbei, dass vom Antragsteller die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs, d. h. eines materiellen Rechtsanspruchs, und eines Anordnungsgrundes, also der besonderen Dringlichkeit der erstrebten Regelung, glaubhaft gemacht werden (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO).

1. Hinsichtlich der Antragsgegnerin besteht kein materieller Leistungsanspruch.

Wie die Antragsgegnerin in ihrem Widerspruchsbescheid vom 14. September 2009 zu Recht ausführt, steht einem Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch die Regelung des dortigen § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 entgegen. Zur Vermeidung von Wiederholung kann insoweit auf die zutreffenden Ausführungen in dem genannten Widerspruchsbescheid verwiesen werden (§ 136 Abs. 3 SGG analog).

Gegen die Antragsgegnerin scheidet also ein Anordnungsanspruch und damit der Erlass einer einstweiligen Anordnung aus.

2. Allerdings kann nach § 75 Abs. 5 SGG auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der Beigeladene unmittelbar verpflichtet werden (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Juni 2007 - L 13 SO 5/07 ER -, FEVS 59, 86; LSG Nordhrein-Westfalen, Beschluss vom 3. November 2006 - L 20 B 248/06 AS ER -, Breithaupt 2007, 796). Daher sind auch solche Ansprüche gegen den Beigeladenen zu prüfen, die alternativ zum Grundsicherungsanspruch nach dem Zweiten Buch bestehen und demselben Zweck der Sicherung des Lebensunterhalts dienen.

a) Insoweit kommt ersichtlich nur ein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 in Verbindung mit §§ 27 ff. Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII) in Betracht.

Der Beigeladene wendet hiergegen ein, der Anspruch sei nach § 21 Satz 1 SGB XII ausgeschlossen. Hiernach erhalten Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach leistungsberechtigt sind, keine Leistungen für den Lebensunterhalt. Dies entspricht der Begründung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales, wonach Leistungen nach dem Zweiten Buch auch dann ausgeschlossen sein sollen, wenn die Ausländer die allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen wie Erwerbsfähigkeit, Hilfebedürftigkeit, gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland erfüllen. Darüber hinaus sollen auch Leistungen nach dem Zwölften Buch wegen § 21 Satz 1 SGB XII nicht in Betracht kommen, da der betroffene Personenkreis dem Grunde nach leistungsberechtigt nach dem Zweiten Buch bleibe (vgl. Bundestags-Drucksache 16/688, S. 13).

Nach Ansicht des beschließenden Gerichts ist für die Antragsteller, die wegen § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II keinen Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz haben, bei summarischer Prüfung und verfassungskonformer Auslegung trotz der in den Gesetzesmaterialien festgehaltenen gegenteiligen Ansicht des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen aus § 23 in Verbindung mit §§ 27 ff. SGB XII gegeben.

Verfassungsrechtlich ist nach Art. 1 Abs. 1 und 20 Grundgesetz ein Existenzminimum dergestalt garantiert ist, dass es Aufgabe des Staates ist, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen (BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1990 - 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 -, BVerfGE 82, 60 [80]). Das Regelungsgefüge aus § 21 Abs. 1 SGB XII und § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ist im Lichte dieses verfassungsrechtlichen Gebotes dahingehend auszulegen, dass für die normbetroffenen Ausländer zumindest die unabweisbare Hilfe gewährleistet ist.

Weil es der Wortlaut des § 21 Satz 1 SGB XII ohne weiteres erlaubt, Ausländer, die wegen § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II keine Leistungen nach dem Zweiten Buch beziehen können, als bereits "dem Grunde nach" von diesen Leistungen ausgeschlossen anzusehen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 3. November 2006, a. a. O.), erscheint es von Verfassung wegen geboten, auch entgegen den erklärten Willen des historischen Gesetzgebers § 21 Abs. 1 SGB XII entsprechend seinem Wortlaut und im Einklang mit den Gebot der Sicherung der unabweisbaren Hilfe so zu verstehen, dass für solche Ausländer ein Leistungsanspruch nach dem Zweiten Buch "dem Grunde nach" gerade nicht besteht und damit der Leistungsausschluss für die Sozialhilfe nicht greift.

Während der ersten drei Monates ihres Aufenthalts in Deutschland besteht also für die Antragsteller bereits dem Grunde nach kein Leistungsanspruch gemäß dem Zweiten Buch, so dass die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 23, 27 ff. SGB XII insoweit möglich bleibt (so Birk in: LPK-SGB XII, 8. Aufl. 2008, § 23 Rdnr. 7 und im Ergebnis auch Schumacher in: Oestreicher, SGB XII/SGB II, Loseblatt Stand März 2009, § 21 SGB XII Rdnr. 17 b a. E.).

Der gegenteiligen Auffassung, welche die Grundsicherungsverantwortung in den ersten drei Monaten noch beim Herkunftsstaat sieht und Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt für ausgeschlossen hält (vgl. Hänlein in: Gagel, SGB II und SGB III, § 7 SGB II Rdnr. 73), vermag sich das Gericht schon wegen der dargelegten verfassungsrechtlicher Bedenken im Hinblick auf die Gewährleistung des Existenzminimums nicht anzuschließen. Legal eingereiste Ausländer wie die Antragsteller, denen zudem eine kurzfristige Rückkehr in ihr Heimatland schon wegen der Transportkosten nicht möglich ist, gerieten bei dieser Auslegung in die ausweglose Situation, dass sie einerseits im Inland keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten könnten, andererseits aber auch nicht die Möglichkeit hätten, das Leistungssystem des Heimatlandes in Anspruch zu nehmen.

Kommt demnach ein Anspruch auf laufende Hilfe grundsätzlich in Betracht, so liegen nach der im Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung auch dessen weitere Voraussetzungen mit hoher Wahrscheinlichkeit vor. Insbesondere sind die Antragsteller augenscheinlich mittellos, denn sie dürften auch keinen realisierbaren Unterhaltsanspruch gegen den Ehemann bzw. Vater haben, da dieser selbst bedürftigkeitsabhängige Leistungen nach dem Zweiten Buch bezieht.

Gegen den Beigeladenen besteht daher ein Anordnungsanspruch auf die Gewährung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt.

b) Ein Anordnungsgrund besteht allerdings erst ab Antragseingang bei Gericht.

Haben die Antragsteller somit einen Anspruch auf laufende Leistungen der Sozialhilfe glaubhaft gemacht, so ist - jedenfalls im Falle deren vollständiger Versagung - der Erlass einer Regelungsanordnung grundsätzlich besonders dringlich (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. August 1966 - V C 223.65 -, BVerwGE 25, 36 [41]); es besteht also für die Zukunft auch ein Anordnungsgrund.

Diese besondere Dringlichkeit der Regelung gilt allerdings nicht für die Vergangenheit, also die Zeit vor Eingang des Antrags beim Sozialgericht. Einstweilige Regelungen über die Bewilligung laufender Leistungen können grundsätzlich nur für die Gegenwart und Zukunft, nicht jedoch für im Zeitpunkt des Antragseingangs bereits vergangene Zeiträume getroffen werden, weil in der Regel davon ausgegangen werden kann, dass in der Vergangenheit liegende Notsituationen von dem Betroffenen bereits bewältigt worden sind (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. November 1993 - 6 S 2371/93 -, VBlBW 1994, 109 m. w. N.). Von einer Bewältigung der Notlage in diesem Sinne kann höchstens dann nicht ohne weiteres ausgegangen werden, wenn durch die Versagung der Leistung in der Vergangenheit eine Folge (z. B. Mietschulden) ausgelöst wurde, die eine aktuelle Notlage (z. B. Verlust der Unterkunft) verursacht. Eine derartige nachwirkende Notlage ist hier nicht dargetan. Im Hinblick auf die Angabe in den Beigeladenenakten, dass auch Schwieger- bzw. Großeltern der Antragsteller in Deutschland leben (vgl. dort. Bl. 35 R), erscheint sie auch nicht zwingend gegeben.

Schließlich stellt die getroffene Entscheidung auch keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache dar. Zum einen rechtfertigt sich die Vorgehensweise durch die aktuelle Notlage der Antragsteller, der nicht anders begegnet werden kann. Zum anderen hat das Gericht nur eine darlehensweise Gewährung anordnet. Bei Sozialleistungen kann in Ausübung des dem Gericht nach § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 938 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) eingeräumten Gestaltungsermessens eine solche Gewährung ausgesprochen werden, um eine spätere Rückgängigmachung nicht unnötig zu erschweren. Damit wird dem vorläufigen Charakter der einstweiligen Anordnung entsprochen (LSG Baden-Württemberg, Beschlüsse vom 29. Januar 2007 - L 7 SO 5672/06 ER-B -, vom 21. Juli 2005 - L 7 SO 1585/05 ER-B -, vom 1. August 2005 - L 7 AS 2875/05 ER-B - und vom 17. August 2005 - L 7 SO 2117/05 ER-B -; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. März 1993, a. a. O.).

Von seinem Ermessen macht das Gericht weiterhin dahingehend Gebrauch, dass es die Dauer der einstweiligen Anordnung auf 6. November 2009 begrenzt. Zu diesem Zeitpunkt ist die Drei-Monats-Frist nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II abgelaufen und es sind keine Gründe ersichtlich, dass die Antragsgegnerin ab diesem Zeitpunkt keine Leistungen nach dem Zweiten Buch bewilligen wird.

Nach alldem ist in Anwendung von § 75 Abs. 5 SGG die im Tenor ersichtliche einstweilige Anordnung gegen den Beigeladenen zu erlassen. Im übrigen sind die Anträge abzulehnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG (analog).
Rechtskraft
Aus
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