L 9 KR 356/09 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 86 KR 1057/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 356/09 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. Oktober 2009 abgeändert und der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller vorläufig mit einem Lagerungsrollstuhl "Rea 706 Clematis Standard ohne Trommelbremse SB 45 cm", Hilfsmittelnr. 18.50.02.7026, zu versorgen. Der Antragsgegner hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das einstweilige Rechtsschutzverfahren zu tragen.

Gründe:

Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung des Antragsgegners, ihm den im Tenor benannten Lagerungsrollstuhl zur Verfügung zu stellen. Der Antragsgegner hatte den entsprechenden Antrag mit der Begründung abgelehnt, ein solcher sei vom Heimträger zur Verfügung zu stellen. Damit bestehe keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 16. Oktober 2009 abgelehnt und ist der Argumentation der Antragsgegnerin gefolgt.

Die hiergegen gerichtete, gemäß den §§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragstellers ist begründet, da der Antragsteller sowohl einen Anspruch auf die Versorgung als auch ein Eilbedürfnis glaubhaft gemacht hat. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG - sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung - ZPO -).

I. 1. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Versorgung mit dem Lagerungsrollstuhl "Rea 706 Clematis Standard ohne Trommelbremse SB 45 cm" gemäß § 33 Abs. 1 S. 1 des Sozialgesetzbuchs/Fünftes Buch (SGB V). Nach dieser Vorschrift haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Diese Voraussetzungen sind erfüllt: Behinderte Menschen, die - wie der Antragsteller - die Fähigkeit zum selbständigen Sitzen, Stehen und Gehen verloren haben, können zur Erhaltung der Mobilität grundsätzlich einen Lagerungsrollstuhl als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen (vgl. BSG, SozR 3-2500 § 33 Nr. 7). Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e.V. (MDK) hatte insoweit in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme vom 10. Februar 2009 die Versorgung des Antragstellers mit dem genannten Lagerungsrollstuhl zur Sicherung des Versorgungsziels der Mobilität als sinnvoll und zweckmäßig erachtet. Die allgemeinen Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch, wie ein bestehendes Versicherungsverhältnis und die Vorlage einer ärztlichen Verordnung, sind ebenfalls erfüllt.

2. Der Anspruch ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Antragsteller in einem Pflegeheim vollstationär untergebracht ist. Denn die Krankenkassen sind nach der seit dem 1. Janaur 1989 geltenden Rechtslage zur Versorgung von Versicherten mit Hilfsmitteln grundsätzlich unabhängig davon verpflichtet, ob sie in einer eigenen Wohnung oder in einem Pflegeheim leben. Dieser Grundsatz erfährt jedoch eine Einschränkung: Die Pflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zur Versorgung mit Hilfsmitteln endet nach der Konzeption des SGB V und des Sozialgesetzbuchs/Elftes Buch (SGB XI) dort, wo bei vollstationärer Pflege die Pflicht des Heimträgers auf Versorgung der Heimbewohner mit Hilfsmitteln einsetzt (BSG, a.a.O.). Bei vollstationärer Pflege hat der Träger des Heimes für die im Rahmen des üblichen Pflegebetriebs notwendigen Hilfsmittel zu sorgen, weil er verpflichtet ist, die Pflegebedürftigen ausreichend und angemessen zu pflegen und sozial zu betreuen. Die Heime müssen das für die vollstationäre Pflege notwendige Inventar bereit halten. Besteht der Zweck eines Hilfsmittels überwiegend darin, die Durchführung der Pflege zu ermöglichen oder zu erleichtern, so begründet allein die Tatsache, dass es auch dem Behinderungsausgleich dient, nicht die Leistungspflicht der Krankenkassen.

Hinsichtlich der Versorgung mit Rollstühlen hat das BSG insoweit entschieden, dass Schieberollstühle, die primär Transportfunktionen innerhalb des Heimes erfüllen, vom Heim vorzuhalten sind (BSG, SozR 3-2500 § 33 Nr. 43). Dagegen sei ein Toilettenrollstuhl als Hilfsmittel von der Krankenkasse zur Verfügung zu stellen, wenn er der Befriedigung von allgemeinen Grundbedürfnissen dient, der Behinderungsausgleich im Vordergrund steht und gegenüber pflegerelevanten Zielen, etwa der Erleichterung oder Ermöglichung von Pflegemaßnahmen, überwiegt (BSG, SozR 4-2500 § 33Nr. 4). In seinem Urteil vom 22. Juli 2004 bezüglich der Versorgung mit einem Lagerungsrollstuhl hat das BSG sodann ausgeführt, bei der Abgrenzung komme es darauf an, dass die Versorgung mit dem Rollstuhl auf eine Förderung der Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ausgerichtet sein müsse (SozR 4-2500 § 33 Nr. 5). Daher sei entscheidend, ob mit der Hilfsmittelversorgung eine Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft möglich sei. Sei nur noch eine passive Teilhabe möglich, bestehe kein Anspruch auf Versorgung mit dem Hilfsmittel. Dagegen komme es weder darauf an, ob es sich um einen individuell gefertigten oder aber um einen serienmäßig hergestellten und angepassten Rollstuhl handele, noch ob der Rollstuhl nur im Pflegeheim oder aber auch gelegentlich zu Zielen außerhalb benutzt werde. Der Gesetzgeber ist jedoch dieser Auslegung entgegengetreten und hat in § 33 Abs. 1 S. 2 SGB V aus Anlass des Urteils vom 22. Juli 2004 ausdrücklich bestimmt, dass der Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich bei stationärer Pflege nicht davon abhängt, in welchem Umfang eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft noch möglich ist (vgl. BT-DrS 16/3100, S. 102). Jedoch sollten die übrigen Abgrenzungskriterien, die das Bundessozialgericht entwickelt hatte, weiter Anwendung finden (vgl. BT-DrS 16/4247, S. 32), damit nicht eine unbeabsichtigte Kostenverlagerung zu Lasten der GKV eintritt. Daher wurde mit dem 2. Halbsatz der Vorschrift angeordnet, dass die Pflicht der stationären Pflegeeinrichtungen zur Vorhaltung von Hilfsmitteln und Pflegehilfsmitteln, die für den üblichen Pflegebetrieb jeweils notwendig sind, hiervon unberührt bleiben.

3. Nach den Feststellungen seines behandelnden Arztes leidet der Antragsteller unter Chorea Huntigton. Nach den Ermittlungen des MDK im Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit vom 22. Januar 2008 ist er nicht mehr in der Lage zu gehen und zu stehen, ein selbständiges Festhalten von Gegenständen ist ihm nicht mehr möglich. Er könne nicht selbständig die Sitzposition halten, falle nach vorn und benötige auch beim Schlafen Lagerungshilfen. Er sei aggressiv, versteife sich und schlage auch um sich. Nach seinem Vorbringen und dem Vortrag des Beigeladenen nimmt er regelmäßig an Gruppenaktivitäten teil, wie z.B. an der täglichen Zeitungsschau, einmal wöchentlich jeweils an der Spiel- und Bewegungsgruppe, dem Singkreis und der Bastelgruppe. An Festveranstaltungen im Heim nehme er ebenfalls teil. Zwar sei die Teilnahme bei all diesen Aktivitäten rein passiv, jedoch habe sie einen entspannenden Effekt. Die durch die Teilnahme gesetzten äußeren Reize seien ein wichtiges Element, das die pflegerischen, ergotherapeutischen und logopädischen Maßnahmen ergänze. Die Teilnahme sei nur in dem Lagerungsrollstuhl möglich, da ein regulärer Rollstuhl nicht ausreichend sicher sei. Außerdem unternehme er alle ein bis zwei Wochen, jahreszeit- und wetterabhängig, einen längeren Ausflug mit einem externen Besuchsdienst. Zusätzlich unternehme er regelmäßige Spazierfahrten mit einer Betreuungskraft.

Danach dient der begehrte Lagerungsrollstuhl nicht der Durchführung der Pflege, sondern dem Ausgleich der Behinderung und ist damit Gegenstand der Leistung der GKV. Zwar findet insoweit eine Pflegeerleichterung statt, als dass der Antragsteller sich außerhalb des Bettes nur mit dem Lagerungsrollstuhl ausreichend gesichert aufhalten kann. Jedoch steht unter Zugrundelegung einer wertenden Betrachtung bei der Rollstuhlversorgung die Ermöglichung der sicheren Teilnahme am Gemeinschaftsleben im Heim im Vordergrund. Dadurch erfolgt eine Aktivierung und Mobilisation des Antragstellers, also eine rehabilitierende Maßnahme. Dass die Teilnahme am Gemeinschaftsleben nur passiv erfolgt, ist unerheblich, da der Entscheidung des BSG vom 22. Juli 2004 (a.a.O.), nach der es auf die Möglichkeit der aktiven Teilnahme ankommt, auf Grund der Gesetzesänderung der Boden entzogen ist. Sie kann daher, auch wenn sie einen ähnlich gelagerten Fall betrifft, nicht zur Beurteilung herangezogen werden. Die Gesetzesänderung spricht gerade dafür, dass der Gesetzgeber in solchen Fällen die Versorgung durch die Krankenkassen ermöglichen wollte. Dagegen wird der Lagerungsrollstuhl eben nicht für die Durchführung der Grundpflege (z.B. Maßnahmen zur Unterstützung der Ausscheidung und Körperhygiene) benötigt. Auch dient er nicht allein als Transportmittel, um den Antragsteller innerhalb des Heimes zu transportieren. Letztendlich wird er auch regelmäßig außerhalb des Heimes benutzt. Damit sind gleichfalls die Kriterien erfüllt, die der "Abgrenzungskatalog der (damaligen) Spitzenverbände der Krankenkassen – zugleich handelnd als Spitzenverbände der Pflegekassen – zur Hilfemittelversorgung in stationären Pflegeeinrichtungen (Pflegeheimen) vom 26. März 2007, in der Beschlussfassung des Gremiums nach § 213 SGB V vom 7. Mai 2007" (Abgrenzungskatalog), Anhang, Seite 6, unter Berücksichtigung der geänderten Rechtslage und der weiteren Rechtsprechung des BSG aufgestellt hat.

Daraus, dass der Lagerungsrollstuhl zwar nicht individuell gefertigt, sondern allein serienmäßig hergestellt und angepasst wird, folgt nicht, dass es sich um ein pflegeerleichterndes Hilfsmittel handelt, das vom Pflegeheim zur Verfügung zu stellen ist. Das BSG hat insoweit betont, dass die individuelle Fertigung, wie z.B. bei einer Prothese, zwar in jedem Fall eine Leistungspflicht der GKV begründet, dies jedoch auch bei serienmäßig gefertigten Hilfsmitteln nicht ausgeschlossen ist. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass eine individuelle Anpassung des Lagerungsrollstuhls erfolgt und er nur durch den Antragsteller, nicht aber durch andere Heimbewohner benutzt werden wird.

II. Gleichfalls liegt ein Anordnungsgrund vor, da es dem Antragsteller unzumutbar ist, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens, das längere Zeit in Anspruch nehmen kann, abzuwarten. In Anbetracht der fortschreitenden Erkrankung und der fehlenden Sicherheit der derzeitigen Vorgehensweise, einen Rollstuhl eines verstorbenen Heimbewohners zu benutzen, kann er nicht darauf über einen längeren Zeitraum verwiesen werden, zumal ihm auch hierdurch nach seinem Vortrag nur eingeschränkt die Teilnahme am Gemeinschaftsleben ermöglicht würde. Der Antragsteller kann sich den streitigen Rollstuhl auch nicht selbst beschaffen, da er sozialhilfebedürftig im Sinne des Sozialgesetzbuchs/Zwölftes Buch (SGB XII) ist und daher die Mittel hierfür nicht aufbringen kann.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

IV. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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