S 10 AS 37/09

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 10 AS 37/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unter Abänderung des Bescheids vom 14.10.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10.02.2009 Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 06.10.2008 - 28.02.2009 ohne Anrechnung von Überbrückungsgeld (mtl. 157,55 EUR) zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Gründe:

I. Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Anrechnung von Entlassungsgeld auf die Grundsicherungsleistungen des Klägers.

Der Kläger befand sich bis zum 08.09.2008 in Strafhaft und beantragte am 10.09.2008 bei der Beklagten Leistungen zur Grundsicherung nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Aufgrund seiner Haftentlassung erhielt der Kläger am Tage seiner Entlassung ein sogenanntes "Überbrückungsgeld" gemäß § 51 Srafvollzugsgesetz (StVollzG) in Höhe von insgesamt 1.125,29 EUR. Mit Bescheid vom 14.10.2008 bewilligte die Beklagte dem Kläger Leistungen für den Zeitraum vom 10.09.2008 bis 28.02.2009 unter Anrechnung eines monatlichen Anrechnungsbetrages in Höhe von 157,55 EUR. Diesen Anrechnungsbetrag berechnete die Beklagte aus einer Verteilung der einmaligen Einnahme in Höhe des streitgegenständlichen Betrages auf einen Zeitraum von sechs Monaten gemäß § 2 Abs. 4 S. 3 ALG II-VO abzüglich eines monatlichen Freibetrages in Höhe von 30 EUR als Versicherungspauschale. Dagegen legte der Kläger im Folgenden Widerspruch ein, welcher mit Widerspruchsbescheid vom 10.02.2009 als unbegründet zurückgewiesen wurde.

Sodann hat der Kläger vor dem erkennenden Gericht Klage erhoben, mit welcher er geltend macht, dass eine Anrechnung des Überbrückungsgeldes grundsätzlich nur in den ersten vier Wochen nach der Haftentlassung bedarfsmindernd berücksichtigt werden dürfte, da dies dem Sinn und Zweck des § 51 Abs. 1 Strafvollzugsgesetz entspräche, wonach das Überbrückungsgeld nur zur Sicherung des Lebensunterhalts in den ersten vier Wochen nach der Haftentlassung diene. Zudem habe er - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - 658,00 EUR des Entlassungsgeldes zur Tilgung einer Geldstrafe verwendet, welche ihm sein Schwager "vorfinanziert" habe.

Die Beklagte ist hingegen der Auffassung, dass die Begleichung von Schuldverpflichtungen nicht zu einer anderen Beurteilung führen könne, da Einnahmen grundsätzlich vorrangig zur Deckung des Lebensunterhalts einzusetzen seien. Zudem gehöre das Überbrückungsgeld nach den Rechtsvorschriften des SGB II nicht zu den in § 11 Abs. 1 SGB II abschließend aufgeführten privilegierten Einkommenstatbeständen, womit es vollumfänglich zur Deckung des Lebensunterhalts einzusetzen sei.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte verwiesen, welche Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

II. Die Klage ist begründet.

Dem Kläger waren in dem aus dem Tenor ersichtlichen Zeitraum Grundsicherungsleistungen ohne die Anrechnung von Überbrückungsgeld i.S.d. § 51 StVollzG zu gewähren.

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II (Zweites Sozialgesetzbuch) erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die (1.) das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, (2.) erwerbsfähig sind, (3.) hilfebedürftig sind (4.) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Hilfebedürftige).Der Kläger gehörte im streitgegenständlichen Leistungszeitraum unstreitig zum leistungsberechtigten Personenkreis.

Hilfebedürftig ist nach § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht (1.) durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit, (2.) aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Der im streitigen Zeitraum alleinstehende Kläger verfügte in der Zeit vom 06.09.2008 bis 28.02.2009 weder über anrechenbares Einkommen noch über Vermögen. Das ihm bei Haftentlassung ausbezahlte Überbrückungsgeld in Höhe von 1.125,29 EUR ist auf den hier streitigen Hilfebedarf nicht anzurechnen.

Grundsätzlich stellt das Überbrückungsgeld nach § 51 StVollzG zu berücksichtigendes Einkommen im Sinne von § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II dar, denn es handelt sich um eine Einnahme in Geld. Zwar wird das Überbrückungsgeld aus Teilen der Bezüge - insbesondere des Arbeitsentgelts (§ 43 StVollzG) des Gefangenen - gebildet, seiner Verfügung entzogen und einem für ihn geführten Konto gut geschrieben. Gleichwohl gehören die so zwangsweise angesparten Beträge nicht zum Vermögen des Gefangenen, denn nach der Rechtsprechung des BSG ist Einkommen alles, was der Hilfebedürftige während eines Zahlungszeitraums wertmäßig dazu erhält und Vermögen das, was er bei Beginn eines Zahlungszeitraums bereits hat (Zuflusstheorie, vgl. BSG, Urteil vom 30. Juli 2008 - B 14 AS 26/07 R -; Urteil vom 30. September 2008 - B 4 AS 29/07 R).

Zunächst scheitert eine Anrechnung als Einkommen i.S.d. § 11 Abs. 1 SGB II vorliegend nicht bereits daran, dass das Entlassungsgeld seitens des Klägers zur Tilgung einer Geldstrafe eingesetzt wurde, da die Leistungen nach dem SGB II nicht zur Begleichung von Verbindlichkeiten dienen. Im Zeitpunkt der Auszahlung des Einkommens offene Schulden sind nicht vom Einkommen abzusetzen. Abgesehen davon, dass § 6 ALG II-VO idF vom 27.12.2007 i.V.m. § 11 Abs 2 SGB II abschließend regelt, welche Positionen vom Einkommen in Abzug zu bringen sind, bevor es der Aufteilung unterfällt, ist Einkommen zu förderst zur Sicherung des Lebensunterhalts der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft einzusetzen. Für ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft gilt dieses selbst dann, wenn es sich dadurch außerstande setzt, bestehende vertragliche Verpflichtungen zu erfüllen (BSG, Urteil vom 30.09.2008 - B 4 AS 29/07 R; LSG NRW, Urteil vom 02.04.2009 - L 9 AS 58/07). Mithin kann dahinstehen, ob der Kläger das ihm angerechnete Einkommen tatsächlich schon nach der Haftentlassung im September 2008 zur Tilgung eines Darlehens verbraucht hat, denn ein höherer Anspruch des Klägers besteht auch dann nicht, wenn diesem zum fraglichen Zeitpunkt kein Geld aus dem Überbrückungsgeld (mehr) zur Verfügung gestanden haben sollte. § 11 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 6 ALG II-VO regelt die Modalitäten der Einkommensberücksichtigung. Die Berücksichtigung von Einkommen des Hilfesuchenden bedeutet aber nicht, dass die bei der Berechnung vorausgesetzten Gelder über die gesamte Bedarfszeit tatsächlich vorhanden sein müssen. Im Falle von einmaligen Einnahmen ist der nach Maßgabe des § 2 Abs. 4 S. 2 ALG II-VO errechnete Teilbetrag grundsätzlich selbst dann bis zum Ende des angemessenen Zeitraums anzurechnen, wenn das Einkommen vorzeitig verbraucht wurde. Ansonsten hätte es der Hilfesuchende in der Hand, eine in Anwendung der Vorgaben der ALG II-VO vorgenommene Einkommensberücksichtigung nachträglich zu seinen Gunsten zu verändern und die Behörde auf einen - nicht zwangsläufig realisierbaren - Anspruch gemäß § 34 Abs. 1 SGB II zu verweisen. Dieses Ergebnis ist schon vor dem Hintergrund nicht sachgerecht, dass auch der vorzeitige Verbrauch von angerechneten regelmäßigen Einkünften nicht etwa zum Entstehen eines neuen Leistungsanspruchs im noch laufenden Monat führt (LSG NRW, Urteil vom 02.04.2009 - L 9 AS 58/07). Die Einkommensberücksichtigung nach § 2 Abs. 4 ALG II-VO ist auch nicht fiktiv, denn es handelt sich um einen wirklichen Geldzufluss, der nur im Hinblick auf die Höhe des Betrages über mehr als einen Monat verteilt wird (a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.11.2007 - L 10 B 1845/07 AS ER). Die Fälle echter Mittellosigkeit dürften vielmehr über § 23 Abs.1 SGB II zu lösen sein, indem dem Hilfesuchenden entweder Gutscheine ausgehändigt oder Darlehen gewährt werden.

Dies wäre u.U. dann anders zu beurteilen, wenn die Entlassungsentschädigung ohne Zwischenschritt direkt von seiner Quelle an einen Dritten ausgezahlt worden wäre. In diesem Fall kann nur der auf das Konto bzw. in den Besitz des Bedürftigen gelangte Betrag auf die Regelleistungen angerechnet werden (Urteil des BSG v. 21.11.2002 - B 11 AL 10/02 R). Im vorliegenden Fall geht das Gericht aufgrund des Klägervortrags und der eingereichten Bescheinigungen allerdings davon aus, dass sich der streitgegenständliche Betrag i.H.v. 1.125, 29 EUR - zumindest für einen kurzen Zeitraum - im Besitz des Klägers befand, womit eine Anrechnung nicht an der Schuldentilgung scheitern kann.

Das Überbrückungsgeld ist auch nicht von der Berücksichtigung gemäß § 11 Abs. 3 Nr. 1a SGB II ausgenommen, denn es handelt sich nicht um eine zweckbestimmte Einnahme, die einem anderen Zweck als die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II dient und die Leistung des Empfängers nicht so günstig beeinflusst, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt wären. § 51 Abs. 1 StVollzG enthält eine ausdrückliche Zweckbestimmung. Dort ist ausgeführt, dass ein Überbrückungsgeld zu bilden ist, das den notwendigen Lebensunterhalt des Gefangenen und seiner Unterhaltsberechtigten für die ersten vier Wochen nach seiner Entlassung sichern soll. Damit steht fest, dass Zweck des Überbrückungsgeldes gerade die Sicherung des Lebensunterhalts ist und mithin Zweckidentität mit den Leistungen nach dem SGB II besteht.

Nicht beantwortet ist indes die Frage, auf welche Weise das - als Einkommen zu berücksichtigende - Überbrückungsgeld anzurechnen ist. Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt hier eine Aufteilung auf sechs Monate und eine teilweise Anrechnung in jedem Leistungsmonat i.H.v. 157,55 EUR ausnahmsweise nicht in Betracht (vgl. auch Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 24.04.2009 - L 12 AS 5623/08). Zur Frage, wie einmalige Einnahmen wie das Überbrückungsgeld im Einzelnen anzurechnen sind, enthält die auf § 13 SGB II beruhende ALG II-VO nähere Regelungen. Nach § 2 Abs. 4 Satz 3 ALG II-VO i.d.F. vom 17. Dezember 2007 sind einmalige Einnahmen, soweit nicht im Einzelfall eine andere Regelung angezeigt ist, auf einen angemessenen Zeitraum aufzuteilen und monatlich mit einem entsprechenden Teilbetrag anzusetzen. Sinn dieses Anrechnungsverfahrens ist, dass das vorübergehende vollständige Entfallen des Leistungsanspruchs und damit des Krankenversicherungsschutzes vermieden wird (vgl. Mecke in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl., § 11 Rdnr. 66). Vorliegend ist indes nicht eine Aufteilung auf einen angemessenen Zeitraum, sondern eine andere Regelung, wie sie § 2 Abs. 3 Satz 3 ALG II-VO durchaus ermöglicht, angezeigt. Insoweit hält die Kammer die Vorschrift des § 51 Abs. 1 StVollzG zunächst für die speziellere Regelung, welche bei der Auslegung des allgemeinen Gesetzes zu berücksichtigen ist. In teleologischer und wörtlicher Auslegung des § 51 Abs. 1 StVollzG soll das Überbrückungsgeld den notwendigen Lebensunterhalt des Gefangenen und seiner Unterhaltsberechtigten für die ersten vier Wochen nach seiner Entlassung sichern. Dieser soll seinen Lebensunterhalt nach der Entlassung mit eigenen Mitteln bestreiten können und nicht auf Sozialhilfe oder Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II angewiesen sein, die dem Mittellosen sonst den notwendigen Lebensunterhalt sichern. Durch die gesetzlich vorgesehene Unterhaltssicherungsfunktion für die Dauer von vier Wochen ist es geboten, die Einnahme auch im Rahmen der Prüfung einer Leistungsberechtigung nach dem SGB II entsprechend zu berücksichtigen und ausnahmsweise nicht als Einkommen auf einen längeren Zeitraum aufzuteilen. Ansonsten hätte dies zur Folge, dass der Gesetzeszweck verfehlt würde, denn bei Anrechnung des Überbrückungsgeldes auf einen längeren Zeitraum wäre der Strafgefangene nach Entlassung aus der Haft entgegen dem Gesetzeszweck von § 51 Abs. 1 StVollzG auch in den ersten vier Wochen nach der Entlassung auf Sozialhilfe bzw. Leistungen nach dem SGB II angewiesen. Zudem ist die Kammer der Auffassung, dass § 51 StVollzG nicht nur die speziellere, sondern auch die höherrangige Norm darstellt, denn bei der ALG II-VO handelt es sich lediglich um eine untergesetzliche Rechtsverordnung des Bundes auf der Grundlage des § 13 SGB II, wobei es sich bei dem StVollzG um ein förmliches Bundesgesetz handelt. Die Auslegung der Vorschrift des § 2 Abs. 3 Satz 3 ALG II-VO muss mithin im Lichte des § 51 Abs. 1 StVollzG erfolgen und darf dessen Sinn und Zweck nicht widersprechen, da dem StVollzG insoweit ein "Geltungsvorrang" zukommt.

Dem steht letztlich nach Auffassung der Kammer auch nicht entgegen, dass die hier vertretene Auffassung zur Folge hat, dass durch die Anrechnung des Überbrückungsgeldes lediglich auf einen Monat in der Regel die Hilfebedürftigkeit in diesem Monat ganz entfällt und folglich kein Krankenversicherungsschutz über den Bezug der SGB II-Leistungen gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2a Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) besteht. Während der Strafhaft besteht Anspruch auf Gesundheitsfürsorge nach §§ 56 ff. StVollzG; dieser Anspruch endet mit der Entlassung. Anschließend besteht indes, sofern der Betreffende vor der Haft gesetzlich krankenversichert war, Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 13a SGB V (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. Februar 2009 - L 11 KR 497/09 ER-B - m.w.N.), so dass nicht zu befürchten steht, dass überhaupt kein Krankenversicherungsschutz vorliegt.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG (Sozialgerichtsgesetz).
Rechtskraft
Aus
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