L 11 KR 460/10 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 7 KR 5861/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 460/10 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zum Anspruch eines 22 Jahre alten Versicherten, der an einem
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktiv-Syndrom (ADHS) leidet, auf
Versorgung mit methylphenidathaltigen Arzneimitteln (hier: Concerta)
nach den Grundsätzen des sog Off-Label-Use im Wege einer
einstweiligen Anordnung.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 13. Januar 2010 aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig vom 29. Dezember 2009 bis 30. September 2010 die Kosten einer ärztlich verordneten Behandlung des Antragstellers mit dem Arzneimittel Concerta (Wirkstoff Methylphenidat) zu übernehmen.

Die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Antrags- und Beschwerdeverfahren trägt die Antragsgegnerin.

Gründe:

Die Beschwerde ist gemäß §§ 172 Abs 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und zulässig. Sie ist auch begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe (SG) ist aufzuheben, denn der Antragsteller hat Anspruch auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung.

Gemäß § 86b Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung von wesentlichen Nachteilen nötig erscheint (sog Regelungsanordnung). Die Voraussetzungen sind gemäß § 86b Abs 2 Satz 4 SGG iVm § 920 Abs 2 Zivilprozessordnung glaubhaft zu machen.

Mit der Regelungsanordnung kann eine Rechtsposition vorläufig begründet oder erweitert werden. Der Erlass einer Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, also des materiellen Anspruchs, der grundsätzlich die summarische Prüfung der Erfolgsaussicht in der Hauptsache verlangt, und eines Anordnungsgrundes, der Eilbedürftigkeit, voraus.

Im Rahmen des Anordnungsanspruchs ist die Sach- und Rechtslage wegen des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 Grundgesetz) nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (BVerfG, Beschlüsse vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05, Breith 2005, 803, und vom 22. November 2002, 1 BvR 1586/02, NJW 2003, 1236, mwN). Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um existentiell bedeutsame Leistungen der Krankenversicherung für den Antragsteller geht. Ist dem Gericht in einem solchen Fall eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, aaO). Die grundrechtlichen Belange des Antragstellers sind dabei umfassend in die Abwägung einzustellen (BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 2005, 1 BvR 347/98, SozR 4-2500 § 27 Nr 5).

Der hier streitgegenständliche Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Concerta (Wirkstoff Methylphenidat) bzw der Kostenübernahme der Versorgung, also die Krankenbehandlung, gehört zu den existentiell bedeutsamen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, weshalb nicht nur die summarische Prüfung der Rechtslage erforderlich ist.

Allerdings kann der Anordnungsanspruch im Rahmen des Eilverfahrens nicht vollständig aufgeklärt werden. Denn hierzu sind noch medizinische Ermittlungen erforderlich.

Arzneimittel mit dem Wirkstoff Methylphenidat sind gemäß § 21 Abs 1 Arzneimittelgesetz (AMG) zur Behandlung der beim Antragsteller bestehenden Krankheit des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktiv-Syndroms (ADHS) nur für einen Einsatz bei Kindern über sechs Jahren und bei Jugendlichen zugelassen. Dies genügt nicht, um auch bei Erwachsenen von einer bestimmungsgemäßen Anwendung auszugehen (so ausdrücklich zu methylphenidathaltigen Arzneimitteln BSG, Urteil vom 30. Juni 2009, B 1 KR 5/09 R, zit nach Juris). Deshalb scheidet grundsätzlich eine Leistungspflicht gemäß §§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und 3, 31 Abs 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) bei dem mittlerweile 22-jährigen Antragsteller aus. Ausnahmsweise kommt jedoch eine Versorgung nach den Grundsätzen des sog Off-Label-Use in Betracht. Nach den von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen (zB BSG, Urteil vom 19. März 2002, SozR 3-2500 § 31 Nr 8) ist ein Off-Label-Use nur in Erwägung zu ziehen, wenn 1. es um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, 2. keine andere Therapie verfügbar ist und 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Dabei bedarf es eines positiven Wirksamkeitsnachweises.

Bei ADHS kann es sich um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Krankheit handeln. Denn das Krankheitsbild des ADHS im Erwachsenenalter zeichnet sich dadurch aus, dass neben einer Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität noch mindestens zwei weitere Charakteristika wie Affektlabilität, desorganisiertes Verhalten, gestörte Affektkontrolle, Impulsivität oder emotionale Überreagibilität erfüllt sind (Ebert/Krause/Roth-Sackenheim, ADHS im Erwachsenenalter - Leitlinien auf der Basis eines Expertenkonsensus mit Unterstützung der DGPPN, Der Nervenarzt 2003, Seite 939, 945). In ärztlichen Stellungnahmen wird beim Antragsteller entsprechend davon berichtet, dass er (bei Pausierung der Medikation) massive Konzentrationsstörungen und Ablenkbarkeit, extreme Unruhe, distanzgemindertes, disoziales und impulsives Verhalten bis hin zu Tätlichkeiten gegenüber Gegenständen zeigt und desorganisiert ist (Arztbrief Neurologe und Psychiater Dr. S. vom 25. August 2006 und Stellungnahme des Dr. S. vom 27. März 2007, Arztbrief Dr. P., Universitätsklinikum F., Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie, vom 20. Juni 2007 über die Vorstellung des Antragstellers in der Spezialsprechstunde ADHS im Erwachsenenalter). Damit werden die Voraussetzungen der ADHS erfüllt. Des Weiteren liegen beim Antragsteller auch eine kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen und der Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung nach wahrscheinlich körperlichen und sexuellen Grenzverletzungen in der Ursprungsfamilie vor. Insbesondere bei der wohl komorbiden Störung des Sozialverhaltens und der ausgeprägten Impulsivität kann daher beim Antragsteller von einer besonders schwer ausgeprägten Form des ADHS auszugehen sein, die die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt. Zwar hat sich nach der Stellungnahme des Dr. S. vom 23. November 2009 eine weitere Stabilisierung unter kontinuierlicher Behandlung bei nach wie vor bestehenden deutlichen Defiziten im Sozialverhalten ergeben, allerdings verweist Dr. S. darauf, dass ein Absetzen der Medikation mit größter Wahrscheinlichkeit zu einer deutlichen Destabilisierung führen würde. Deshalb dürfte davon auszugehen sein, dass die besonders schwere Verlaufsform beim Antragsteller - ohne Medikation - weiterhin vorliegt.

Nach den Feststellungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Nordrhein (Dr. H., Gutachten nach Aktenlage vom 30. Januar 2007) kommen keine alternativen Behandlungsmöglichkeiten in Betracht. Zwar hat Dr. H. im Gutachten nach Aktenlage vom 7. März 2007 ergänzt, zu diskutieren sei, ob eine Psychotherapie der posttraumatischen Belastungsstörung als alternative Behandlungsmöglichkeit in Betracht kommt bzw ob die Medikation im Rahmen eines umfassenden Behandlungskonzeptes erfolge, er hat jedoch nach Vorlage weiterer medizinischer Unterlagen mit Gutachten nach Aktenlage vom 3. August 2007 erklärt, die Medikation sei aus medizinischem Bedarf heraus nachvollziehbar und werde im Rahmen eines umfassenden Behandlungskonzeptes eingesetzt, wobei die geplante psychotherapeutische Begleitung aus Kapazitätsgründen noch nicht begonnen worden sei. Dr. P. erwähnt noch als Alternative zu Methylphenidat den Einsatz noradrenerg wirksamer Antidepressiva wie Reboxetin. Allerdings wird die Therapie mit Methylphenidat nach Expertenkonsens als wirksam bewertet und als medikamentöse Therapie erster Wahl bezeichnet, während andere pharmakologische Therapien aufgrund des Nebenwirkungsprofiles oder geringerer oder fehlender Wirksamkeit bzw nicht ausreichender Datenlage nur als zweite Wahl oder nicht empfehlenswert eingestuft werden (Ebert ua, aaO Seite 941; Vorstand der Bundesärztekammer, Stellungnahme zur Aufmerksamkeits- / Hyperaktivitätsstörung ADHS - Kurzfassung, Seite 7 ff, 11). Darüber hinaus wird empfohlen, die pharmakologische Therapie mit der psychotherapeutischen Therapie zu kombinieren (Ebert ua, aaO Seite 943). Deshalb geht der Senat bei dem derzeit bekannten Sachverhalt davon aus, dass zwar eine multimodale Behandlung erforderlich ist, bei der medikamentösen Behandlung jedoch außer dem Einsatz von Methylphenidat derzeit keine andere angemessene Therapie zur Verfügung steht.

Schließlich fehlt es nicht an der für einen Off-Label-Use erforderlichen Erfolgsaussicht. Zwar besteht grundsätzlich keine begründete Aussicht darauf, dass gerade mit dem begehrten Arzneimittel ein Behandlungserfolg erzielt werden kann, worauf das SG zu Recht hingewiesen hat. Denn von hinreichenden Erfolgsaussichten ist nach der Rechtsprechung des BSG zum Off-Label-Use nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das (konkrete) Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSG, Urteile vom 19. März 2002, aaO und vom 30. Juni 2009, aaO mwN).

Davon ist vorliegend nicht auszugehen. Allerdings sind vorliegend erleichterte Voraussetzungen für einen Off-Label-Use denkbar. Denn die in der Rechtsprechung zum Off-Label-Use entwickelten Grundsätze könnten abgestuft modifizierend anzuwenden sein, wenn es darum geht, mit einem bislang nur für die Behandlung speziell von Kindern zugelassenen Arzneimittel zulassungsüberschreitend auch Erwachsene zu behandeln, wenn bei Erwachsenen ein identisches Nutzen-/Gefahrenpotenzial besteht oder aber sogar ein geringeres Schutzbedürfnis. Die Modifizierung der Anforderungen an einen zulassungsüberschreitenden Einsatz von Kinderarzneimitteln für Erwachsene kommt insbesondere in Betracht, wenn der Versicherte in der Zeit unmittelbar vor Vollendung des 18. Lebensjahres mit einem nur für Kinder und Jugendliche zugelassenen Arzneimittel indikationsbezogen versorgt wurde und er nach Erreichen des 18. Lebensjahres an derselben Krankheit leidet, die auch nach einem solchen "Stichtag" auf andere Weise nicht angemessen behandelt werden kann (BSG, Urteil vom 30. Juni 2009, aaO mwN). Hier kann der Begriff des "Jugendlichen", für den ADHS zugelassen ist, in dem Sinn zu verstehen sein, dass auch junge Erwachsene wie der jetzt 22-jährige Antragsteller unter diesen Begriff zu subsumieren sind. Zudem setzt sich die Auffassung durch, dass es sich bei ADHS um eine Störung handelt, die mit einer Prävalenz von 2% auch im Erwachsenenalter fortbesteht. Wenn daher das Risiko-Nutzen-Potenzial beim Fortgebrauch eines für Kinder zugelassenen und im Kindes- und Jugendlichenalter schon unmittelbar vor Erreichen des 18. Lebensjahrs angewandten Arzneimittels auch bei Überschreiten der Schwelle zur Volljährigkeit im Wesentlichen gleich geblieben sein sollte, bedarf es jedenfalls einer besonderen Rechtfertigung, die nahtlose Weiterversorgung des Betroffenen mit dem begehrten Mittel abzulehnen (zum Ganzen vgl BSG aaO).

Diese besondere Rechtfertigung ist derzeit nicht dargetan. Die vorliegenden Gutachten des MDK hierzu vom 30. Januar 2007, 7. März 2007 und 3. August 2007 sind nicht aktuell und nicht zu dieser Fragestellung erstellt. Aktuelle Unterlagen zum Behandlungskonzept, das, falls es nicht ausreichend wäre, eine besondere Rechtfertigung zur Ablehnung darstellen könnte, liegen nicht vor. Es ist schon nicht geklärt, ob die von Dr. P. empfohlene Diagnostik zum Ausschluss organischer Ursachen, wie Schilddrüsendiagnostik, EEG und ggf MRT, erfolgt ist. Hinzu kommt, dass offen ist, ob eine Psychotherapie im Rahmen eines mulitmodalen Therapieansatzes durchgeführt wird. Offensichtlich hält auch Dr. P. eine Psychotherapie für erforderlich, wenn sie darauf verweist, psychotherapeutisch hätten sich ua die Schwerpunkte Achtsamkeit, Stresstoleranz, Umgang mit Impulsivität und Gefühlen sowie Selbststrukturierung bewährt. Zum Bemühen um eine Psychotherapie findet sich in den Akten lediglich der Hinweis der Eltern des Antragstellers im Jahr 2007, Dr. S. habe sich nicht im Stande gesehen, eine Psychotherapie durchzuführen und es bestehe die Chance, ab Herbst bei der in der Umgebung einzigen Psychologin mit Erfahrung bei ADHS einen Therapieplatz zu bekommen. Schließlich ist nicht geklärt, welche Maßnahmen seitens der Bundesagentur oder eines anderen Rehabilitationsträgers derzeit für den Antragsteller geplant sind - die Eltern erwähnen eine geplante "psychische Maßnahme" -und wie sich diese in das Therapiekonzept einfügen.

Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens kann deshalb der Anordnungsanspruch nicht abschließend geprüft werden. Hierzu werden im Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 22. Dezember 2009 weitere medizinische Ermittlungen zu erfolgen haben, insbesondere werden die behandelnden Ärzte zu hören, der Bericht über die abgebrochene Berufsvorbereitungsmaßnahme in B. beizuziehen, anstehende Maßnahmen zu ermitteln und eine Begutachtung - ggf nach persönlicher Untersuchung - durch den MDK vorzunehmen sein.

Deshalb kann der Senat das Bestehen nicht ganz fern liegender Erfolgsaussichten derzeit nicht ausschließen. In einem solchen Fall hat das Gericht im Rahmen des Ermessens eine Folgenabwägung durchzuführen. Dabei sind die Folgen gegeneinander abzuwägen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht eine einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch doch bestanden hätte, und die auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die beantragte einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellte, dass der Anspruch nicht bestand. Bei der Auslegung der anzuwendenden Vorschriften ist der besonderen Bedeutung der betroffenen Grundrechte und den Anforderungen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen; insbesondere sind die Folgen der Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes zu berücksichtigen. Je schwerer die Belastungen hieraus wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung zurückgestellt werden.

Die Folgenabwägung erfolgt vorliegend - mit zeitlicher Einschränkung - zugunsten des Antragstellers, so dass die Antragsgegnerin vorläufig die Kosten der Versorgung mit dem Arzneimittel Concerta zu übernehmen hat. Denn sollte eine einstweilige Anordnung im Ergebnis zu Unrecht abgelehnt werden, so entstünden dem Antragsteller möglicherweise schwerwiegende, gegebenenfalls nicht rückgängig machbare Nachteile. Der Antragsteller wird seit ca 1997 medikamentös (zunächst mit Ritalin und DL-Amphetamin) wegen ADHS behandelt. Er konnte erst im Jahr 2008 die schulische Ausbildung an der Berufsfachschule abschließen. Die berufsfördernde Maßnahme vom 30. März 2009 bis 10. Juli 2009 wurde abgebrochen. Die Konsequenzen, die bei einem Absetzen der Medikation zu befürchten sind, hat Dr. S. im Schreiben vom 23. November 2009 beschrieben, indem er darauf hinweist, ein Absetzen würde mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit zu einer deutlichen Destabilisierung mit einer deutlichen Erschwernis zur Einbindung in einen Ausbildungsplatz führen. Deshalb erscheint eine Verschlimmerung der Folgen der ADHS bei Absetzen der Medikation wahrscheinlich und die weitere berufliche Eingliederung des Antragstellers nach den vorliegenden Unterlagen aufgrund des bisherigen Lebenslaufs ohne multimodalen Therapieansatz gefährdet. Mit unzumutbaren Nachteilen für den Antragsteller ist daher zu rechnen.

Demgegenüber steht lediglich das Kostenrisiko der Antragsgegnerin, bei einer zu Unrecht ergangenen einstweiligen Anordnung den Rückforderungsanspruch nach Obsiegen des Hauptsacheverfahrens durchsetzen zu können. Denn sollte sich im Hauptsacheverfahren ergeben, dass dem Antragsteller ein Anspruch auf Kostenübernahme der Versorgung mit dem Arzneimittel Concerta nicht zusteht, könnte die Antragsgegnerin die von ihr aufgrund der einstweiligen Anordnung getragenen Kosten vom Antragsteller zurückfordern. Dabei könnte sich der Antragsteller weder auf Vertrauensschutz noch auf den Wegfall der Bereicherung berufen, da er mit dem Wegfall der einstweiligen Anordnung durch die Entscheidung in der Hauptsache rechnen muss (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 05. Dezember 2005, L 8 AS 3441/05 ER-B, zit nach Juris zur Rechtsgrundlage des § 50 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch; Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl, § 86b RdNr 49 und 22 zur Rückzahlungsverpflichtung nach allgemeinen Prozessrechtsgrundsätzen). Materiell wäre der Antragsteller daher zum Kostenersatz verpflichtet. Dennoch kann unter Umständen ein solcher Anspruch nicht oder nicht sofort vollstreckt werden. Dieses rein finanzielle Interesse der Antragsgegnerin muss hinter den möglichen Auswirkungen bei Absetzen der Medikation im Hinblick auf das Grundrecht des Antragstellers auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art 2 Abs 2 Satz 1 Grundgesetz hingenommen werden.

Im Rahmen seines Ermessens begrenzt der Senat jedoch die Verpflichtung der Antragsgegnerin auf die Zeit bis 30. September 2010. Denn bis dahin kann mit einem Abschluss der medizinischen Ermittlungen gerechnet werden.

Der Anordnungsgrund ist ebenfalls gegeben, da es dem Antragsteller aus den og Gründen nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten. Der Antragsteller hat nach Abschluss der Schulausbildung an einer berufsfördernden Maßnahme teilgenommen und bisher keine Berufstätigkeit ausgeübt. Nach den glaubhaften Angaben verfügt er daher nicht über ausreichende finanzielle Mittel zur Kostentragung der Versorgung mit Methylphenidat (monatlich ca 120 EUR) bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens. Auch ein möglicherweise gegen die Eltern noch bestehender Unterhaltsanspruch gemäß §§ 1601, 1610 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) dürfte nicht durchgreifen, da Dr. P. in ihrem Arztbrief vom 20. Juni 2007 erwähnt, dass sich die Familie derzeit nur eine niedrigere als die verordnete Dosierung leisten könne. Damit ist glaubhaft, dass die Eltern nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, um die Zusatzkosten der medikamentösen Versorgung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens sicherzustellen.

Allerdings ist der einstweilige Rechtsschutz grundsätzlich zukunftsgerichtet. Ein Anordnungsgrund ist daher in der Regel zu verneinen, wenn sich der Anspruch auf vergangene Zeiträume bezieht. Vergangene Zeiträume in diesem Sinne sind grundsätzlich die vor der Antragstellung bei Gericht liegenden Zeiträume. Vorliegend ist die Antragstellung bei Gericht am 29. Dezember 2009 erfolgt. Besondere Gründe, die ausnahmsweise einen rückwirkenden Nachholbedarf rechtfertigen, wurden nicht geltend gemacht und sind aufgrund des kurzen Zeitraums zwischen der Antragstellung bei der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 23. November 2009 und der Antragstellung bei Gericht am 29. Dezember 2009 nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.

Der Beschluss kann gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.
Rechtskraft
Aus
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