S 6 AS 205/10 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 AS 205/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Zusicherung zur Anmietung der Wohnung C.-G.-Straße 13 in 52072 Aachen zu erteilen sowie eine Mietkaution in Höhe von 750,- Euro darlehensweise zu übernehmen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

I.

Die am 18.05.0000 geborene Antragstellerin lebte bislang mit ihrem Lebensgefährten in einer Wohnung in der V.-Straße 51 in 52477 B. zusammen. Nach Beendigung der Beziehung im Januar 2010 musste sie diese Wohnung verlassen und ist seitdem ohne festen Wohnsitz. Der Versuch, diese Wohnung allein zu übernehmen, scheiterte. Im Februar fand sie eine 45 m² große Wohnung in der C.-G.-Straße 13 in 52072 Aachen (Nettokaltmiete: 250,00 Euro monatlich, Heizkostenvorauszahlung 80,- Euro monatlich, Betriebskostenvorauszahlung 30,- Euro monatlich), für welche die Vermieterin eine Kaution in Höhe von 1.000,- Euro verlangt. Unter dem 22.02.2010 beantragte sie bei der Antragsgegnerin die Zustimmung zur Anmietung dieser Wohnung sowie die Übernahme der Mietkaution, was jene ablehnte. Zur Begründung führte sie aus, für eine Person sei lediglich eine Nettokaltmiete in Höhe von 238,50 Euro (45 m² für allein stehende x 5,30 Euro pro m²) angemessen. Überdies dürfe die Mietkaution maximal drei Nettokaltmieten betragen.

Am 22.02.2010 hat sich die Antragstellerin an das Gericht gewandt und unter Hinweis auf Ihre derzeitige Wohnungslosigkeit Eilrechtsschutz begehrt.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Zusicherung zur Anmietung der Wohnung C.-G.-Straße 13 in 52072 Aachen zu erteilen sowie die Mietkaution in Höhe von 1.000,- Euro zu übernehmen.

Die Antragsgegnerin beantragt, die Anträge abzulehnen.

Das Gericht hat den Mietspiegel für die Stadt Aachen sowie den Betriebskostenspiegel für Nordrhein-Westfalen beigezogen.

Hinsichtlich der weiteren wesentlichen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte verwiesen.

II.

Die zulässigen Anträge sind aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der geltend gemachte Hilfeanspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund), die Eilbedürftigkeit, sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO).

Bezüglich der Zusicherung zur Anmietung der Wohnung hat die Antragstellerin Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Ein Anordnungsanspruch folgt aus § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II. § 22 Abs. 2a SGB II ist nicht einschlägig, weil diese Vorschrift entsprechend ihrem Gesetzeszweck - unter 25 Jährige sollen davon abgehalten werden, durch einen Auszug aus der elterlichen Wohnung die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften zu erhöhen - teleologisch zu reduzieren ist (vgl. zum Ganzen Lang/Link, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage 2008, § 22 Rdnr. 80a). Die Antragstellerin jedoch hat zuvor nicht in der elterlichen Wohnung gewohnt, sondern in einer gemeinsamen Wohnung mit ihrem Lebensgefährten.

Die Voraussetzungen des § 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II liegen vor. Der Umzug ist bereits deshalb erforderlich, weil die Antragstellerin die Wohnung ihres Lebensgefährten verlassen musste und derzeit wohnungslos ist.

Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin sind die Aufwendungen der neuen Unterkunft auch angemessen im Sinne dieser Vorschrift. Welche Aufwendungen im Einzelfall angemessen sind, errechnet sich aus dem Produkt aus der für den Leistungsempfänger abstrakt angemessenen Wohnungsgröße und dem nach den örtlichen Verhältnissen angemessenen Mietzins pro m² (sog. "Produkttheorie", vgl. nur BSG, Urteil vom 07.11.2006, B 7b AS 18/06 R; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 01.08.2005, L 19 B 21/05). Zur Bestimmung der angemessenen Wohnfläche ist auf die in den landesrechtlichen Bestimmungen zur Wohnraumgröße im sozialen Mietwohnungsbau anerkannte Wohnfläche abzustellen (vgl. BSG, a.a.O.). In Nordrhein-Westfalen haben diese Vorschriften zum 01.01.2010 eine grundlegende Änderung erfahren. Bis 31.12.2009 war nach Nr. 5.71 des Runderlasses des Ministeriums für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport zu § 27 Abs. 4 des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung vom 08.03.2002 (VV-Wobind, SMBl.NRW. 238) für eine alleinstehende Person eine Wohnungsgröße von 45 m² angemessen. Diese Verwaltungsvorschrift ist nunmehr durch die auf der Grundlage des neuen Gesetzes zur Förderung und Nutzung von Wohnraum für das Land Nordrhein-Westfalen (WFNG NRW) vom 08.12.2009 (GV. NRW S 772) erlassenen Wohnraumnutzungsbestimmungen (WNB, Rderl. des Ministeriums für Bauen und Verkehr vom 12.12.2009, MBl. NRW 2010, 6 ff.) abgelöst worden (vgl. Nr. 19 Abs. 2 dieser Verwaltungsvorschriften). Nach Nr. 8.2 lit a) dieser Verwaltungsvorschriften sind für eine allein stehende Person 50 m² Wohnfläche angemessen im Sinne des § 18 Abs. 2 WFNG NRW. Auf der anderen Seite sieht Anlage 1, Nr. 1.4.1 der Wohnraumförderungsbestimmungen (WFB, Rderl. des Ministeriums für Bauen und Verkehr vom 26.01.2006, zuletzt geändert durch Rderl. v. 28.01.2010) für Mietwohnungen bestehend aus einem Zimmer, Küche und Nebenräumen eine Wohnflächenobergrenz von 47 m² vor. Für die Anwendung von Nr. 8.2 WNB gegenüber Anlage 1 Nr. 1.4.1. WFB sprechen jedoch systematische Erwägungen. Abgesehen davon, dass die WNB die bislang unstreitig zu Grunde zu legenden VV-WobindG abgelöst haben (vgl. Nr. 19 Abs. 2 WNB), so war Nr. 5.71 der VV-WoBindG eine Konkretisierung von § 27 Abs. 4 des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung (WoFG), der die im Wohnberechtigungsschein anzugebende maßgebliche Wohnungsgröße für den Wohnungssuchenden regelte. Diese Funktion hat nach Erlass des WFNG NRW nunmehr § 18 Abs. 2 WFNG NRW übernommen, der ebenfalls an die im Wohnberechtigungsschein anzugebende maßgebliche Wohnungsgröße für den Wohnungssuchenden anknüpft. Folglich ist - den Verwaltungsvorschriften zu dieser Vorschrift (Nr. 8.2 WNB) entsprechend - für eine allein stehende Person von einer angemessenen Wohnfläche von bis zu 50 m² auszugehen. Überdies enthält Anlage 1 Nr. 1.4.1. WFB keine Aussage zu der Anzahl der Wohnungssuchenden, sondern trifft eine Klassifizierung lediglich anhand der Anzahl der Zimmer.

Für die avisierte Wohnung der Antragstellerin sind ausweislich der Mietbescheinigung 250,- Euro an Nettokaltmiete zu zahlen. Auf 50 m² umgerechnet, entspricht dies einem m²-Preis von 5,- Euro. Dieser Mietzins ist für das Stadtgebiet Aachen angemessen.

Für die Ermittlung der angemessenen Miethöhe ist auf den örtlichen Mietspiegel und nicht auf die Wohngeldtabelle abzustellen, da Mietspiegel die örtlichen Verhältnisse genauer widerspiegeln als die Wohngeldtabelle (BSG, a.a.O.). Hierbei müssen Ausstattung, Lage und Bausubstanz der Wohnung einfachen und grundlegenden Bedürfnissen entsprechen. Hilfebedürftige haben sich bei der Auswahl einer angemessenen Wohnung am unteren Preissegment zu orientieren (BSG, a.a.O.). Nach dem beigezogenen Mietspiegel für die Stadt Aachen liegt ein m²-Preis von 5,- Euro deutlich unterhalb des durchschnittlichen Preises für sämtliche im Stadtgebiet erfassten Wohnungen (2,10 Euro günstigster Wert + 9,30 Euro teuerster Wert, geteilt durch 2 = 5,70 Euro). Dieser Preis entspricht zudem dem oberen Preissegment für Wohnungen in einfacher Wohnlage (bis Baujahr 1982) bzw. dem mittleren Preissegment für Wohnungen in mittlerer Wohnlage (bis Baujahr 1993) und dem unteren Preissegment für Wohnungen in guter Wohnlage (bis Baujahr 2002). Der Auswahlbereich ist damit soweit gezogen, dass er die Angemessenheitskriterien des Bundessozialgerichts – denen sich die Kammer anschliesst – sicher erfüllt. Auch die Antragsgegnerin geht hiervon aus, legt sie doch für die Stadt Aachen sogar einen m²-Preis von 5,30 Euro zu Grunde.

Die Angemessenheit der Unterkunft der Antragstellerin scheitert schliesslich auch nicht an den Heizkosten. Zwar erscheinen 80,- Euro monatlich für eine Wohnungsgröße von 45 m² eher hoch bemessen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass eine genaue verbrauchsabhängige Angabe erst nach Einzug der Antragstellerin erfolgen kann und die Vermieterin gehalten ist, nach dem konkreten Verbrauch abzurechnen. Die Betriebskosten von 30,- Euro liegen demgegenüber deutlich unter dem Betriebskostenspiegel für Nordrhein-Westfalen für 2008/2009. Danach sind pro m² pro Monat 1,94 Euro (Warmwasser und Heizkosten sind bereits herausgerechnet) zu Grunde zu legen.

Ein Anordnungsgrund folgt aus der derzeitigen Wohnungslosigkeit der Antragstellerin, die es nicht zumutbar erscheinen läßt, das Hauptsacheverfahren abzuwarten.

Bezüglich der Mietkaution ergibt sich lediglich ein Anordnungsanspruch in Höhe von 750,- Euro. Rechtsgrundlage ist § 22 Abs. 3 Satz 3 SGB II. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor. Der Umzug ist im vorliegenden Fall notwendig. Darüber hinaus sind - wie dargelegt - auch die Kosten der Unterkunft, in die umgezogen wird, angemessen (zu dieser Voraussetzung vgl. Lang/Link, a.a.O., § 22 Rdnr. 92; Piepenstock, in: jurisPK, § 22 SGB II, Rdnr. 122 m.w.N.). Jedoch ist die Übernahme der Mietkaution auf die nach Bürgerlichem Recht maximal zu entrichtenden Kaution in Höhe von drei Nettokaltmieten (vgl. § 551 Abs. 1 BGB) beschränkt. Die Kammer legt § 22 Abs. 3 Satz 3 SGB II dahingehend aus, dass bei einer höheren Kaution nicht der Anspruch zur Gänze entfällt, sondern anteilig besteht. Da die monatliche Nettokaltmiete der von der Antragstellerin avisierten Wohnung 250,- Euro beträgt, ergibt sich eine von der Antragsgegenrin maximal zu übernehmende Kaution in Höhe von 750,- Euro.

Ein Anordnungsanspruch folgt auch hier aus der derzeitigen Wohnungslosigkeit der Antragstellerin.

Die Kostenentscheidung beruht auf analoger Anwendung von § 193 SGG und hat - dem Rechtsgedanken des § 92 Abs. 2 Nr. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) folgend - hierbei berücksichtigt, dass die Antragstellerin in der Sache lediglich zu einem ganz geringen Teil unterlegen ist.
Rechtskraft
Aus
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