L 14 AS 763/10 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 179 AS 7817/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 AS 763/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Das Aufenthaltsrecht eines rumänischen Staatsangehörigen, der in Deutschland eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, ergibt sich nicht "allein aus dem Zweck der Arbeitssuche".
Es ist zumindest denkbar, dass Ausländer auch dann im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II erwerbstätig sein können, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung "abstrakt" erlaubt werden könnte oder wenn sie selbständig erwerbstätig sein dürfen.
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 24. März 2010 aufgehoben. Der Antragsgegner hat den Antragstellern vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (einschließlich Kosten für Unterkunft und Heizung) für die Zeit ab dem 26. April 2010 bis zur Bekanntgabe einer Entscheidung über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 1. Februar 2010, längstens bis zum 31. August 2010 zu erbringen. Der Antragsgegner hat den Antragstellern die ihnen entstandenen Kosten des Antrags- und des Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

Die statthafte (§ 172 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]), nicht durch § 172 Abs. 3 SGG ausgeschlossene und auch im Übrigen zulässige (§ 173 SG) Beschwerde der Antragsteller ist im Wesentlichen begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Entsprechend den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts über den vorläufigen Rechtsschutz gegen die Versagung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende (vgl. Beschluss v. 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –) reicht schon die Möglichkeit, dass die begehrten Leistungen zustehen könnten, allemal aus, um im Wege der Folgenabwägung den Erlass einer zusprechenden einstweiligen Anordnung zu rechtfertigen. Der Senat kann im anhängigen Eilverfahren einen Anspruch der Antragsteller auf die von ihnen begehrten Leistungen jedenfalls nicht mit Bestimmtheit ausschließen.

Maßgebend sind – auch im Beschwerdeverfahren – in der Regel die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 18. Oktober 2007 – L 28 B 1637/07 AS ER –; erkennender Senat, Beschluss vom 4. September 2009 – L 14 AS 1063/09 B ER –, nicht veröffentlicht; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Rdnrn. 165, 166 m. w. N. zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer – einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden – besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschlüsse vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 – und vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine – stattgebende – Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Dies schließt dann nicht aus, bei der Beschwerdeentscheidung auch auf einen früheren Zeitpunkt ab Antragstellung der einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht abzustellen. Derartige Umstände sind hier jedoch nicht ersichtlich. Andererseits darf der Zeitablauf nach Eingang der Beschwerde(akten) bei Gericht – die Beschwerde ist am 20. April 2010 beim Sozialgericht eingelegt worden – den Antragstellern nicht zum Nachteil gereichen.

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 7 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) erhalten Personen, die

1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben

(erwerbsfähige Hilfebedürftige – § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Die Antragsteller sind 40 bzw. 36 Jahre alt. Sie haben glaubhaft gemacht, dass sie sich seit J2009 gewöhnlich in Deutschland aufhalten. Dafür spricht insbesondere, dass die Antragstellerin zu 2) – offenbar sogar auf Veranlassung des Antragsgegners – an einem Integrationskurs teilnimmt; dies lässt darauf schließen, dass sich beide auf längere Zeit, wenn nicht sogar auf Dauer in Deutschland aufhalten werden. Sie haben ferner glaubhaft gemacht, dass die hilfebedürftig sind. Es gibt keine Hinweise dafür, dass sie über Vermögen oder weitere Einkünfte als die des Antragstellers zu 1) aus seiner Erwerbstätigkeit verfügen, die aber zur Deckung ihres Bedarfs nicht ausreichen.

Zumindest der Antragsteller zu 1) dürfte auch erwerbsfähig i.S.d. § 8 SGB II sein. Es besteht zunächst kein Anhalt, dass einer der beiden Antragsteller "wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande (wäre), unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein" (§ 8 Abs. 1 SGB II). Ferner ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass der Antragsteller zu 1) auch i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II ("rechtlich") erwerbsfähig ist, was ("nur") dann der Fall ist, "wenn (ihm) die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte". Zwar besitzt keiner der beiden Antragsteller eine – nach der Mitteilung der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission über die weitere Anwendung die Freizügigkeit rumänischer Staatsangehöriger einschränkender nationaler Maßnahmen vom 17. Dezember 2008 (BAnz Nr. 198 vom 31. Dezember 2008, S. 4807 [4808]) weiterhin erforderliche – Arbeitsgenehmigung (§ 284 Abs. 1 des Dritten Buchs des Sozialgesetzbuchs [SGB III]). Ob es für die Annahme der Erwerbsfähigkeit eines Ausländers i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II erforderlich ist, dass die Erteilung einer Arbeitsgenehmigung "konkret" möglich erscheint (i.d.S. bspw. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Januar 2010 – L 29 AS 1820/09 B ER –), oder ob die "abstrakt-generelle" Möglichkeit ausreicht (so die "Fachlichen Hinweise" der Bundesagentur für Arbeit zu § 8 SGB II [8.15] sowie Valgolio, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch, SGB II – Grundsicherung für Arbeitsuchende –, § 8 Rdnr. 20 f.), kann der Senat im vorliegenden Verfahren offenlassen. Denn denkbar ist auch, dass als "Beschäftigung" i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II nicht nur die abhängige Beschäftigung (§ 7 des Vierten Buchs des Sozialgesetzbuchs [SGB IV]) anzusehen ist (so allerdings bspw. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Januar 2010 – L 29 AS 1820/09 B ER –), sondern ("aufgrund der Aufgabe und des Ziels des SGB II") auch die selbständige Erwerbstätigkeit (so bspw. wiederum die "Fachlichen Hinweise" der Bundesagentur für Arbeit zu § 8 AGB II [8.14] sowie Brühl, in: LPK-SGB II, § 8 Rdnr. 36; siehe auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20.Mai 2008 – 15 B 54/08 SO ER –). Die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit ist den (rumänischen) Antragstellern aber erlaubt; tatsächlich ist der Antragsteller zu 1) auch erwerbstätig.

Der Leistungsanspruch der Antragsteller entfällt auch nicht aufgrund der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, wonach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs haben. Denn der Antragsteller zu 1) dürfte ein Aufenthaltsrecht nicht (lediglich) "zur Arbeitsuche" (§ 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU [FreizügG/EU]), sondern als "niedergelassener selbständiger Erwerbstätiger" aufgrund des § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 2 FreizügG/EU haben, die ihn begleitende Antragstellerin zu 2) nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Der Antragsteller zu 1) hat nicht nur ein Gewerbe ("Abrissarbeit") angemeldet, sondern übt – jedenfalls seit März 2010 wieder – eine entsprechende Erwerbstätigkeit (als "Subunternehmer") auch aus. Zweifel daran, dass er "selbständig" tätig ist, hat der Antragsgegner jedenfalls bislang nicht erkennen lassen.

Dem Aufenthaltsrecht des Antragstellers zu 1) als Selbständiger dürfte nicht entgegenstehen, dass seine Tätigkeit (bislang) nur einen geringen Umfang hat und die daraus erzielten Einkünfte nicht ausreichen, um davon seinen Lebensunterhalt und den der Antragstellerin zu 2) zu bestreiten. Insoweit dürften keine anderen Maßstäbe anzulegen sein als die, die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen (jetzt:) Union für die Beurteilung der Eigenschaft als "Arbeitnehmer" ergeben. Dementsprechend kommt es auch hier darauf an, ob der Antragsteller zu 1) eine "tatsächliche und echte Tätigkeit" von wirtschaftlicher Bedeutung ausübt; außer Betracht zu bleiben haben dagegen Tätigkeiten, die einen so geringen Umfang, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (vgl. zuletzt Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 4. Februar 2010, Rs. C-14/09, Genc./. Land Berlin).

Die vom Antragsteller zu 1) ausgeübte Tätigkeit kann nach den dem Senat derzeit zur Verfügung stehenden Erkenntnissen nicht als "völlig untergeordnet und unwesentlich" angesehen werden. Er erbringt augenscheinlich – auf der Grundlage eines "Subunternehmervertrages" – Leistungen, die für seine Auftraggeber(in) einen wirtschaftlichen Wert haben. Dass die von ihm dadurch erzielte bzw. zu erzielende Vergütung nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts ausreicht, ist nach der genannten und bei der Auslegung des Freizügigkeitsgesetzes/EU zu beachtenden Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unerheblich.

Ob auch die Antragstellerin zu 2) als ("rechtlich") "erwerbsfähig" i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II anzusehen ist, ist nicht von entscheidender Bedeutung. Wäre sie nicht in diesem Sinn erwerbsfähig, hätte sie als mit dem Anragsteller zu 1) in einer Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. a SGB II) lebenden Angehörige Anspruch auf Sozialgeld (§ 28 Abs. 1 Satz 1 SGB II).

Dem Anspruch der Antragsteller steht schließlich nicht die Bestandskraft der ablehnenden Entscheidung in dem Bescheid vom 1. Februar 2010 entgegen. Dagegen haben die Antragsteller am 3. März 2010 Widerspruch eingelegt, was allerdings der vom Antragsgegner am 10. Juni 2010 übersandten (offenbar unvollständigen) Leistungsakt nicht zu entnehmen ist, in der vielmehr irreführend (ohne Unterschrift und Datum!) vermerkt ist: "Eingereichte Unterlagen beziehen sich nicht auf die Ablehnung. Widerspruch wurde auch nicht abgegeben". Erst nach und aufgrund einer fernmündlichen Nachfrage hat der Antragsgegner am 5. Juli 2010 mitgeteilt, dass ein Widerspruch eingelegt worden ist, und am 12. Juli 2010 eine Abschrift übermittelt. Dass den Antragstellern eine Entscheidung über diesen Widerspruch bekanntgegeben und damit wirksam geworden ist (§ 39 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs [SGB X]), kann der Senat nicht feststellen. Der Antragsgegner führt zwar an, dass er den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2010, der noch am selben Tag zur Post gegeben worden sei, zurückgewiesen habe. Die Antragsteller behaupten jedoch, "keine Antwort (auf ihren Widerspruch) erhalten" zu haben; dies lässt sich jedenfalls im vorliegenden Verfahren nicht widerlegen. Im Zweifel hat aber der Antragsgegner den Zugang des Widerspruchsbescheids nachzuweisen (§ 37 Abs. 2 Satz 3 2. Halbsatz SGB X); diesen Nachweis kann er augenscheinlich nicht erbringen.

Die nach allem gebotene Folgenabwägung führt dazu, dass den Antragstellern vorläufig die begehrten Leistungen – unter Berücksichtigung der vom Antragsteller zu 1) erzielten Einkünfte aus seiner Erwerbstätigkeit – zu erbringen sind, um ihr Existenzminimum zu sichern. Eine – vorübergehende – Rückkehr der Antragsteller nach Rumänien sieht der Senat insbesondere angesichts dessen, dass die Antragstellerin zu 2) – wie erwähnt offenbar auf Veranlassung des Antragsgegners – einen Integrationskurs besucht, nicht als zumutbar an. Der Senat sieht zunächst einen Zeitraum vom Eingang der Beschwerde beim Landessozialgericht (26. April 2010) bis zu einer (noch nachzuholenden) Bekanntgabe einer Widerspruchsentscheidung an die Antragsteller, längstens bis zum 31. August 2010 als angemessen an, zumal nicht auszuschließen ist, dass die Antragsteller ihre Hilfebedürftigkeit durch die Erwerbstätigkeit des Antragstellers zu 1) selbst beseitigen können. Ggf. steht es ihnen frei, beim Gericht der Hauptsache aber-mals einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zu stellen, falls dies erforderlich werden sollte.

Die Entscheidung über die Kostenerstattung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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