L 20 AS 902/10 B PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
20
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 29 AS 430/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 20 AS 902/10 B PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 07. April 2010 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten für das Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Cottbus (SG) vom 7. April 2010, mit dem das SG den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das sozialgerichtliche Verfahren abgelehnt hat, ist unbegründet. Nach § 73 a Sozialgerichtsgesetz - SGG - i. V. m. § 114 Zivilprozessordnung - ZPO - erhält ein Beteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn - neben anderen Voraussetzungen - die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

Zwar dürfte die fehlende Erfolgsaussicht nicht schon aus der Unzulässigkeit einer - noch nicht erhobenen - Klage wegen Versäumung der Klagefrist (§ 87 SGG) folgen. Denn jedenfalls nach der bislang noch herrschenden obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BSG SozR 1500 § 67 Nr. 5, 13, 14, 15; BVerwG Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 147; Buchholz 310 § 166 VwGO Nr. 22) wäre einem "armen" Beteiligten gemäß § 67 SGG auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn dieser innerhalb der Klagefrist die Bewilligung von Prozesskostenhilfe formgerecht beantragt hat und die Klageerhebung binnen eines Monats nach Entscheidung über das PKH-Gesuch (§ 67 Abs. 2 Satz 1 SGG) erfolgt.

Nicht nur in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist dieses Ergebnis in neuerer Zeit zunehmend umstritten (vgl. nur Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18. Februar 2008 - 16 E 1118/06 - und Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 25. Februar 2008 - 4 PA 390/07; zitiert jeweils nach juris). Auch für sozialgerichtliche Rechtsstreitigkeiten wird hinsichtlich gerichtskostenfreier Verfahren ohne Anwaltszwang zunehmend angenommen, dass eine Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist nicht in Betracht kommt (vgl. Rohwer-Kahlmann, SGG § 73a (§ 114 ZPO) Rn. 13; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, 19. Mai 2008 - L 10 B 184/08 AS PKH). Der Auffassung des SG in der angefochtenen Entscheidung neigt auch der erkennende Senat zu. Für die Prüfung der Erfolgsaussichten im Rahmen des Prozesskostenhilfegesuchs genügt jedoch die Möglichkeit, dass weiterhin auf Grundlage der - in der sozialgerichtlichen Praxis nach wie vor herrschenden - Rechtsprechung Wiedereinsetzung zu gewähren wäre.

Einer auf die Bewilligung eines Mehrbedarfszuschlags für Alleinerziehende nach § 21 Abs. 3 Zweites Buch Sozialgesetzbuch - SGB II - gerichteten Rechtsverfolgung fehlt jedoch die notwendige Erfolgsaussicht in der Sache.

Eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne des § 114 ZPO ist dann zu bejahen, wenn eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit besteht. Die bloße Möglichkeit eines Erfolges reicht nicht aus, es muss vielmehr eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit bestehen, die Anforderungen daran dürfen jedoch nicht überspannt werden (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. Oktober 1991, 1 BvR 1486/91, NJW 1992, 889). Eine Rechtsverfolgung ist dann hinreichend Erfolg versprechend, wenn das Gericht nach vorläufiger summarischer Prüfung den Rechtsstandpunkt des Antragstellers unter Berücksichtigung des Vortrages des anderen Beteiligten zumindest für vertretbar und den Prozesserfolg für wahrscheinlich hält. Eine Vorwegnahme der Entscheidung der Hauptsache erfolgt im Rahmen der Prüfung der Erfolgswahrscheinlichkeit im Prozesskostenhilfeverfahren nicht (BVerfG, Beschluss vom 13. März 1990, 2 BvR 94/88, BVerfGE 81, 347).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze lässt sich nicht feststellen, dass die Klage Aussicht auf Erfolg hätte. Ein Anspruch der Klägerin auf Anerkennung eines Mehrbedarfes nach § 21 Absatz 3 SGB II ist nicht wahrscheinlich. § 21 Absatz 3 SGB II setzt voraus, dass "eine Person mit einem oder mehreren minderjährigen Kindern zusammen lebt und allein für deren Pflege und Erziehung sorgt". Bezüglich der alleinigen Sorge ist ausschließlich auf die tatsächlichen Umstände abzustellen und nicht auf das Personensorgerecht i. S. der §§ 1626 ff BGB (vgl. BSG, Urteil vom 3. März 2009 - B 4 AS 50/07 R m.w.N., Juris). Alleinige Sorge liegt nur vor, wenn bei der Pflege und Erziehung keine andere Person in erheblichem Umfang mitwirkt, insbesondere, wenn der hilfebedürftige Elternteil nicht von dem anderen Elternteil oder Partner nachhaltig unterstützt wird (BSG, Urteil v. 02. Juli 2009 - B 14 AS 54/08 R - m.w.N., Juris).

Die Begriffe "Pflege" und "Erziehung" umschreiben die umfassende Verantwortung für die Lebens- und Entwicklungsbedingungen des Kindes. Pflege konkretisiert die Sorge für das körperliche Wohl, Erziehung die Sorge für die seelische und geistige Entwicklung, die Bildung und Ausbildung der minderjährige Kinder. Es geht um die gesamte Sorge für das Kind, mithin die Ernährung, Bekleidung, Gestaltung des Tagesablaufs und emotionale Zuwendung (BSG - B 4 AS 50/07 R Rn. 17, zit. nach Juris). Ein Alleinerziehender sorgt nur dann nicht allein für die Pflege und Erziehung eines Kindes, wenn ihn eine andere Person so nachhaltig bei der Pflege und Erziehung des Kindes unterstützt wie sonst der andere Elternteil zu tun pflegt (BSG B 4 AS 50/07 R Rn 18f.; Spellbrink/Lang/Knickrehm in Eicher/Spellbrink, SGB 2, 2. Aufl. § 21 Rn. 29).

Entscheidend für die Auslegung des Begriffs der "alleinigen Sorge" ist der Zweck des § 21 Absatz 3 SGB II. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte inhaltlich an die entsprechende Vorschrift im Bundessozialhilfegesetz angeknüpft werden (vgl. BSG aaO Rn 18; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. Juli 2007 - L 13 AS 50/07 ER Rn 14, zit. nach Juris). Die Rechtfertigung dieses Mehrbedarfszuschlages ergab sich nach den Gesetzgebungsmaterialien vor allem dadurch, dass allein Erziehende wegen der Sorge für ihre Kinder weniger Zeit haben, preisbewusst einzukaufen sowie zugleich höhere Aufwendungen zur Kontaktpflege und zur Unterrichtung in Erziehungsfragen tragen müssen. Auch seien sie weniger mobil, fänden keine ausreichende Zeit zum Preisvergleich, müssten die nächstgelegene Einkaufsmöglichkeit nutzen und hätten ein höheres Informations- und Kontaktbedürfnis. Der Zweck des Mehrbedarfes liegt mithin darin, den höheren Aufwand des Alleinerziehenden für die Versorgung und Pflege beziehungsweise Erziehung der Kinder, etwa wegen geringerer Beweglichkeit und zusätzlichen Aufwendungen für Kontaktpflege oder Inanspruchnahme von Dienstleistungen Dritter, in pauschalierter Form auszugleichen. Entscheidend ist es daher, ob der hilfebedürftige Elternteil von einer anderen Person (beispielsweise dem anderen Elternteil) in einem Umfang unterstützt wird, der es rechtfertigt, von einer nachhaltigen Entlastung auszugehen.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass auch bei Ehegatten, die gemeinsam mit ihren Kindern in einem Haushalt leben, häufig nicht der einzelne Elternteil rund um die Uhr, sondern in der Regel nur zeitweise zur Pflege und Erziehung eines Kindes zur Verfügung steht (LSG Niedersachsen Bremen L 13 AS 50/07 ER). Insbesondere der zuletzt genannte Aspekt ist unter Beachtung des Artikels 6 Abs. 1 Grundgesetz – GG - von herausragender Bedeutung.

Art. 6 Abs. 1 GG stellt die Ehe und Familie unter den besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. Daraus folgt ein spezielles Diskriminierungsverbot von Ehe und/oder Familie. Dieses Verbot wird verletzt, wenn eine Ungleichbehandlung von Ehegatten gegenüber Ledigen (BVerfGE 28, 324/347; 69, 188/205f.; 87, 234/259) oder gegenüber eheähnlichen Gemeinschaften (BVerfGE 67, 186/196; BSGE 63, 120/129) bzw. von Familien(angehörigen) gegenüber Nichtfamilienmitgliedern (BVerfGE 28, 104/112) erfolgt. Der Benachteiligung steht eine entsprechende Begünstigung gleich (BVerfGE 12, 151/167). Bei der Auslegung des § 21 Absatz 3 SGB II ist daher das Diskriminierungsverbot des Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz zu beachten und die Norm entsprechend grundrechtskonform auszulegen.

Die Klägerin hat unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe keinen Anspruch auf Gewährung eines Zuschlags wegen Alleinerziehung. Sie konnte, jedenfalls an den Wochenenden, auf die Hilfe und Unterstützung des Vaters ihres Sohnes zurückgreifen, der sich nach ihren Angaben anlässlich des durch den Beklagten durchgeführten Hausbesuchs regelmäßig auch an den Wochenenden zu Besuch bei ihr aufhielt und sich in dieser Zeit intensiv mit den Kindern beschäftigte. Die Klägerin lebte zwar von Besuchen des Vaters abgesehen allein mit dem Kind, jedoch hatte sie unter der Woche die Möglichkeit den Vater bei seinen regelmäßigen Besuchen oder auch telefonisch in Betreuungs- und Erziehungsfragen zu beteiligen und auch seinen Rat einzuholen. Diese Situation ist grundsätzlich nicht anders als die von Familien, in denen einer der Partner erwerbstätig ist und tagsüber nicht zur Beratung in Erziehungsfragen zur Verfügung steht. Am Wochenende hatte die Klägerin darüber hinaus Gelegenheit, liegen gebliebene Hausarbeit aufzuarbeiten, da sich in dieser Zeit der Vater um die Betreuung des Kindes kümmerte. Auch insoweit liegt die Situation anders als bei Personen, die während der gesamten Woche keine derartige Unterstützung erfahren.

Dass die Unterstützung durch den anderen Elternteil zeitlich nur begrenzt möglich war, steht der Ablehnung des Merkmals der Alleinerziehung nicht im Wege. Denn insoweit unterscheidet sich die Situation bei der Klägerin nicht von der, in der ein Elternteil wegen Erwerbstätigkeit weitgehend abwesend ist. Auch in einer intakten Ehe mit gefestigten Familienverhältnissen ist es nicht ungewöhnlich, sondern eher die Regel, dass ein Elternteil wochentags durchgehend arbeitet. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass der Vater des Sohnes der Klägerin neben seiner Berufstätigkeit an einem zukünftigen Familienheim gebaut hat, d.h. einem Haus in das er gemeinsam mit der Klägerin, dem gemeinsamen Sohn und der Tochter der Klägerin einzuziehen plante. Insofern stellte sich die Familiensituation der Klägerin nicht anders dar als in einer Vielzahl intakter Ehen, bei denen die Eltern zum Wohl der gesamten Familie eine einvernehmliche Arbeitsteilung praktizieren. Eine Besserstellung der Klägerin gegenüber den Partnern derartiger Ehen ist im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG nicht gerechtfertigt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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