L 6 AS 441/10 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6 AS 144/10 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 441/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 23. Juni 2010 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern die notwendigen außergerichtlichen Kosten auch des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die am 30. Juli 2010 bei dem Hessischen Landessozialgericht eingegangene Beschwerde der Antragsgegnerin mit dem sinngemäßen Antrag,

den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 23. Juni 2010 aufzuheben und den Antrag der Antragsteller abzulehnen,

ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin zu Recht verpflichtet, vorläufig den Antragstellern die Zusicherung zu den Unterkunftskosten der Wohnung in der C-Straße in A-Stadt und die Zusicherung der darlehensweisen Übernahme einer Mietkaution von 560,00 EUR zu erteilen. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sind insoweit auch nach Auffassung des Senates erfüllt.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein Rechtsverhältnis gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist sowohl ein Anordnungsanspruch (d.h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines materiellen Leistungsanspruchs) als auch ein Anordnungsgrund (d.h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile), die glaubhaft zu machen sind (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Zivilprozessordnung - ZPO -). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Wegen des Gebotes, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes - GG -), ist von diesem Grundsatz jedoch dann abzuweichen, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare später nicht wiedergutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1988, Az. 2 BvR 745/88 = BVerfGE 79, 69 ff.; Beschluss vom 22. November 2002, Az. 1 BvR 1586/02 = NJW 2003, 1236 f.). Weiter ist zu berücksichtigen, dass Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern eine Wechselbeziehung besteht. Die Anforderungen an den Anordnungsanspruch sind mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Beschluss des 7. Senates des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 2005, Az. L 7 AS 1/05 ER; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Kommentar, 9. Aufl., § 86b Rdnr. 29). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet und das angegriffene Verwaltungshandeln offensichtlich rechtswidrig bzw. bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens des Leistungsträgers, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24. Mai 2004, Az: L 16 B 15/04 KR ER; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 31. Juli 2002, Az: L 18 B 237/01 V ER). In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, wobei jedoch auf einen Anordnungsgrund nicht gänzlich verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden.

Davon ausgehend spricht nach Auffassung des Senats zwar viel für die Bejahung einer Glaubhaftmachung des erforderlichen Anordnungsanspruches, wie dies von dem Sozialgericht im Einzelnen unter ausführlicher Darlegung der zur Angemessenheit der Aufwendungen für die Unterkunft ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts begründet worden ist. Auf die Ausführungen im angefochtenen Beschluss wird insoweit verwiesen. Der Senat vertritt jedoch die Auffassung, dass die Prüfung, ob die von einem Leistungsträger erstellten und angewendeten "Mietdatenbanken" auf einem schlüssigen Konzept beruhen und eine hinreichende Gewähr dafür bieten, dass sie die aktuellen Verhältnisse des örtlichen Mietwohnungsmarktes wiedergeben (vgl. BSG, Urteile vom 18. Juni 2008, B 14/7b AS 44/06 R, 2. Juli 2009, B 14 AS 33/08 R, 22. September 2009, B 4 AS 18/09 R und 18. Februar 2010, B 14 AS 73/08 R), innerhalb des Rahmens eines Eilverfahrens in aller Regel nicht möglich ist. Dies gilt zumindest dann, wenn - wie hier - eine grundsätzliche und abschließende (ober-) gerichtliche Prüfung des Konzepts des Leistungsträgers noch nicht erfolgt ist. Insoweit ist im Rahmen der erforderlichen Prüfung zunächst im Wege einer umfangreichen Analyse der Frage nachzugehen, ob die Feststellungen der Verwaltung ausreichend bzw. unzulänglich sind. Ggf. hat sodann eine Nachbesserung des Konzepts durch weitere eigene Ermittlungen des Gerichts zu erfolgen (BSG, Urteil vom 18. Februar 2010, a.a.O.). Es liegt nahe, hierbei fachkompetente Stellen durch Einholung eines Sachverständigengutachtens (z.B. über das Institut Wohnen und Umwelt GmbH in E-Stadt) hinzuzuziehen, um dem umfangreichen Prüfungsaufwand gerecht zu werden. Ein derartiger, mehrmonatiger Ermittlungsaufwand hätte jedoch für ein Eilverfahren zur Folge, dass die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG nicht mehr hinreichend gewährleistet wäre, so dass dieser im Ergebnis dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss. Nach alledem ist es vorliegend geboten, von einem offenen Anordnungsanspruch auszugehen und im Übrigen den Eilantrag gemessen an dem Vorliegen eines Anordnungsgrundes bzw. einer Folgenabwägung zu entscheiden.

Nach Auffassung des Senates ergibt die Folgenabwägung, dass ein Anordnungsgrund für den Erlass der einstweiligen Anordnung in dem von dem Sozialgericht stattgegebenen Umfang zu bejahen ist. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung muss für die Abwendung wesentlicher Nachteile nötig sein; d.h. es muss eine dringliche Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (Conradis, SGB II, Lehr- und Praxiskommentar, Anhang Verfahren Rdnr. 119). Eine solche Notlage ist bei einer Gefährdung der Existenz oder erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen anzunehmen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer a.a.O., Rdnr. 28 u. 29a). Gegeneinander abzuwägen sind die Folgen, die bei Erlass bzw. Ablehnung einer einstweiligen Anordnung für den unterliegenden Beteiligten entstehen würden, jeweils unterstellt, der Erlass bzw. die Ablehnung der Anordnung erfolgte aufgrund nachträglicher Prüfung im Hauptsacheverfahren zu Unrecht. Davon ausgehend würden den Antragstellern im Falle einer unzutreffenden Ablehnung ihres Antrages gravierendere Nachteile entstehen als der Antragsgegnerin im Falle einer im Ergebnis unzutreffenden Stattgabe des Antrages. Insoweit stünde zu befürchten, dass das verfassungsrechtlich gewährleistete Existenzminimum der Antragsteller, das neben der Regelleistung auch eine angemessene Unterkunft umfasst, nicht gedeckt ist. Der Antragsteller zu 1. bewohnt eine 50 m² große Wohnung, wobei er die Antragsteller zu 2. und 3. zusammen mit deren Mutter in jeweils hälftigem Umfang betreut, so dass ein größerer Wohnraumbedarf gegeben ist, wie dies von der Antragsgegnerin auch nicht bestritten wird. Den Antragstellern ist nicht zuzumuten, in der wesentlich zu kleinen Wohnung bis zur Entscheidung des Hauptsacheverfahrens zu verbleiben. Vielmehr könnte im Falle des Abwartens der Hauptsacheentscheidung die sich daraus ergebende Verletzung einer grundgesetzlichen Gewährleistung - bei unterstelltem Obsiegen der Antragsteller - nicht durch eine nachträgliche Gewährung korrigiert werden. Für die Antragsteller ergäbe sich eine nachträglich nicht mehr zu schließende Rechtsschutzlücke. Demgegenüber sind die Nachteile für die Antragsgegnerin, sofern sich im Hauptsacheverfahren erweist, dass die einstweilige Anordnung zu Unrecht ergangen ist, deutlich weniger gravierend. Sollte sich nämlich ergeben, dass die einstweilige Anordnung von Anfang an ganz oder teilweise ungerechtfertigt war, sind die Antragsteller verpflichtet, der Antragsgegnerin den Schaden zu ersetzen, der ihr aus der Vollziehung der Anordnung entsteht (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 945 ZPO).

Abschließend verweist der Senat wegen aller weiteren Gesichtspunkte, insbesondere im Hinblick darauf, dass die einstweilige Verpflichtung des Leistungsträgers zur Erteilung einer Zusicherung i.S.d. § 22 Abs. 2 S. 1 SGB II im Wege der einstweiligen Anordnung erfolgen kann, zur sog. temporären Bedarfsgemeinschaft, zur Erforderlichkeit des Umzugs der Antragsteller sowie zur darlehensweisen Übernahme der Mietkaution von 560,00 EUR auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts und macht sich diese zu Eigen (§ 142 Abs. 2 S. 3 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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