S 20 SO 24/10

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 24/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch über Eingliederungshilfe in Form von Fachleistungsstunden im Rahmen ambulant betreuten Wohnens in der Zeit von März 2009 bis Februar 2010 und die Übernahme der dadurch entstandenen Kosten in Höhe von 7.335,30 EUR.

Der am 00.00.0000 geborene Kläger ist geschieden und lebt allein. Er hat zwei erwachsene Kinder. Er erlernte den Beruf eines Elektroinstallateurs; bis 2006 war er in verschiedenen Bereichen - teilweise selbstständig - erwerbstätig, zuletzt von 1995 bis 2006 als Baufacharbeiter. Seitdem ist er arbeitsunfähig bzw. arbeitslos. Vom 24.05. bis 21.06.2006 nahm er an einer stationären Rehabilitations-(Reha-)maßnahme in einer Klinik für Herz- und Kreislaufkrankheiten wegen Herzbeschwerden und Erschöpfung teil. In der Folgezeit stellten sich bei ihm Depressionen und eine Angststörung ein und entwickelte sich eine Persönlichkeitsstörung.

Am 04.03.2009 beantragte der Kläger beim Beklagten Eingliederungshilfe in Form von Fachleistungsstunden im Rahmen ambulant betreuten Wohnens durch die "Intregrationsgesellschaft O. mbH". Er legte hierzu einen individuellen Hilfeplan vor. Dieser listete Ziele des Klägers auf (u.a. die Wohnung bewohnbar machen und renovieren, in Rente gehen, sich Zuhause mit Kleinkunst beschäftigten, Kontakt zu den Kindern pflegen) und enthielt eine Stellungnahme des Fachdienstes O. (die Wohnung sei stark renovierungsbedürftig; vom handwerklichen Geschick sei der Kläger dazu in der Lage, nur bedürfe es der Motivation und Assistenz von außen; er sei unfähig, Strukturen zu schaffen, habe geringes Selbstvertrauen, sei antriebslos; die Grundversorgung bewältige er aber selbst). Der Fachdienst O. schätzte den Bedarf an Fachleistungsstunden für Motivation, Assistenz, Beratung, Einzeltraining, Anleitung etc. auf 2 1/3 Stunden pro Woche für die Dauer von zwölf Monaten. Des Weiteren waren dem Antrag eine ärztliche Bescheinigung des behandelnden Psychiaters und Psychotherapeuten P. vom 07.07.2009 beigefügt; dieser teilte mit, es liege eine wesentliche seelische Behinderung von Dauer vor; es bestehe begründete Aussicht, dass deren Folgen beseitigt oder gemindert werden könnten.

Der Beklagte holte eine fachliche Stellungnahme seines medizinisch-psychologischen Dienstes (MPD) ein. Dieser kam am 21.07.2009 zum Ergebnis, es liege keine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit vor; der Kläger sei grundsätzlich zur selbstständigen Lebensführung in der Lage; es liege ein depressives Störungsbild vor, das durch Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu behandeln sei.

Gestützt hierauf lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 10.08.2009 den Antrag ab. Er wies daraufhin, dass im Hinblick auf das angstbesetzte Vermeidungsverhalten eine Verhaltenstherapie sinnvoll sein könne. Den dagegen am 27.08.2009 eingelegten Widerspruch wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 17.02.2010 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 11.03.2010 Klage erhoben.

In der Zwischenzeit hatte der Kläger am 05.05.2009 bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Rheinland einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt. Nach Einholung eines Gutachtens durch den Internisten Dr. E. bewilligte die DRV Rheinland zunächst eine befristete Rente wegen Erwerbsminderung. Im anschließenden Widerspruchsverfahren erstellte die Neurologin und Psychiaterin Dr. S. am 18.02.2010 ein Gutachten; in diesem diagnostizierte sie eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung, einen Zustand nach chronischem Alkoholabusus und Drogenkonsum und äußerte den Verdacht auf ein hirnorganisches Psychosyndrom. Sie kam zum Ergebnis, dass das Leistungsvermögen des Klägers für Erwerbstätigkeiten unter drei Stunden täglich gesunken sei. Sie hielt Reha-Maßnahmen für wenig erfolgversprechend und hielt eine psychiatrische verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie für indiziert. Die DRV Rheinland bewilligte daraufhin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer ab 01.06.2009.

Das Gericht hat einen Befundbericht von dem den Kläger behandelnden Diplompsychologen und Psychiater P. vom 19.10.2010 eingeholt. Dieser hat Fähigkeiten und Beeinträchtigungen des Klägers zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beschrieben; er hat mitgeteilt, der Kläger schätze das betreute Wohnen für manche Gelegenheiten, z.B. bei Behördengängen, als wesentlich ein; er sehe es aber nicht als erforderlich an, dass er täglich Besuch vom Betreuer erhalte; wichtiger sei ihm vielmehr, dass der Betreuer Zeit finde, wenn er ihn brauche. Der Arzt P. ist abschließend zum Ergebnis gekommen, es könne nicht erwartet werden, dass der Kläger durch das betreute Wohnen wesentliche Reha-Fortschritte mache und etwa selbstständiger und angstfreier werde.

Der Kläger hat dargelegt, seine massivste Störung sei, dass er in allen Lebensbereichen und somit auch in seiner Wohnung unfähig sei, Strukturen zu schaffen; er habe Zukunftsängste, nur geringes Selbstvertrauen und sei antriebslos; um Isolation zu vermeiden sei er dringend auf Hilfe angewiesen. Er befinde sich in ärztlicher Behandlung, bedürfe aber darüber hinaus weiterer Hilfe, um sein Leben zu organisieren. Der Kläger meint, auch das von Dr. S. erstellte Rentengutachten stütze sein Klagebegehren; die Sachverständige komme zwar zum Ergebnis, dass eine Psychotherapie/Verhaltenstherapie indiziert sei, gehe aber auch davon aus, dass medizinische/berufliche Reha-Maßnahmen wenig erfolgversprechend erschienen. Der Kläger ist der Auffassung, allein die Durchführung einer Psychotherapie zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung können die bei ihm bestehenden Probleme nicht beseitigen. Die Aussage des Psychiaters P. im Befundbericht, es könne nicht erwarten werden, dass er durch das betreute Wohnen wesentliche Reha-Fortschritte mache, könne nur dahin verstanden werden, dass hierdurch die Schwere der Behinderung beschrieben, nicht aber eine negative Eingliederungshilfeprognose abgegeben werden sollte. Die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung könne nur das letzte Mittel sein; vielmehr sei darauf hinzuwirken, dass er sein Leben selbst bestimmend gestalten könne.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 10.08.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.02.2010 zu verurteilen, die Kosten der in der Zeit von März 2009 bis Februar 2010 erbrachten Fachleistungsstunden der Integrationsgesellschaft O. mbH im Rahmen ambulant betreuten Wohnens in Höhe von 7.335,30 EUR zu übernehmen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er wiederholt und vertieft seine Ausführungen aus dem Widerspruchsbescheid. Er bestreitet das Vorliegen einer wesentlichen seelischen Behinderung und einer wesentlichen Einschränkung der Teilhabefähigkeit. Er verweist auf den im Sozialhilferecht geltenden Nachranggrundsatz: Es seien Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung indiziert und möglich, für Behördengänge komme die Einrichtung einer Teilbetreuung in Betracht. Nicht jedem subjektiv noch so dringend erscheinenden Hilfebedarf sei zwingend mit Eingliederungshilfeleistungen in Form von Fachleistungsstunden im Rahmen ambulant betreuten Wohnens zu begegnen. Letztendlich fehle es an der Erforderlichkeit der Eingliederungshilfe.

Auf Anfrage des Gerichts hat die Integrationsgesellschaft O. mbH mitgeteilt, sie habe vom 01.03.2009 bis 28.02.2010 122,5 Fachleistungsstunden erbracht. Die Vergütung belaufe sich auf 59,88 EUR, insgesamt 7.335,30 EUR. Der Kläger hat bisher keine Zahlungen geleistet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Klägern betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten und des beigezogenen ärztlichen Teils der den Kläger betreffenden Rentenakte der DRV Rheinland, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Er hatte für den streitbefangenen Zeitraum von März 2009 bis Februar 2010 keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form von Fachleistungsstunden im Rahmen ambulant betreuten Wohnens und deshalb auch keinen Anspruch auf Übernahme der durch die Selbstbeschaffung der Leistung entstandenen Kosten in Höhe von 7.335,30 EUR.

Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) erhalten Personen, die durch eine Behinderung wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann (§ 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört u.a. insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern (§ 53 Abs. 3 SGB XII). Von einer Behinderung bedroht sind Personen, bei denen der Eintritt der Behinderung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Für Personen, für die Krankenhilfe erforderlich ist, gilt dies nur, wenn auch bei Durchführung dieser Leistungen eine Behinderung einzutreten droht (§ 53 Abs. 2 SGB XII). Wie für alle Leistungen der Sozialhilfe gilt auch für die Eingliederungshilfe der Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 SGB XI; danach erhält Sozialhilfe nicht, wer (u.a.) die erforderliche Leistung von Trägern anderer Sozialleistungen erhält bzw. erhalten kann. Nach diesen Vorgaben hatte der Kläger für den streitbefangenen Zeitraum keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe.

Er ist zwar seelisch und körperlich krank. Dies ergibt sich aus den von der DRV Rheinland im Rentenverfahren eingeholten Gutachten von Dr. E. und Dr. S., dem Reha-Entlassungsbericht über die im Jahre 2006 durchgeführte stationäre Reha-Maßnahme und den Berichten des behandelnden Arztes P ... Diese Ärzte haben neben Herz- und Blutdruckbeschwerden beim Kläger eine Persönlichkeitsveränderung, Ängste und Depressionen festgestellt. Diesen - zum Teil erheblichen - Krankheitsbildern ist jedoch vorrangig durch Krankenbehandlung, konkret: Psychotherapie/Verhaltenstherapie, zu begegnen. Dies hat nicht nur der MPD des Beklagten, sondern auch die Sachverständige Dr. S. im Rentengutachten vom 18.02.2010 erkannt. Die von ihnen gestellte Indikation einer psychiatrisch-verhaltenstherapeutischen Psychotherapie ist Krankenbehandlung, die in die Leistungszuständigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung fällt (vgl. § 27 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 1 SGB V). Von der Krankenbehandlung in Form von ärztlicher Behandlung einschließlich Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 SGB V) sind die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V) zu unterscheiden. Diese gehen, wie sich der Regelung des § 40 SGB V entnehmen lässt, der Krankenbehandlung nach; medizinische Reha-Leistungen werden nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nur erbracht, wenn ambulante Krankenbehandlung nicht ausreicht (§ 40 Abs. 1 Satz 1 SGB V).

Durch den Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 SGB XII und die bei speziell einer drohenden Behinderung geltende Regelung des § 53 Abs. 2 Satz 2 SGB XII ergibt sich auch für das Recht der Sozialhilfe nach dem SGB XII, dass Eingliederungshilfe nur gewährt wird, wenn Krankenbehandlung nicht ausreicht, das - deckungsgleiche - Ziel der Eingliederungshilfe zu erreichen. Die von den Trägern der Sozialhilfe zu erbringende Eingliederungshilfe ist eine Leistung der Rehabilitation (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 7 i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX). Die Neurologin und Psychiaterin Dr. S. hat aber in ihrem Rentengutachten festgestellt, dass Reha-Maßnahmen wenig erfolgversprechend sind; sie hat dies ausdrücklich für medizinische oder berufliche Reha-Maßnahmen festgestellt. Der den Kläger behandelnde Arzt P. hat in seinem Befundbericht vom 19.10.2010 speziell für die Reha-Leistung "Eingliederungshilfe" in Bezug auf den Kläger mitgeteilt, es könne "nicht erwarten werden, dass er durch das Betreute Wohnen wesentliche Rehabilitationsfortschritte macht und etwa selbstständiger oder angstfreier wird". Daraus folgt zur Überzeugung der Kammer, dass keine oder allenfalls nur geringe - nicht anspruchsbegründende - Aussicht bestanden hat, dass die Aufgabe der Reha-Leistung "Eingliederungshilfe" speziell durch die Fachleistungsstunden im Rahmen betreuten Wohnens erfüllt werden konnte. Da nach alledem die beantragte Eingliederungshilfe nicht erforderlich war, weil vorrangig Krankenbehandlung in Form von Psychotherapie/Verhaltenstherapie indiziert war, hat die Beklagte den Antrag zurecht abgelehnt und ist nicht verpflichtet, die Kosten der Integrationsgesellschaft O. mbH in Höhe von 7.335,30 EUR zu übernehmen, die dadurch entstanden sind, dass der Kläger sich die Leistung selbst beschafft hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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