L 18 AS 2267/10 B

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 87 AS 33363/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 2267/10 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. November 2010 aufgehoben. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:
I.

Die Beteiligten streiten um die Beschränkung der Akteneinsicht durch den Beklagten. In dem dem Streit zugrunde liegenden Hauptsacheverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Berlin wendet sich der Kläger gegen den Bescheid vom 29. Januar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. September 2009, mit welchem der Beklagte die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) versagt hat. Unter dem 3. Oktober 2009 hat der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, dagegen Klage erhoben und Einsicht in die Akten beantragt. Mit Schriftsatz vom 11. März 2010 hat der Beklagte auf die Klage erwidert, die Verwaltungsakte übersandt und folgendes mitgeteilt: "Die Akteneinsicht wird gemäß § 120 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hinsichtlich der Seiten Blatt 158 und 159 ausgeschlossen. Darüber hinaus wird die Akteneinsicht gestattet. Der Beklagte bittet das Gericht höflich darum, den Ausschluss der genannten Aktenteile bei der Akteneinsicht zu realisieren."

Unter dem 16. März 2010 hat das SG den Bevollmächtigten des Klägers über die Gestattung der Akteneinsicht durch Mitnahme in die Kanzleiräume für eine Woche informiert, soweit die beantragte Akteneinsicht nicht durch den Beklagten ausgeschlossen worden sei. Das SG hat zugleich darauf hingewiesen, dass eine Verwertung der ausgeschlossenen Aktenteile gemäß § 128 Abs. 2 SGG nicht erfolgen werde. Das SG hat Blatt 158 und 159 der Verwaltungsakte des Beklagten gesondert aufbewahrt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat daraufhin Akteneinsicht genommen und den Beklagten – zunächst außergerichtlich – aufgefordert, Einsicht in die ausgeschlossenen Aktenteile zu gewähren. Mit Schriftsatz vom 10. April 2010 hat der Kläger insoweit Leistungsklage gegen den Beklagten erhoben, die unter dem Verfahrenszeichen S 149 AS 12088/10-175 bei dem SG Berlin registriert wurde.

Unter dem 28. September 2010 hat der Kläger eine Entscheidung entsprechend § 99 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) beantragt. Die Einschränkung der Akteneinsicht durch den Beklagten sei rechtswidrig. Zwar sei im SGG ein Zwischenverfahren wie in § 99 Abs. 2 VwGO nicht vorgesehen, wegen der Garantie des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) müsse jedoch eine gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit bestehen. Überdies lägen die Gründe des § 119 Abs.1 SGG nicht vor, der Beklagte habe erkennbar auch keine Ermessensentscheidung getroffen. Die Erklärung der zuständigen obersten Aufsichtsbehörde iSd § 119 Abs. 1 SGG läge auch nicht vor. Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 15. November 2010 zurückgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Der Beklagte könne sich schon auf die Beschränkungsmöglichkeit des § 25 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) berufen. Die Akteneinsicht in die ausgeschlossenen Aktenteile sei vorliegend weder zur Geltendmachung von Ansprüchen noch zur Verteidigung des Klägers erforderlich. Auch sei der Akteninhalt für die entscheidungserheblichen Tatsachen nicht von Bedeutung. Überdies seien auch die Rechte Dritter zu schützen, insbesondere fiele der Inhalt der ausgeschlossenen Aktenteile unter das Sozialgeheimnis des § 35 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil - (SGB I).

Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen diesen Beschluss. Unter Vertiefung seines Vorbringens im Hauptsacheverfahren trägt er vor, eine vollständige Vorenthaltung der Aktenteile sei nicht rechtmäßig. Er verlange, von dem Inhalt, wenn schon nicht durch direkte Einsicht, auf andere Art und Weise in Kenntnis gesetzt zu werden. Überdies sei durch § 19 der Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) sichergestellt, dass der Kläger persönlich keine Einsicht in die (rechtmäßig) ausgeschlossenen Aktenteile erhalte.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 15. November 2010 zu verpflichten, ihm Kenntnis vom wesentlichen Inhalt der Blätter 158 und 159 der Leistungsakte in dem Verfahren S 87 AS 33363/09 zu geben.

Der Beklagte beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Eine oberste Aufsichtsbehörde iSd § 119 Abs. 1 SGG sei für den Beklagten nicht eingerichtet worden. Überdies sei die Beschwerde schon wegen mehrfacher Rechtshängigkeit unzulässig, da der Kläger auch Leistungsklage erhoben habe.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakten dieses und des Verfahrens S 149 AS 12088/10-175 (SG Berlin) haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere ist sie statthaft. Die Statthaftigkeit der Beschwerde ergibt sich einerseits aus § 172 Abs. 1 SGG sowie dem Umstand, dass es sich bei dem angefochtenen Beschluss des SG nicht um eine prozessleitende Verfügung iSd § 172 Abs. 2 SGG handelt. Letzteres schon deshalb nicht, weil sich das SG bei seiner Entscheidung auf die Norm des § 99 Abs. 2 VwGO berufen hat und das Gesetz in § 99 Abs. 2 Satz 13 VwGO grundsätzlich eine Beschwerde zulässt. Der Rückgriff auf eine im sozialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehene Entscheidungsmöglichkeit – hier nach § 99 Abs. 2 VwGO – darf nicht dazu führen, dass eine von dem Gesetzgeber gerade vorgesehene Überprüfung, etwa durch Verneinung der Anwendbarkeit der Norm durch das Rechtsmittelgericht, entfällt (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 18. April 1997 - L 8 Vg 403/97 – juris). Eine doppelte Rechtshängigkeit liegt nicht vor, weil der Kläger nur in dem hiesigen Verfahren mit der Entscheidung des SG vom 15. November 2010 belastet ist.

Die Beschwerde ist im Ergebnis jedoch nur im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses begründet. Das SG hätte den Antrag auf Einsicht in die durch den Beklagten von der Einsicht ausgeschlossenen Aktenteile Blatt 158 und 159 nicht durch Beschluss in entsprechender Anwendung des § 99 Abs. 2 VwGO zurückweisen dürfen. Zum einen sieht § 120 Abs. 1 SGG eine Entscheidung des SG durch Beschluss für den Fall der Beschränkung oder des Ausschlusses der Akteneinsicht nicht vor. Darüber hinaus sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 VwGO vorliegend schon deshalb nicht erfüllt, weil der Beklagte seiner Pflicht zur Aktenvorlage an das Gericht nachgekommen ist und die Vorlage der Akten iSd § 119 Abs. 1 SGG (bzw. § 99 Abs. 1 VwGO) nicht verweigert hat. Dem SG hat die Akte des Beklagten – soweit erkennbar – vollständig vorgelegen, insbesondere hat der Beklagte Blatt 158 und 159 dem Gericht vorgelegt. Das Verfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO bezieht sich demgegenüber auf die Frage, ob die auf Abs. 1 der Vorschrift gestützte Weigerung der Behörde, die Akten dem Gericht vorzulegen, berechtigt ist. Eine derartige Entscheidung ist durch das SG nicht getroffen worden. Die hier zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob der Beklagte das Recht zur Einsicht in seine Akten, die er dem Gericht zugeleitet hat, einschränken darf, wird von § 99 Abs. 1 VwGO nicht erfasst. Dies schon deshalb nicht, weil § 100 Abs. 1 VwGO eine Regelung zum Ausschluss oder zur Beschränkung der Akteneinsicht, wie sie § 120 Abs. 1 SGG vorsieht, nicht enthält. Das SG hat über die von dem Beklagten nach § 120 Abs. 1 SGG teilweise ausgeschlossene Akteneinsicht durch den Kläger und über das Recht des Beklagten nach § 25 SGB X entschieden, nicht aber, worauf § 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO die Entscheidungsbefugnis beschränkt, über die Frage der Berechtigung der verweigerten Aktenvorlage durch den Beklagten an das Gericht.

Für eine analoge Anwendung des § 99 Abs. 2 VwGO im sozialgerichtlichen Verfahren besteht jedenfalls dann kein Raum, wenn der Beklagte eine Beschränkung der Akteneinsicht nach § 120 Abs. 1 SGG vorgenommen hat. Das SGG gibt den Beteiligten kein unbeschränktes Recht auf Akteneinsicht. Einschränkungs- oder Beschränkungsmöglichkeiten eröffnet das Gesetz in § 120 Abs. 1 und Abs. 3 SGG. Die Einschränkung der Akteneinsicht steht nicht im Gegensatz zu dem Anspruch auf rechtliches Gehör (vgl. § 62 SGG), sondern ist im Fall der Beschränkung der Akteneinsicht durch § 128 Abs. 2 SGG geschützt (vgl. BSG, Beschluss vom 5. Juli 1956 - 1 RA 69/56 – juris). Die Beschränkung oder der Ausschluss der Akteneinsicht nach § 120 Abs. 1 SGG durch die Behörde bindet das Gericht grundsätzlich (vgl. BSG, Urteil vom 15. November 2007 - B 3 KR 13/07 R – juris). Der Einwand des Klägers dagegen, dass Art. 19 Abs. 4 GG eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Verweigerung der Behörde nach § 120 Abs. 1 SGG aufbieten müsste, verfängt in diesem Zusammenhang nicht, denn die Verletzung rechtlichen Gehörs nach § 62 SGG und ein Verstoß gegen § 128 Abs. 2 SGG können als Verfahrensfehler im Rahmen des Rechtsmittels gegen die Hauptsacheentscheidung gerügt werden, und zwar bis in die Revisionsinstanz (vgl. § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG und § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG). Im Übrigen stellt dies - verglichen mit dem Rechtsschutz gegen eine Entscheidung des SG nach § 99 Abs. 2 VwGO - die wesentlich effektivere Rechtsschutzmöglichkeit dar; denn Beschlüsse des Landessozialgerichts (LSG) können nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (vgl. § 177 SGG). Der Senat weist auch darauf hin, dass die Verwaltungsgerichte die Entscheidungen der sog "in camera"-Verfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO in der Hauptsache ähnlich wie einem Zwischenurteil zugrunde zu legen haben und im Verfahren um das Rechtsmittel gegen die Hauptsacheentscheidung die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichtes bzw. des Bundesverwaltungsgerichtes nach § 99 Abs. 2 VwGO nicht überprüfbar sind (BVerwGE 29, 72).

Im Übrigen hat der Senat über die Frage, ob dem Kläger bzw. seinem Prozessbevollmächtigten im Verfahren vor dem SG Einsicht in die von dem Beklagten vorgelegten Aktenbestandteile Blatt 158 und Blatt 159 der Leistungsakte zu gewähren ist, nicht zu entscheiden. Denn das SGG sieht eine Zuständigkeit des LSG für eine solche Entscheidung im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens nicht vor. Im SGG ist eine Regelung, wonach über die Gewährung von Akteneinsicht in Fällen der vorliegenden Art iSv § 120 Abs. 1 SGG durch Beschluss zu entscheiden ist, nicht enthalten. § 120 SGG sieht nur in Abs. 3 für den dort genannten Fall einer Versagung der Akteneinsicht durch den Vorsitzenden eine Entscheidung durch Beschluss vor, gegen die kraft der ausdrücklichen Bestimmung in § 120 Abs. 3 Satz 2 SGG eine Beschwerde nicht statthaft ist. Damit ist die Frage der Gewährung von Akteneinsicht im Hauptsacheverfahren vor dem SG einer Entscheidung durch den Senat entzogen. Dementsprechend ist der von dem Kläger im Beschwerdeverfahren gestellte Antrag auf Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung der Akteneinsicht hinsichtlich Blatt 158 und 159 zurückzuweisen.

Damit wird das SG in eigener Zuständigkeit zu entscheiden haben, ob es den Rechtsstreit gemäß § 114 Abs. 2 SGG bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die erhobene Leistungsklage in dem Verfahren S 149 AS 12088/10-175 aussetzt (vgl. zu deren Zulässigkeit Knittel in Hennig, SGG, § 120 Rdnr 13f; Zeihe, SGG, § 120 Rdnr 5a ff sowie Peters/Sautter/Wolff, SGG, § 120 Rdnr 67) oder unter Beachtung des § 128 Abs. 2 SGG eine Entscheidung in der Sache trifft.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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