B 1 KR 23/01 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 75 KR 43/98
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 125/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 23/01 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine behinderungsbedingt notwendige Hilfe beim Umkleiden ist von der Krankenkasse auch dann nicht zu gewähren wenn der Versicherte ohne diese Hilfe nicht in der Lage ist ein verordnetes Heilmittel in Anspruch zu nehmen.
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 25. Juli 2001 wird zurückgewiesen. Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Die Klägerin begehrt als Krankenversicherungsleistung eine Hilfe beim Be- und Entkleiden, damit sie ärztlich verordnete Bäder und Massagen durchführen lassen kann.

Die Klägerin ist durch eine chronische Polyarthritis und deren Folgen schwerstens behindert und seit ihrem 21. Lebensjahr auf einen Rollstuhl angewiesen. Nach einem Gutachten für die Pflegekasse der Beklagten müssen alle körperbezogenen Verrichtungen durch Dritte übernommen werden. Die Klägerin erhält Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und Pflegegeld nach Pflegestufe III. Von ihrem behandelnden Arzt bekommt sie regelmäßig Bewegungsbäder und Unterwasserstrahlmassagen verordnet, die sie nur dann in Anspruch nehmen kann, wenn ihr vorher und nachher für insgesamt etwa 45 Minuten insbesondere beim Aus- und Anziehen geholfen wird.

Bisher konnte die Klägerin die Anwendungen in einem Krankenhaus erhalten, in dem sie früher als Chefarztsekretärin gearbeitet hatte und in dem die fragliche Hilfe gewährleistet war. Weil sie befürchtete, dass dies in absehbarer Zeit nicht mehr möglich sein würde, bat sie im Mai 1997 die Beklagte, für eine entsprechende Unterstützung zu sorgen. Nach ihrer Mitteilung im Revisionsverfahren ist das Krankenhaus inzwischen geschlossen.

Nach Ablehnung seitens der Beklagten und erfolglosem Widerspruchsverfahren hat die Klägerin ihre bereits früher erhobene Untätigkeitsklage auf eine Anfechtungs- und Feststellungsklage umgestellt. Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben einen Anspruch verneint (Urteile vom 8. Oktober 1999 und vom 25. Juli 2001). Das LSG hat sich ebenso wie schon das SG auf den Standpunkt gestellt, dass das Gesetz nur den Anspruch auf Heilmittel vorsehe, aber keinen Anspruch auf eine Nebenleistung, die dazu diene, die Anwendung des Heilmittels zu ermöglichen. Insbesondere handle es sich weder um eine Soziotherapie nach § 37a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) noch um ärztliche Behandlung nach § 27, § 28 Abs 1 Satz 1 SGB V. Die Rechtsprechung zur Übernahme von Stromkosten für das Aufladen der Akkus eines Elektrorollstuhls (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 24) betreffe entgegen der Auffassung der Klägerin einen anderen Sachverhalt, weil die Stromkosten beim Gebrauch des Hilfsmittels selbst entstünden.

Die Revision rügt sinngemäß die Verletzung von § 32 SGB V. Ohne die Assistenz beim Ent- und Bekleiden könne die Klägerin die verordneten Heilmittel nicht in Anspruch nehmen. Bei derartigen unverzichtbaren Nebenleistungen sei der Begriff des Heilmittels entsprechend zu erweitern.

Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide zu verurteilen, die im Zusammenhang mit den verordneten Unterwasserstrahlmassagen und Bewegungsbädern notwendige Hilfe beim An- und Auskleiden sowie beim Duschen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass die aufgeworfene Rechtsfrage entsprechend der Ablehnung der Kosten für einen Gebärdendolmetscher bei hochgradig schwerhörigen Versicherten (BSGE 76, 109 = SozR 3-2500 § 28 Nr 1) und unter Beachtung der Zuordnung der fraglichen Verrichtungen zum Pflegebedarf iS der gesetzlichen Pflegeversicherung (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 9 S 60) zu beantworten sei.

II

Die Revision ist unbegründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die notwendige Assistenz bei den ihr verordneten Massagen und Bädern. Für eine Leistungspflicht der Beklagten fehlt es an einer Anspruchsgrundlage.

§ 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 und § 32 Abs 1 SGB V verpflichten die Krankenkassen zur Gewährung von Heilmitteln als Teil der Krankenbehandlung. Um eine derartige Leistung geht es jedoch nicht, da die Beklagte ihre Leistungspflicht für die der Klägerin ärztlich verordneten Massagen und Bäder anerkennt. Der Begriff des "Heilmittels" kann selbst bei großzügiger Auslegung nur die Behandlung als solche und nicht auch das vorher und nachher erforderliche Umkleiden umfassen. Insoweit gilt für das Umkleiden nichts anderes als für sonstige Vorkehrungen, um den Versicherten in die Lage zu versetzen, eine von der Krankenkasse geschuldete Behandlungsmaßnahme in Anspruch nehmen zu können: Weder der Transport zum Behandlungsort noch die Verständigung mit dem Therapeuten zB mittels eines Dolmetschers noch die notwendige Begleitung eines Kindes oder eines Behinderten kann begrifflich als Teil der dadurch ermöglichten Behandlung angesehen werden, sodass der Behandlungsanspruch automatisch die Zusatzleistung mit umfassen würde. Vielmehr bedarf es gemäß § 31 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) eigener Vorschriften, um die Leistungspflicht auf den eventuell zusätzlich notwendigen Aufwand für die tatsächliche Inanspruchnahme der Behandlung auszudehnen. Deshalb regelt § 60 SGB V den Anspruch auf Krankentransport und § 11 Abs 3 SGB V die Mitaufnahme einer Begleitperson bei stationärer Behandlung des Versicherten; ohne diese Vorschriften dürften die fraglichen Leistungen nicht gewährt werden, auch wenn die Durchführung der dem Versicherten zustehenden Behandlung dann unmöglich wäre. Dies hat der Senat für den Fall des Gebärdendolmetschers entschieden und ausgeführt, dass darin keine Gesetzeslücke zu erblicken sei (BSGE 76, 109, 112 = SozR 3-2500 § 28 Nr 1 S 4). An dieser Auffassung hält der Senat fest. Es sind auch keine Gründe ersichtlich, die beim Umkleiden und Duschen im Zusammenhang mit medizinischen Bädern und Massagen eine andere Beurteilung rechtfertigen würden.

Da die im Falle der Klägerin erforderlichen Hilfeleistungen demnach nicht als Teil der Hauptleistung geschuldet sind, bedürfte es einer eigenen Anspruchsnorm, um der Revision zum Erfolg zu verhelfen. Eine einschlägige Vorschrift wird weder von der Revision genannt noch ist eine solche vorhanden. Vielmehr ergibt sich aus den bestehenden Bestimmungen, dass die notwendige Unterstützung bei der Inanspruchnahme einer Behandlungsmaßnahme in Fallgestaltungen wie bei der Klägerin nicht zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung gehört.

Dass § 37a SGB V den Anspruch der Klägerin nicht stützt, hat bereits das LSG zutreffend ausgeführt; neue Gesichtspunkte hierzu sind im Revisionsverfahren nicht erkennbar. § 37 Abs 1 Satz 1 SGB V räumt dem Versicherten neben der ärztlichen Behandlung einen Anspruch auf häusliche Krankenpflege durch geeignete Pflegekräfte ein, wenn Krankenhausbehandlung geboten, aber nicht ausführbar ist, oder wenn sie durch die häusliche Krankenpflege vermieden oder verkürzt wird. Nach Satz 2 der Vorschrift umfasst die häusliche Krankenpflege die im Einzelfall erforderliche Grund- und Behandlungspflege sowie hauswirtschaftliche Versorgung. Abgesehen davon, dass es bei der Klägerin nicht darum geht, Krankenhausbehandlung zu ersetzen oder zu vermeiden, liegt ein Fall nach § 37 Abs 1 SGB V schon deshalb nicht vor, weil die dort geregelten Ansprüche nach der Rechtsprechung nur in Betracht kommen, wenn ein vorübergehender Pflegebedarf zu befriedigen ist (BSGE 83, 254, 260 = SozR 3-2500 § 37 Nr 1 S 7 f). Zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung muss die Krankenkasse nach § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V jedoch auch in anderen Fällen im Haushalt des Versicherten oder in seiner Familie Behandlungspflege als häusliche Krankenpflege gewähren. Ein insoweit ebenfalls möglicher satzungsrechtlicher Anspruch auf Grundpflege ist durch Satz 4 der Vorschrift ausgeschlossen, wenn - wie bei der Klägerin - Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) besteht. Nach diesen Bestimmungen hängt die Beurteilung des Anspruchs der Klägerin davon ab, ob die von ihr benötigten Hilfeleistungen der "Behandlungspflege als häuslicher Krankenpflege im Haushalt oder in der Familie" zugeordnet werden können.

Das ist nicht der Fall. Dabei braucht der Senat die Grenzen des Begriffs der häuslichen Krankenpflege nicht abschließend zu klären. Nach der Rechtsprechung ist der Anspruch auf häusliche Krankenpflege nicht räumlich auf den Haushalt des Versicherten oder den seiner Familie begrenzt und schließt medizinisch erforderliche Maßnahmen, die bei vorübergehenden Aufenthalten außerhalb der Familienwohnung anfallen, dann nicht aus, wenn sich der Versicherte ansonsten ständig in seinem Haushalt bzw in seiner Familie aufhält und dort seinen Lebensmittelpunkt hat; deshalb hat das Bundessozialgericht (BSG) den Anspruch eines minderjährigen Diabetikers bejaht, dem während des täglichen Schulbesuchs regelmäßige und zeitgenaue Insulininjektionen verabreicht werden müssen, die von den Eltern wegen ganztägiger Berufstätigkeit nicht sichergestellt werden können (BSG SozR 3-2500 § 37 Nr 5, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen). Während beim geschilderten Sachverhalt der Pflegebedarf ohne medizinischen Anlass außerhalb der Familienwohnung "anfällt", ist die Situation der Klägerin dadurch gekennzeichnet, dass sie sich gerade zum Zwecke der Behandlung außer Haus begeben muss. Von daher wird ihr Fall von der in der Rechtsprechung entwickelten Umschreibung nicht erfasst. Allerdings hat das BSG der Entstehungsgeschichte des § 37 SGB V ein Argument für ein erweitertes Verständnis des Begriffs der häuslichen Krankenpflege entnommen, das auch für die Klägerin gelten würde: Danach ging es dem Gesetzgeber vor allem um die Unterscheidung zur stationären Versorgung, in der die fraglichen Pflegemaßnahmen enthalten seien, sodass es insoweit einer Leistungspflicht der Krankenkasse nicht bedürfe (BSG aaO unter Hinweis auf BT-Drucks 11/7343 S 1 zu § 37 SGB V und auf die Fassungen von § 185 der Reichsversicherungsordnung aus den Jahren 1911 und 1977).

Letztlich können die dadurch begründeten Zweifel offen bleiben, denn die von der Klägerin benötigte Assistenz kann nicht dem Begriff der "Behandlungspflege" zugeordnet werden, wie es für einen Anspruch nach § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V erforderlich wäre. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG gehören zur Behandlungspflege alle Pflegemaßnahmen, die durch eine bestimmte Erkrankung verursacht werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern (vgl BSGE 89, 50, 52 = SozR 3-3300 § 12 Nr 1 S 3 für künstliche Beatmung; BSGE 82, 27, 30 f = SozR 3-3300 § 14 Nr 2 S 4 f für Insulininjektionen). Wenn die Hilfeleistung mit einer der in § 14 Abs 4 SGB XI genannten Verrichtungen der Grundpflege untrennbar verbunden ist oder im engen zeitlichen Zusammenhang mit einer Verrichtung durchgeführt werden muss, erhöht sie jedoch den Bedarf an Grundpflege iS von § 15 Abs 3 SGB XI (verneint bei der Reinigung der Atemwege: BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 11 S 80 mwN; bejaht bei besonderen Bädern mit anschließender Hautbehandlung wegen Neurodermitis: BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 9 S 60 f). Die Begleitung eines Pflegebedürftigen zum Arzt, weil jener dabei nicht alleine gelassen werden kann, gehört nach diesen Maßstäben unter dem Gesichtspunkt des Verlassens der Wohnung zwecks Aufrechterhaltung der Lebensführung zur Grundpflege (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 6 S 38). Auch das An- und Ausziehen von ärztlich verordneten Stützstrümpfen ist zwar Teil der ärztlichen Therapie, muss aber trotzdem der Grundpflege zugerechnet werden, weil es objektiv mit einer der Katalogverrichtungen des § 14 Abs 4 SGB XI zusammenhängt (BSG SozR 3-2500 § 37 Nr 3 S 25). Andererseits ist die Begleitung auf ärztlich empfohlenen Spaziergängen, die sich ebenfalls als Teil der ärztlichen Therapie darstellen, als Behandlungspflege anzusehen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 16 S 102 f).

Da es der Klägerin um eine Hilfeleistung beim An- und Ausziehen sowie beim Duschen geht und es sich dabei um Katalogverrichtungen handelt, ist eine Zuordnung zur Behandlungspflege nach den von der Rechtsprechung entwickelten Maßstäben ausgeschlossen. Die Hilfeleistung ist zwar wegen einer Behandlungsmaßnahme notwendig, sie ist aber nicht selbst Teil der Behandlung wie beim An- und Ausziehen von Stützstrümpfen oder beim ärztlich verordneten Spaziergang, denn sie zielt nicht auf die Besserung des Gesundheitszustands, die erst mit dem dadurch ermöglichten Bewegungsbad bzw der Druckstrahlbehandlung angestrebt wird. Selbst wenn ein besonders enger Zusammenhang mit den eigentlichen Therapiemaßnahmen unterstellt würde, wäre kein Raum für die Annahme von Behandlungspflege; vielmehr würde ein solcher Zusammenhang lediglich dazu führen, dass mit Rücksicht auf die Katalogverrichtung insgesamt von einer Maßnahme der Grundpflege auszugehen wäre (vgl nochmals BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 9 S 60 f: Baden mit Hautpflege; BSG SozR 3-2500 § 37 Nr 3 S 25: Stützstrümpfe). Dabei braucht nicht erörtert zu werden, ob insoweit allein an die Katalogverrichtungen An- und Ausziehen und Duschen oder - weil die Inanspruchnahme eines zu Hause nicht verfügbaren Heilmittels ähnlich wie ein Arztbesuch zu behandeln sein könnte - an die Verrichtung des Verlassens und Wiederaufsuchens der Wohnung anzuknüpfen wäre (vgl BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 6 S 38).

Da die Klägerin keine Behandlungspflege begehrt, ist die beklagte Krankenkasse nicht leistungspflichtig. Ein eventueller Grundpflegebedarf wäre von der Pflegekasse abzudecken, die jedoch bereits Pflegegeld nach der Pflegestufe III erbringt; mit dessen Inanspruchnahme hat es die Klägerin übernommen, die notwendigen Grundpflegeleistungen selbst sicherzustellen (vgl § 37 Abs 1 Satz 2 SGB XI). Das LSG hat die Berufung der Klägerin zu Recht zurückgewiesen, sodass auch die Revision keinen Erfolg haben kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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