S 8 KR 321/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 8 KR 321/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 27/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Bemerkung
Berufung erledigt durch Zurücknahme
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 03.08.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2004 verurteilt, die Versorgung der Klägerin mit dem Arzneimittel Helixor A sicherzustellen und die verauslagten Kosten in Höhe von 183,70 Euro zu erstatten. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin werden der Beklagten auferlegt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Frage der Versorgung der Klägerin mit dem nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel und Mistel-Präparat Helixor A.

Bei der Klägerin wurde im September 2003 ein Mammakarzinom diagnostiziert, das von Oktober bis Dezember 2003 mittels Chemotherapie behandelt und im Januar 2004 operiert wurde. Es schloss sich eine weitere Chemotherapie in den Monaten Februar bis April 2004 und ab Juni 2004 eine Bestrahlungstherapie an. Im September 2004 wurde eine Metastase operativ entfernt und anschließend zunächst keine Tumormasse nachgewiesen, bis Ende Februar 2005 erneut Metastasen in der Lunge diagnostiziert wurden, die mittels Chemotherapie behandelt werden sollen. Bereits unmittelbar nach der Behandlung des Mammakarzinoms zählte die Klägerin aufgrund ihres geringen Alters, der Differenzierung des Tumors, der negativen Hormonrezeptoren und einem Lymphknotenbefall bezüglich eines Rezidivs zu den Hochrisikopatientinnen. Der behandelnde Onkologe H verschrieb ihr bis Februar 2004 das nicht verschreibungspflichtige, anthroposophische Arzneimittel Helixor A auf Kassenrezept. Nach dem Inkrafttreten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes zum 01.01.2004 und der Arzneimittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) in der Fassung vom 16.03.2004 (AMR) wies die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KV-WL) die ihr angehörenden Ärzte an, Mistel-Präparate nur zur palliativen Therapie von maglignen Tumoren zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung zu verordnen. Aufgrund dieser Anweisung sah bzw. sieht sich der behandelnde Onkologe nur noch in der Lage, der Klägerin das begehrte Arzneimittel auf Privatrezept zu verordnen.

Den an die Beklagte gerichteten Antrag auf Übernahme der Kosten für die Versorgung mit dem Arzneimittel Helixor A hat diese mit Bescheid vom 03.08.2004 und Widerspruchsbescheid vom 21.09.2004 mit der Begründung abgelehnt, dass nach den geltenden Bestimmungen Mistel-Präparate bei malignen Tumoren nur noch im Rahmen der palliativen Therapie verordnet werden dürften.

Die Klägerin hat Klage mit dem Begehren erhoben, dass die Beklagte zur Versorgung mit dem Arzneimittel Helixor A verpflichtet werden soll. Aufgrund der bei ihr bestehenden behandelten Karzinomerkrankung mit einem hohen Rezidivrisiko bestehe für sie eine lebensbedrohende Situation, die entsprechend den ärztlichen Therapiemaßnahmen zu behandeln sei, auch wenn es sich nicht um eine palliative Therapie handele. Denn die Ziffer 16.5 i. V. m. 16.4.27 AMR erlaube die Verordnung nicht verschreibungspflichtiger anthroposophischer Arzneimittel zur Behandlung von malignen Tumoren unabhängig davon, ob sie zur palliativen Therapie eingesetzt werden. Die in Ziffer 16.5 AMR erfolgte Bezugnahme auf das "Indikationsgebiet" betreffe lediglich die in Ziffer 16.4.27 AMR aufgeführte Indikation "von malignen Tumoren", dagegen nicht die Art und Weise der Therapie ("palliative Therapie"). Auch das Bundesminsterium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) habe in verschiedenen Schreiben klargestellt, dass anthroposophische Arzneimittel auch außerhalb der palliativen Therapie zu Lasten der Krankenversicherung verordnet werden könnten.

Die Klägerin hat sich seit Juli 2004 während des Verwaltungs-, Widerspruchs-, und Klageverfahrens jeweils mit privatärztlicher Verordnung das Arzneimittel Helixor A gegen Zahlung eines Betrages in Höhe von insgesamt 183,70 Euro selbst besorgt.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.08.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.09.2004 zu verurteilen, die Versorgung der Klägerin mit dem Arzneimittel Helixor A sicherzustellen und verauslagte Kosten in Höhe von 183,70 Euro zu erstatten,

hilfsweise, die Sprungrevision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Eine Verwerfungskompetenz hinsichtlich der AMR liege lediglich beim Gericht.

Das Gericht hat die das einstweilige Rechtsschutzverfahren betreffende Vorprozessakte S 8 KR 261/04 ER mit Auskünften bzw. Stellungnahmen der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland, des Gemeinsamen Bundesausschusses und des BMGS beigezogen. Zur weiteren Sachdarstellung wird auf den Inhalt der Vorprozessakte, die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig.

Der Klägerin stand bzw. steht ein Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Helixor A zu, §§ 27, 31 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V).

Das umstrittene Arzneimittel war nicht gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen, da es gemäß den AMR in der Fassung vom 16.03.2004 vom Vertragsarzt ausnahmsweise verordnet werden kann. Entgegen der Ansicht der Beklagten kann das nicht verschreibungspflichtige anthroposophische Mistel-Präparat gemäß Ziffer 16.5 i. V. m. 16.4.27 AMR vorliegend zur Behandlung des malignen Tumors eingesetzt werden, auch wenn es nicht im Rahmen einer palliativen Therapie erfolgt.

Die Kammer ist unter Berücksichtigung der ärztlichen Unterlagen des behandelnden Onkologen und seiner telefonischen Auskunft vom 28.02.2005 davon ausgegangen, dass ein maligner Tumor während der Behandlungszeit vorlag bzw. vorliegt. Denn wie die im September 2004 und am 25.02.2005 diagnostizierten Metastasen zeigen, haben seit September 2003 ein maligner Tumor bzw. später (okkulte) Metastasen vorgelegen.

Der Wortlaut der Ziffer 16.5 AMR mit dem dort verwandten Begriff "Indikationsgebiete" lässt keinen eindeutigen Rückschluss darauf zu, ob diese Verweisung nur auf die im Abschnitt F aufgeführten Krankheitsbegriffe im Sinne von Diagnosen erfolgt oder auch weitere Anspruchsvoraussetzungen - wie vorliegend die Verwendung zur palliativen Therapie - umfasst. Für die enge Auslegung dieses Begriffes, wie sie die Klägerin und das BMGS vertreten, spricht die von der Klägerin zitierte kommentierende Literatur (Kloesel/ Cyran, Arzneimittelrecht Bd. I, § 11 Arzneimittelgesetz, Anm. 27.), die unter dem Begriff Anwendungsgebiet oder Indikation insbesondere die körperlichen und seelischen Zustände bezeichnet, die durch das Arzneimittel beeinflusst werden sollen. Für die enge Auslegung spricht zudem die weitere Formulierung der Ziffer 16.5 ARM, in der das Vorliegen einer "schwerwiegenden Erkrankung" als ausdrückliche Voraussetzung formuliert wird. Diese Wiederholung wäre nicht erforderlich gewesen, wenn die kassenärztliche Verwendung des Arzneimittels bereits nur zur palliativen Therapie erlaubt wäre. Für die weitere Auslegung dieses Begriffs im Sinne der Beklagten und des Gemeinsamen Bundesausschusses spricht der Umstand, dass offensichtlich die Zulassungspraxis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die palliative Therapie als Kriterium des Anwendungsgebiets behandelt. Dies ergibt sich aus der Fachinformation zum Arzneimittel Lektinol (Anlage zur Auskunft der KV-WL in S 8 KR 261/04 ER), in der als Anwendungsgebiet die palliativ Therapie bei malignen Tumoren aufgeführt ist. Dementsprechend ist offensichtlich auch im Zulassungsstatus zur Folinsäure bzw. Folinsäuresalzen zwischen einer Anwendung in der adjuvanten und palliativen Therapie unterschieden worden(vgl. Beschlussbegründung des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 15.06.2004 zur Änderung der Nr. 16.4.16 des Abschnitts F der AMR).

Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben des § 34 Abs. 1 SGB V, die ihren Niederschlag auch in Ziffer 16.1 AMR gefunden haben, kann die Verweisung in Ziffer 16.5 i. V. m. 16.4.27 AMR nur dahingehend ausgelegt werden, dass sie sich auf die Gesundheitsstörung "maligner Tumor", dagegen nicht auf die palliative Behandlung bezieht. Denn der Gesetzgeber hat in § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V festgelegt, dass ausnahmsweise nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten, verordnet werden können und der Gemeinsame Bundesausschuss diese verschreibungspflichtigen Arzneimittel in den AMR festlegt. So ist der Gesetzgeber auch ausweislich der Gesetzesbegründung davon ausgegangen, dass dem Gemeinsamen Bundesausschuss insoweit kein "Ermessensspielraum" zukommt, sondern dass er Fertigarzneimittel in die Richtlinien aufnimmt, "sofern diese unverzichtbar über Standardwirkstoffe für die Behandlung schwerwiegender Erkrankungen z. B. für die Onkologie, für die Nachsorge nach Herzinfarkt, zur Behandlung des Klimakteriums enthalten" (BT-Drucks. 15/1525 S. 86). Daraus ergibt sich, dass nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel in die AMR aufzunehmen sind, wenn sie die beiden Voraussetzungen "schwerwiegende Erkrankung" und "Therapiestandard" erfüllen. Dies ist vorliegend der Fall. Das Vorliegen eines Karzinoms bzw. von Metastasen stellt - wie auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist - eine schwerwiegende Erkrankung dar. Wie sich aus den Ausführungen des Gemeinsamen Bundesausschusses in seiner Stellungnahme vom 28.10.2004 ergibt, ist der Zusatz "nur in der palliativen Therapie" in Ziffer 16.4.27 AMR auch nicht aufgenommen worden, um lediglich maligne Tumore (im Endstadium) als schwerwiegende Erkrankung aufzuführen, sondern unter Berücksichtigung der entsprechenden arzneimittelrechtlichen Zulassungsbeschränkung und damit unter dem Aspekt des Therapiestandards. Des Weiteren ist auch die Voraussetzung des Therapiestandards erfüllt. Dies ergibt sich einerseits aus dem Anwendungsgebiet des Arzneimittels Helixor, das im Rahmen der Zulassung keine Einschränkung auf die bloß palliative Therapie von Geschwulsterkrankungen erhalten hat (vgl. Fachinformation, Anlage ASt 3 zur Antragsschrift vom 11.08.2004 in S 8 KR 261/04 ER). Des Weiteren hat die Auskunft der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland vom 21.09.2004 (Blatt 49 der Vorprozessakte S 8 KR 261/04 ER) ergeben, dass vorliegend die adjuvante Mistel-Therapie mit einem standardisierten Gesamtextrakt, wie es Helixor A darstellt, zur anthroposophischen Standardtherapie bei dieser Erkrankung gehört.

Allein diese Auslegung entspricht auch der gesetzlichen Vorgabe, dass der therapeutischen Vielfalt Rechnung zu tragen ist (§ 34 Abs. 1 Satz 3 SGB V). Denn entgegen dem Standpunkt des Gemeinsamen Bundesausschusses führt eine Einschränkung des Anwendungsgebietes eines anthroposophischen Arzneimittels (hier: Anwendung bei allen Geschwulsterkrankungen) auf das eingeschränkte Zulassungsgebiet der schulmedizinischen Mistel-Präparate (nur in der palliativen Therapie) zu einer zulassungswidersprechenden Einschränkung des anthroposophischen Anwendungsgebietes. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass schulmedizinische und anthroposophische Mistel-Präparate hinsichtlich des Anwendungsgebietes gleich behandelt würden. Denn nach dem Willen des Gesetzgebers ist bei der Festlegung der Verordnungsfähigkeit anthroposophischer Arzneimittel diese Therapierichtung nicht nur "nicht ausgeschlossen" (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V), sondern darüber hinaus im positiven Sinne der therapeutischen Vielfalt Rechnung zu tragen (§ 34 Abs. 1 Satz 3 SGB V).

Es kann dahingestellt bleiben, ob bereits der Standpunkt des BMGS unter Berücksichtigung seines Beanstandungsrechtes gemäß § 94 Abs. 1 SGB V zu einer Auslegung der Richtlinien im Sinne der Klägerin zwingt.

Es kann des Weiteren dahingestellt bleiben, ob unter Berücksichtigung der Ausführungen des Bundessozialgerichts im Urteil vom 23.03.1988 - 3/8 RK 11/85 - von einer Verordnungsfähigkeit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausnahmsweise auszugehen ist, wenn die Anschaffung nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel unter Berücksichtigung der Höhe der Anschaffungskosten nicht mehr zumutbar ist. Dafür könnte sprechen, dass der Gesetzgeber beim Ausschluss verschreibungspflichtiger Arzneimittel davon ausgegangen ist, dass es sich in der Regel um Arzneimittel im unteren Preisbereich von durchschnittlich weniger als 11,00 Euro je Packung ausgegangen ist (BT-Drucks. 15/1525 S. 86). Vorliegend kämen auf die Klägerin bei einer durchgehenden Verordnung des Mistel-Präparates durchaus höhere Kosten, nämlich in Höhe von mindestens ca. 70,00 Euro monatlich, zu.

Der Kostenerstattungsanspruch für die in der Vergangenheit selbst beschafften Packungseinheiten Helixor A folgt aus § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die Zulassung der Sprungrevision hat das Gericht nicht für sachdienlich gehalt.
Rechtskraft
Aus
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