L 10 B 429/05 AS ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 13 AS 167/05 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 10 B 429/05 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Auf die Beschwerde wird der Beschluss des Sozialgerichts Nürnberg vom 06.07.2005 aufgehoben und der Antrag abgelehnt.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Höhe der Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die 1958 geborene arbeitlose Antragstellerin (ASt) zu 1. bewohnt mit ihrem 1984 geborenen Sohn, dem arbeitslosen ASt zu 2., eine 106 m² große 4-Zimmer-Wohnung in T. , für die sie eine Kaltmiete von 403,92 EUR zu zahlen haben. Lt. einer Nebenkostenabrechnung betreffend das Jahr 2003 sind zusätzlich für Heizung 81,80 EUR und sonstige Nebenkosten (ohne Warmwasser) 56,67 EUR monatlich, insgesamt somit 542,39 EUR, aufzubringen.

Für die Zeit vom 01.01.2005 bis 30.06.2005 bewilligte die Antragsgegnerin (Ag) Arbeitslosengeld II unter Berücksichtigung von Unterkunfts- und Heizungskosten bei jedem der beiden ASt in Höhe von 271,20 EUR.

Mit Schreiben vom 21.02.2005 informierte die Ag die ASt, dass ab 01.07.2005 nur noch die Kosten für eine angemessene Wohnung (Wohnungsgröße bei einem 2-Personen-Haushalt: 60 m²; Miete inkl. Nebenkosten 304,00 EUR; Heizungskosten bis 60,00 EUR) berücksichtigt werden würden. Hiergegen legten die ASt Widersprüche ein, die mit bestandskräftigen Widerspruchsbescheiden vom 10.05.2005 zurückgewiesen wurden.

Auf Antrag der ASt bewilligte die Ag mit Bescheiden vom 03.06.2005 Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 01.07.2005 bis 31.12.2005. Dabei berücksichtigte sie als Unterkunftskosten bei jedem der ASt jeweils 182,00 EUR (364,00 EUR: 2) und wies darauf hin, dass Heizungs- und Nebenkosten erst nach erfolgter Nebenkostenabrechnung exakt berechnet werden könnten. Gegen diese Bescheide legten die ASt Widersprüche ein, über die derzeit noch nicht entschieden ist.

Am 09.06.2005 haben die ASt beim Sozialgericht Nürnberg (SG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel beantragt, die Ag zu verpflichten, über den 30.06.2005 hinaus bis zur endgültigen Entscheidung in der Hauptsache Unterkunftskosten in Höhe jeweils 271,20 EUR zu zahlen. Es bestehe keine Bedarfsgemeinschaft, sondern lediglich eine Haushaltsgemeinschaft zwischen den beiden ASt. Jedem der beiden ASt stünden Unterkunfts- und Heizungskosten für einen 1-Personen-Haushalt (45 m², 252,00 EUR inkl. Nebenkosten und 45,00 EUR Heizkosten) zu, so dass die bislang berücksichtigte Miethälfte (271,20 EUR) noch darunter liege.

Mit Beschluss vom 06.07.2005 hat das SG die Ag verpflichtet, über den 30.06.2005 hinaus Unterkunftskosten in Höhe von je 271,20 EUR zu zahlen. In § 22 Abs 1 SGB II sei auf die Bedarfsgemeinschaft bezüglich der Angemessenheit der Wohnungsgröße abzustellen. Beim Zusammenleben zweier volljähriger Hilfebedürftiger, die keine Bedarfsgemeinschaft bildeten, sei aber davon auszugehen, dass jeder einen 1-Personen-Haushalt führen könne und ihm daher Unterkunfts- und Heizungskosten nach den örtlichen Berechnungsgrundlagen in Höhe jeweils 297,00 EUR zustehen würde. Dieser Betrag werde durch die von den ASt begehrten Leistungen (271,20 EUR) nicht überschritten. Ein Anordnungsgrund sei in der ansonsten nicht mehr gewährleisteten Sicherung des Lebensunterhaltes zu sehen.

Hiergegen hat die Ag Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt und sinngemäß beantragt, den Beschluss des SG aufzuheben. Bei den Unterkunfts- und Heizungskosten sei vom Bedarf eines 2-Personen-Haushaltes auszugehen, wobei wesentlich geringere Kosten als bei Führung zweier 1-Personen-Haushalte entstünden. Es sei von den tatsächlichen Verhältnissen auszugehen, also vom Bestehen eines 2-Personen-Haushaltes. Allein hiernach sei der Unterkunftsbedarf zu bestimmen. Ansonsten käme es zu einer Benachteiligung von Bedarfsgemeinschaften, insbesondere von Familien mit Kindern.

Die ASt haben ausgeführt, allein die Mietkosten würden durch das Zusammenleben reduziert werden. Ein gemeinsamer Haushalt bestehe nicht, es liege lediglich eine Wohngemeinschaft vor.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Ag sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist zulässig. Das SG hat ihr nicht abgeholfen (§ 174 SGG). Die Beschwerde ist auch begründet. Der Beschluss des SG ist aufzuheben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist abzulehnen.

Gemäß § 86b Abs 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Das ist dann der Fall, wenn dem ASt ohne eine solche Anordnung schwere oder unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfGE 79, 69; BVerfGE 46, 166; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 4.Auflage, Rdnr 643).

Eine solche Regelungsanordnung setzt sowohl einen Anordnungsgrund (Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, weil ein Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist), als auch einen Anordnungsanspruch (materielles Recht, für das einstweiliger Rechtsschutz geltend gemacht wird) voraus, wobei zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch eine Wechselbeziehung besteht. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu. In diesem Fall ist unter Berücksichtigung der Interessen der ASt einerseits sowie der öffentlichen Interessen oder Interessen anderer Personen andererseits zu prüfen, ob es den ASt zuzumuten ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten.

Anordnungsanspruch und -grund sind vom ASt glaubhaft zu machen (§§ 86b Abs 2 Satz 2 SGG, 920 Abs 2, 294 Zivilprozessordnung).

Vorliegend fehlt es bereits an einem Anordnungsgrund. Gemäß § 22 Abs 1 SGB II werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, sind sie als Bedarf des alleinstehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft solange zu berücksichtigen, wie es dem alleinstehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, i.d.R. jedoch längstens für 6 Monate.

Die Ag hat für 6 Monate die tatsächlichen Unterkunfts- und Heizungskosten für die 4-Zimmer-Wohnung übernommen und mit Schreiben vom 21.02.2005 die ASt auf die Unangemessenheit dieser Wohnung sowie auf die sich hieraus ergebenden Konsequenzen (Berücksichtigung lediglich der jeweils hälftigen Kosten für einen 2-Personen-Haushalt) hingewiesen. Offen gelassen werden kann vorliegend, ob es sich bei diesen Schreiben um Verwaltungsakte gehandelt hat, gegen die der Rechtsbehelf des Widerspruchs zulässigerweise eingelegt werden kann. Die Ag hat den Widerspruch - versehen mit einer materiell-rechtlichen Begründung - zurückgewiesen. Die Schreiben vom 21.02.2005 und Widerspruchsbescheide vom 10.05.2005, gegen die nicht Klage erhoben worden ist und die damit den Erlass einer einstweiligen Anordnung am 06.07.2005 nicht gerechtfertigt hätten, sind nämlich durch die Bewilligungsbescheide vom 03.06.2005 überholt bzw. gegenstandslos geworden. Mit den Bescheiden vom 03.06.2005 - eine Entscheidung über die hiergegen eingelegten Widersprüche steht noch aus - hat die Ag den Anspruch der ASt, über den sie mit Schreiben vom 21.02.2005 lediglich informierte, endgültig, wenn auch anfechtbar, für die Zeit ab 01.07.2005 geregelt. Allein wegen des gegen diese Bescheide laufenden Widerspruchsverfahrens ist das Rechtsschutzbedürfnis für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegeben. Lägen hingegen allein bestandskräftige Bescheide vor, so bestünde für eine solche Anordnung kein Raum mehr.

Die Frage der Angemessenheit der Wohnung ist vorliegend unter Berücksichtigung des tatsächlich bestehenden 2-Personen-Haushaltes zu prüfen. Nicht abzustellen ist, wie es das SG getan hat, auf den fiktiven Bedarf zweier 1-Personen-Haushalte, denn allein der tatsächliche Bedarf der von den ASt frei gewählten Lebensform des 2-Personen-Haushaltes ist maßgebend. Laut § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II werden Leistungen für die Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Tatsächliche Aufwendungen entstehen vorliegend für einen 2-Personen-Haushalt, denn das Arbeitslosengeld II soll lediglich den tatsächlichen Bedarf decken. Bei der Ermittlung dieses tatsächlichen Bedarfs hat im Gegensatz zur Auffassung des SG der Begriff der Bedarfsgemeinschaft keine Bedeutung. Dies ergibt sich bereits zwangsläufig daraus, dass es ansonsten zu einer Ungleichbehandlung von Lebensformen je nachdem kommt, ob diese eine Bedarfsgemeinschaft bilden (Art 3 Abs 1 Grundgesetz). Diese Ungleichbehandlung lässt sich aber durch keine sachlichen Gründe rechtfertigen. Durch die Lebensform der Haushaltsgemeinschaft - ohne dass es sich um eine Bedarfsgemeinschaft handelt - werden von den daran Beteiligten infolge zumindest gemeinsamen Wohnens Kosten gegenüber einem getrennten Wohnen eingespart. Diese Situation ist der von Familien bzw. Bedarfsgemeinschaften (mit minderjährigen Kindern) vergleichbar. Der Bedarf solcher Familien oder Lebensgemeinschaften, die eine Bedarfsgemeinschaft bilden, wird dabei jeweils anhand der für diese Bedarfsgemeinschaft vorgegebenen und als angemessen betrachteten Wohnungsgröße ermittelt. Nicht abgestellt wird auf den Bedarf jedes einzelnen Mitgliedes dieser Bedarfsgemeinschaft. Diesen gegenüber wären bloße Haushaltgemeinschaften oder Wohngemeinschaften leistungsrechtlich besser gestellt, wenn für diese auf einen fiktiven Bedarf abgestellt werden würde, ohne dass es einen sachlichen Grund für diese Differenzierung gäbe. Deshalb ist bei der Berechnung der zu zahlenden Unterkunftskosten auf die tatsächlich bestehende, frei von den Betroffenen gewählte Wohnsituation abzustellen und deren Angemessenheit zu prüfen.

Eine Ermittlung des Unterkunfts- und Heizungskostenbedarfs anhand eines fiktiven 1-Personen-Haushaltes würde zu einer Überversorgung dieser Haushaltsgemeinschaft führen, denn durch gemeinsames Wohnen würde die Haushaltsgemeinschaft finanzielle Aufwendungen einsparen. Damit würde aus Steuermitteln ein nicht bestehender Bedarf gedeckt werden.

Es ist somit der Bedarf der einzelnen ASt danach zu bemessen, welche Unterkunfts- und Heizungskosten in einem 2-Personen-Haushalt tatsächlich entstehen und dieser Bedarf ist dann anteilig auf beide ASt zu verteilen (im Ergebnis ebenso: Lang in Eicher/ Spellbrink, SGB II, § 22 Rdnr 38; zur Rechtslage nach dem BSHG vgl. OVG Nds, Urteil vom 16.06.2004 - 12 LC 67/04 - veröffentl. in juris).

Die Frage, ob die angemessenen Unterkunftskosten durch die Ag zutreffend ermittelt worden sind, ist im Rahmen des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu klären. Dies bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Anhaltspunkte dafür, dass es den ASt nicht möglich oder zumutbar war, in der Zeit bis 30.06.2005 durch Wohnungswechsel, Untervermietung oder auf andere Weise die Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung zu senken, fehlen. Insbesondere haben die ASt die Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit nicht glaubhaft gemacht. Der Anordnungsanspruch, d.h. das materielle Recht, ist jedoch im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens von diesen glaubhaft zumachen.

Nach alledem wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage mit hoher Wahrscheinlichkeit unbegründet. Der Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung hätte daher vom SG abgelehnt werden müssen. Der Beschluss des SG ist aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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