S 77 AL 742/05

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
77
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 77 AL 742/05
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 AL 132/06
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Bescheide der Beklagten vom 27. Oktober 2004 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 3. Februar 2005 werden insoweit aufgehoben, als die Bewilligung von Arbeitslosengeld in größerem Umfange als für den Zeitraum vom 18. August bis 7. September 2004 aufgehoben und Erstattung verlangt wurde. 2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 3. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu zwei Dritteln zu erstatten. 4. Die Berufung wird für beide Beteiligte zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld im Hinblick auf den Eintritt zweier Sperrzeiten wegen Arbeitsablehnung und über die Erstattung entsprechender Leistungen.

Die 44-jährige geschiedene Klägerin lebt gemeinsam mit ihren beiden minderjährigen jugendlichen Söhnen. Sie war mit einer Unterbrechung vom November 2003 bis Januar 2004 seit September 2003 arbeitslos und erhielt von der Beklagten Arbeitslosengeld (Bewilligungsbescheid vom 21. Januar 2004). Dem Arbeitslosengeld lag eine Beschäftigung als Haushaltshilfe mit einem Stundenlohn von 11,80 Euro bei 15 Stunden pro Woche zu Grunde; Bemessungsentgelt: 177 Euro pro Woche. Der Zahlungsanspruch der Klägerin betrug 13,23 Euro pro Tag (401,31 Euro je Monat).

Die Beklagte unterbreitete der Klägerin in den Monaten Juli und August 2004 mehrere Stellenangebote. Darunter befand sich das Stellenangebot vom 15. Juli 2004 für eine Tätigkeit als Hauswirtschaftshelferin im Rahmen einer Arbeitnehmerüberlassung bei der Firma I GmbH & Co KG (Arbeitgeber). Es sollte Tariflohn (5,93 Euro pro Stunde – Tarifgebiet Ost) bei einer Vollzeitbeschäftigung von 35 Stunden je Woche gezahlt werden (Bruttomonatslohn 899,38 Euro, netto: 710,51 Euro). Eine Beschäftigung kam nicht zu Stande. Auf ein weiteres Stellenangebot bei der Firma K (Vollzeittätigkeit für ein Monatsgehalt von 1.500 EUR) leistete die Klägerin im Zeitraum vom 30. August bis 8. September 2004 an insgesamt fünf Arbeitstagen jeweils 5 Stunden "Probearbeit". Es kam sodann nicht zur Einstellung, weil die Firma die Stelle doch nicht besetzte. Ein drittes Stellenangebot vom 13. August 2004 für eine Tätigkeit als Kinderfrau und Haushaltshilfe im Privathaushalt M (Anbieterin) sah eine Tätigkeit von 15 Stunden pro Woche mit einem Gehalt von 900 EUR vor. Auf diese Stelle bewarb sich die Klägerin am 8. September 2004; die Stelle war zu diesem Zeitpunkt bereits vergeben.

Mit den Schreiben vom 1. und 27. September 2004 hörte die Beklagte die Klägerin an im Hinblick auf den möglichen Eintritt von Sperrzeiten hinsichtlich der Stellenangebote des Arbeitgebers und der Anbieterin. Darauf antwortete die Klägerin mit den Schreiben vom 20. und 29. September 2004 und gab an, dass sie sich beim Arbeitgeber bereits im Juli 2004, sofort nach Erhalt des Vermittlungsvorschlages telefonisch gemeldet und ein Vorstellungsgespräch für den 12. August 2004 vereinbart habe. Am 12. August 2004 habe sie sich dann persönlich vorgestellt. Dabei habe man ihr mitgeteilt, dass die Tätigkeit im Schichtdienst mit Nachtschichten auszuüben sei. Sie habe dazu geäußert, dass sie Nachtdiensten nicht gewachsen sei und sich vor einer abschließenden Entscheidung mit ihrem Arbeitsberater besprechen wolle. Das Gespräch am Folgetag mit dem Arbeitsberater habe für sie ergeben, dass sie die Stelle nicht habe nehmen müssen. Die Bewerbung und die Probearbeit für die Firma K sei sehr erfolgversprechend verlaufen, weshalb sie sich sicher gewesen sei, die Stelle zu erhalten. Sie habe deshalb die anderen Stellenangebote nicht mehr weiterverfolgt. Erst als sie am 8. September 2004 erfahren habe, dass die Stelle doch nicht besetzt würde, sei sie sofort zur Anbieterin gefahren. Diese habe ihr mitgeteilt, dass die Stelle bereits besetzt sei.

Mit zwei Bescheiden vom 27. Oktober 2004 stellte die Beklagte den Eintritt einer Sperrzeit vom 20. Juli bis 9. August 2004 im Hinblick auf das Stellenangebot des Arbeitgebers und einer weiteren Sperrzeit für den Zeitraum vom 18. August bis 28. September 2004 hinsichtlich des Vermittlungsvorschlages der Anbieterin fest. In diesen Zeiten ruhe der Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld. Trotz Belehrung habe die Klägerin jeweils die Arbeit nicht angenommen. Eine Schichtdiensttätigkeit mit Nachtschicht stelle keinen wichtigen Grund für eine Arbeitsablehnung dar. Im anderen Falle habe sich die Klägerin zu spät beworben und damit das Zustandekommen eines Beschäftigungsverhältnisses vereitelt, was einer Arbeitsablehnung gleich stehe. Wegen des Eintritts der ersten Sperrzeit habe die Klägerin zu Unrecht Arbeitslosengeld erhalten und einen Betrag von 277,83 EUR und wegen der zweiten Sperrzeit 555,66 EUR zu erstatten.

Dagegen wandte sich die Klägerin mit ihrem Widerspruch vom 1. November 2004. Sie sei am 12. August 2004 15:00 Uhr beim Arbeitgeber gewesen, habe sich jedoch im Hinblick auf den Nachtdienst noch einmal beraten lassen wollen. Am 13. August 2004 habe sie mit dem Arbeitsvermittler gesprochen. Dieser habe festgestellt, dass die Nachtdienste im Inserat nicht vermerkt gewesen seien. Bei Kenntnis dieses Umstandes hätte man das Angebot für die Klägerin nicht genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten der Widerspruchsbegründung wird auf die Verwaltungsakte Bezug genommen.

Die Widersprüche wies die Beklagte durch die Widerspruchsbescheide vom 3. Februar 2005 zurück. Beide Stellen seien der Klägerin zumutbar gewesen. In beiden Fällen habe sich die Klägerin jeweils zu spät beim Arbeitgeber gemeldet. Den Vorstellungstermin am 12. August 2004 habe die Klägerin nicht wahrgenommen, sie habe vielmehr am 13. August 2004 in der Agentur für Arbeit erklärt, dass das Ergebnis der Bewerbung noch offen sei. Die Klägerin sei jeweils über die Rechtsfolgen belehrt worden. Die Aussicht auf eine andere Stelle rechtfertige nicht, andere Angebote abzulehnen. Die Aufhebung der Leistungsbewilligung stütze sich auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Verbindung mit § 330 Abs. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch-Arbeitsförderung (SGB III).

Die Klägerin verfolgt ihr Begehren mit ihrer Klage vom 28. Februar 2005 (Zugang bei Gericht am 1. März 2005) weiter. Sie wäre zu ihren diversem psychischen Problemen (bedingt durch Scheidung und die elterliche Sorge für die pubertierenden Söhne) hinzu einer weiteren Belastung durch Nachtdienste nicht gewachsen. Sie hat das Attest ihrer Hausärztin K vom 10. Mai 2005 vorgelegt. Außerdem sei ihr die Vergütung durch den Arbeitgeber zu niedrig erschienen.

Die Klägerin beantragt,

die Bescheide der Beklagten vom 27. Oktober 2004 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 3.Februar 2005 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat im vorbereitenden Verfahren den Befundbericht der Hausärztin der Klägerin vom 3. August 2005 eingeholt. Wegen der Ergebnisse der Beweiserhebungen wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Der Kammer haben außer den Prozessakten die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze und den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Beklagte durfte die Bewilligung von Arbeitslosengeld nur für den Zeitraum vom 18. August bis 7. September 2004 aufheben. Insoweit ist die Entscheidung der Beklagten rechtmäßig. Allerdings ist beginnend am 20. Juli 2004 keine Sperrzeit eingetreten, die am 18. August 2004 beginnende Sperrzeit durfte deshalb wegen § 144 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 lit. c SGB III nur einen Umfang von drei Wochen haben. Insoweit verletzen die Bescheide der Beklagten Rechte der Klägerin und waren deshalb insoweit aufzuheben.

Gemäß § 144 Abs. 1 SGB III ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld für die Dauer einer Sperrzeit, wenn der Arbeitnehmer sich versicherungswidrig verhalten hat, ohne dafür einen wichtigen Grund zu haben (Satz 1). versicherungswidriges Verhalten liegt vor, wenn der Arbeitslose trotz Belehrung über die Rechtsfolgen eine von der Agentur für Arbeit unter Benennung des Arbeitgebers und der Art der Tätigkeit angebotene Beschäftigung nicht annimmt oder nicht antritt oder die Anbahnung eines solchen Beschäftigungsverhältnisses, insbesondere das Zustandekommen eines Vorstellungsgespräches, durch sein Verhalten verhindert (Sperrzeit bei Arbeitsablehnung – Satz 2 Nr. 2). Ein wichtiger Grund für die Ablehnung einer Arbeit kann darin bestehen, dass es sich nicht um eine im Sinne des § 121 SGB III zumutbare Beschäftigung gehandelt hat. Nach § 121 Abs. 1 SGB III sind einem Arbeitslosen alle seiner Arbeitsfähigkeit entsprechenden Beschäftigungen zumutbar, soweit allgemeine oder personenbezogene Gründe der Zumutbarkeit einer Beschäftigung nicht entgegenstehen. Nach Absatz 2 der Vorschrift ist eine Beschäftigung einem Arbeitslosen aus allgemeinen Gründen insbesondere nicht zumutbar, wenn die Beschäftigung gegen gesetzliche, tarifliche oder in Betriebsvereinbarungen festgelegte Bestimmungen über Arbeitsbedingungen oder gegen Bestimmungen des Arbeitsschutzes verstößt. Eine Beschäftigung ist einem Arbeitslosen aus personenbezogenen Gründen insbesondere nicht zumutbar, wenn das daraus erzielbare Arbeitsentgelt erheblich niedriger ist als das der Bemessung des Arbeitslosengeldes zu Grunde liegende Arbeitsentgelt (Abs. 3 Satz 1). Vom siebten Monat der Arbeitslosigkeit an ist dem Arbeitslosen eine Beschäftigung nur dann nicht zumutbar, wenn das daraus erzielbare Nettoeinkommen unter Berücksichtigung der mit der Beschäftigung zusammenhängenden Aufwendungen niedriger ist als das Arbeitslosengeld (Abs. 3 Satz 3). Eine Beschäftigung ist nicht schon deshalb unzumutbar, weil sie befristet ist, vorübergehend eine getrennte Haushaltsführung erfordert oder nicht zum Kreis der Beschäftigungen gehört, für die der Arbeitnehmer ausgebildet ist oder die er bisher ausgeübt hat (Abs. 5).

Nach Auffassung der Kammer war die Beschäftigung beim Arbeitgeber der Klägerin aus allgemeinen Gründen nicht zumutbar weil sie gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen hätte (§ 121 Abs. 2 SGB III). Insbesondere war die vorgesehene Arbeitsentgeltregelung im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig. Der Arbeitgeber kann sich nicht auf den Tarifvertrag berufen, weil dieser bei geltungserhaltender Auslegung eine günstigere Vergütung vorsah. Der Tarifvertrag hätte anderenfalls gegen elementare Gerechtigkeitsanforderungen, die der gesamten Rechtsordnung zugrunde liegen und in § 138 Abs. 1 BGB gesetzlichen Ausdruck finden, verstoßen und wäre insofern unwirksam gewesen.

Die Vereinbarung über das Arbeitsentgelt gehört zu den essenziellen Bestandteilen des Arbeitsvertrages, so dass eine Sittenwidrigkeit der Entgeltregelung auf die Zumutbarkeit des Stellenangebotes insgesamt durchschlägt. Die Beklagte ist als Träger der Sozialverwaltung dem Gesetz verpflichtet. Es ist ihr deshalb verwehrt, Arbeitslosen Stellenangebote zu unterbreiten, die in wesentlicher Hinsicht gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen. Noch weniger darf sie die Realisierung solcher Vermittlungsvorschläge mittels der ihr eingeräumten Sanktionsbefugnisse durchsetzen. Die Klägerin kann deshalb von der Beklagten nicht darauf verwiesen werden, eine Beschäftigung mit einer unwirksamen Arbeitsentgeltregelung zunächst aufzunehmen und sodann einen rechtmäßigen Lohn arbeitsgerichtlich durchzusetzen.

Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Regelung gegen die guten Sitten verstößt, sind nach zutreffender herrschender Meinung und ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung die wesentlichen sich aus dem Grundgesetz und der gesetzlichen Systematik ergebenden Prinzipien zu berücksichtigen (BVerfG Beschluss vom 19.10.1993, Az. 1 BvR 567/89, 1 BvR 1044/89). Die Gerichte müssen gegebenenfalls im Rahmen der Generalklausel des geltenden Zivilrechts korrigierend eingreifen, wenn der Inhalt des Vertrages für eine Seite ungewöhnlich belastend und als Interessenausgleich offensichtlich unangemessen ist. Ein Verstoß gegen die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie und des Sozialstaatsprinzips kommt insbesondere bei gestörter Vertragsparität in Betracht (BVerfG ebd.). "Das ist bei Abschluss von Arbeitsverträgen typischerweise der Fall. In einer solchen Lage sind die objektiven Grundentscheidungen der Verfassung im Grundrechtsabschnitt und im Sozialstaatsgebot durch gesetzliche Vorschriften, die sozialem und wirtschaftlichem Ungleichgewicht entgegenwirken, zu verwirklichen." (BVerfG Urteil vom 28.01.1992 Az. 1 BvR 1025/82 - BVerfGE 85, 191-214) Dieser Funktion dient die Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB. Auch Tarifverträge müssen sich an den in § 138 Abs. 1 BGB zur Geltung kommenden elementaren Gerechtigkeitsanforderungen, die der gesamten Rechtsordnung zugrunde liegen und sich in Art. 1 (Würde des Menschen), Art. 2 Abs. 1 (freie Entfaltung der Persönlichkeit), Art. 20 Abs. 1 (Sozialstaatsgebot) Grundgesetz manifestieren, messen lassen. (BAG Urteil vom 24. März 2004, Az. 56 AZR 303/03, allerdings ohne den Verweis auf Art. 1 GG) Die durch Art. 9 GG gewährleistete Tariffreiheit schützt keine tarifvertragliche Regelung, die den Rahmen, den Art. 1 GG und das Sozialstaatsgebot ziehen, verlässt. Die Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot stellen für unsere Verfassung unverzichtbare Vorgaben dar, wie sich aus dem besonderen Schutz durch Art. 79 Abs. 3 GG (Ewigkeitsklausel) ergibt. Sie sind für unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung schlechthin konstituierend. Diese Wertungen sind bei der Anwendung von § 138 Abs. 1 BGB zwingend zu berücksichtigen. An ihnen müssen sich auch die Tarifverträge messen und ggf. begrenzen lassen. Dabei respektiert das Gericht, dass jede Überprüfung tarifvertraglicher Arbeitsentgelte zu beachten hat, dass nach Art. 9 Abs. 3 GG und - dieses Grundrecht umsetzend - §§ 1 und 8 des Gesetzes über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen vom 11. Januar 1952 (BGBl. I S. 17) und nach Tarifvertragsgesetz (TVG) die Regelung von Entgelten grundsätzlich in freier Vereinbarung zwischen den Tarifvertragsparteien durch Tarifverträge erfolgen soll. Den tarifvertraglich ausgehandelten Löhnen und Gehältern wird von Verfassungs und Gesetzes wegen im Hinblick auf dieses Verfahren der Bildung tariflicher Normen eine Richtigkeitsgewähr eingeräumt. Sowohl das Grundgesetz als auch der Gesetzgeber gehen davon aus, dass die in frei ausgehandelten Tarifverträgen vereinbarten Arbeitsentgelte den Besonderheiten der Branche Rechnung tragen und grundsätzlich wirksam sind. (BAG ebd.) Die gerichtliche Überprüfung von Tarifverträgen hat deshalb strenge Grenzen einzuhalten. Insbesondere hat das Gericht nicht eigene Angemessenheitserwägungen an die Stelle der Tarifvertragsparteien zu setzen. Deshalb dürfen die Gerichte nur überprüfen, ob die Regelungen des Tarifvertrages die Grenzen höherrangigen Rechts, also insbesondere die angesprochenen Grenzen der für unsere Rechtsordnung wesentlichen Wertentscheidungen wahren. Dabei sind die Verträge weitestgehend bestandserhaltend rechtskonform, insbesondere verfassungskonform auszulegen.

Wesentliche Kriterien sind für die Gestaltung von Arbeitsentgelten Art. 1, 2 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG sowie Art. 4 Nr. 1 der Europäischen Sozialcharta (EuSC - in der Bundesrepublik in Kraft seit 26. Februar 1965). Nach Art. 4 Nr. 1 EuSC erkennen die Vertragsstaaten das Recht der Arbeitnehmer auf ein Arbeitsentgelt an, welches ausreicht, um diesen und deren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu sichern. Die Vorschrift ist einfaches Bundesrecht auf Gesetzes-, nicht auf Verfassungsebene. Sie räumt Bürgern zwar keine subjektiven Rechte ein (BAG Urteil vom 24.03.2004, Az. 5 AZR 303/03), ist allerdings als Auslegungsmaßstab bei Wertentscheidungen, wie denen des § 138 Abs. 1 BGB heranzuziehen. Ein nach Anschauung aller billig und gerecht denkender Menschen auffälliges Missverhältnis zwischen Arbeitsentgelt und Arbeitsleistung begründet unter Anwendung dieser grundgesetzlichen und staatsvertraglichen Vorgaben den Vorwurf der Sittenwidrigkeit (BAG Urteil vom 24.03.2004, Az. 5 AZR 303/03 und Urteil vom 23.05.2001, Az. 5 AZR 527/99). Auch Tarifverträge sind an diesen Maßstäben zu messen, wiewohl insofern nicht abschließend geklärt ist, ob § 138 BGB unmittelbar auf Tarifverträge anzuwenden ist (BAG Urteil vom 24.03.2004, Az. 5 AZR 303/03), denn in ihnen kommen elementare Gerechtigkeitsanforderungen, die der gesamten Rechtsordnung zugrunde liegen, zur Geltung (BAG ebd.). Dies äußert sich auch darin, dass der Gesetzgeber mit § 291 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StGB einen Straftatbestand geschaffen hat, der für sittenwidrige Lohnvereinbarungen gilt (vgl. BAG Urteil vom 23.05.2001, Az. 5 AZR 527/99). Damit bringt der Gesetzgeber ein so deutliches Unwerturteil für sittenwidrige Lohnvereinbarungen zu Lasten der Arbeitnehmer zum Ausdruck, dass die darin enthaltene Wertung auch bei anderen Regelungskomplexen unserer Rechtsordnung Beachtung erheischt. Zwar können tarifvertragliche Lohnvereinbarungen selbst nicht den strafrechtlichen Lohnwuchertatbestand erfüllen, weil ihnen der Zwangscharakter fehlt (niemand zwingt eine Gewerkschaft zu einem sittenwidrigen Tariflohn). Jedoch wird auch in der Wertung des Strafgesetzgebers deutlich, dass er Lohnvereinbarungen, die gegen elementare Gerechtigkeitsanforderungen verstoßen, für unzulässig hält. Wäre ein bestimmtes Arbeitsentgelt ohne Tarifgeltung als Wucherlohn zu bewerten, trifft es auch dann das Unwerturteil unserer Verfassungs- und Rechtsordnung, wenn es tarifliche "Weihe" erlangt haben sollte. Solch ein Tariflohn erfüllt dann zwar nicht den Straftatbestand, kann aber dennoch wegen der Wertung des § 138 Abs. 1 BGB und der verfassungsrechtlichen Vorgaben keine Geltung beanspruchen.

Mit dem Arbeitsgericht Bremen (Urteil vom 30.8.2000, Az. 5 Ca 5152, 5198/00 = ArbuR 2001, 231) und dem Sozialgericht Fulda (Urteil vom 17.03.2004,Az. S 1 AL 77/03 = info also 2004, 217-219) ist die Kammer der Auffassung, dass das auffällige Missverhältnis, das die Sittenwidrigkeit begründet, auch anzunehmen ist, wenn der angebotene Lohn bei Vollzeitarbeit unter dem Sozialhilfeniveau für eine volljährige alleinstehende Person ohne Unterhaltsverpflichtungen, bei sozialhilferechtlich angemessener Unterkunft und bei uneingeschränkter Erwerbsfähigkeit liegt. Dies ergibt sich aus den Vorgaben von Art. 1, 2 Abs. 1, 20 Abs. 1 des Grundgesetzes sowie Art. 4 Nr. 1 EuSC. Danach respektiert die bundesdeutsche Verfassungs- und Rechtsordnung die Würde des Einzelnen und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Daraus ergibt sich mit dem Sozialstaatsgebot, dass auch am Arbeitsmarkt die Grenzen einzuhalten sind, die im Gegensatz zur völlig freien Marktwirtschaft eine der Menschenwürde angemessene Existenz des abhängig Beschäftigten gewährleisten müssen. Unsere Verfassungs- und Rechtsordnung toleriert keine Arbeitsvergütung, die dem Arbeitnehmer bei vollschichtiger Beschäftigung und durchschnittlicher Arbeitsleistung die Absicherung der eigenen Existenz nicht erlaubt. Überdies gilt: das Sozialstaatsgebot – wegen des in ihm enthaltenen Solidargedankens – erwartet vom Einzelnen auch, dass er selbst für seinen Unterhalt sorgt und sich von staatlichen Transferleistungen unabhängig macht, sofern er dazu insbesondere gesundheitlich in der Lage ist. Korrelat dieser Erwartung muss selbstredend sein, dass durchschnittliche Arbeitsleistung bei voller Beschäftigung zur Sicherung des eigenen Unterhaltes ausreichend sein muss. Unter durchschnittlicher Arbeitsleistung versteht die Kammer dabei die Leistung, die ein durchschnittlicher Arbeitnehmer am konkreten Arbeitsplatz (nach entsprechender Einarbeitung und ohne Vertragsverletzung) erbringen würde. Aus dem Würdegebot und dem Sozialstaatsprinzip folgt dabei, dass Maßstab nicht das pure Überleben ist (BVerfG Beschluss vom 12. Mai 2005, Az. 1 BvR 569/05), sondern dass das soziokulturelle Existenzminimum gesichert sein muss. Das so verstandene Existenzminimum hat zu gewährleisten, dass auch wesentliche persönliche, familiäre, soziale und kulturelle Bedürfnisse auf bescheidenem Niveau befriedigt werden und auf dem Niveau dieses Existenzminimums lebende Personen in der Umgebung von nicht leistungsbeziehenden Mitmenschen ähnlich wie diese leben können (BVerwG Urteil vom 11.11.1970, Az. V C 32/70). Der Preis der Ware Arbeitskraft, der als Arbeitsentgelt durch den Arbeitgeber zu leisten ist, darf unter diesen verfassungsrechtlichen und staatsvertraglichen Prämissen keinesfalls unter das soziokulturelle Existenzminimum des Arbeitnehmers sinken, wenn dieser eine durchschnittliche Arbeitsleistung vollschichtig erbringt. Inwieweit der Markt und die Produktivität eines Betriebes oder Wirtschaftsbereiches im Vergleich zum übrigen Markt etwa angesichts einer extremen, strukturellen Massenarbeitslosigkeit eine andere Preisgestaltung zulassen oder zu gebieten scheinen, ist angesichts der Wertentscheidung des Grundgesetzes für den Sozialstaat, aber auch des einfachgesetzlichen Gesetzgebers, wie sie sich in der Ratifizierung der EuSC widerspiegelt, irrelevant. Die Würde des Einzelnen würde verletzt, könnte dieser aus einer durchschnittlichen vollschichtigen Arbeitsleistung gerade sein physisches Überleben sichern, oder selbst das nicht. Er würde in seinem Wert unzulässig auf ein pures Marktobjekt reduziert, weil ausschließlich die bloße Erhaltung seiner Arbeitskraft oder noch weniger: der bloße durch geringe Nachfrage und übergroßes Angebot bestimmte Preis, nicht aber sein Wert entscheidendes Entgeltkriterium wäre. Sein Menschsein, sein Subjektsein, würde völlig bedeutungslos. Daher kann die von der bundesdeutschen Verfassungs- und Rechtsordnung vorgegebene unterste Grenze für die Entlohnung, die auch die Tarifparteien bindet, nicht die Grenze zum "Hungerlohn" sein. Insoweit vermag die Kammer dem Urteil des BAG vom 24. März 2004 (Az. 5 AZR 303/03) nicht zu folgen. Der "Hungerlohn" gewährleistet schon nicht mehr die physische Existenz, sichert nicht mehr das pure Überleben. Selbst ein Arbeitsentgelt, das gerade noch die physische Existenz, die ganz elementaren materiellen Bedürfnisse (Essen, Trinken, Wohnen, Kleidung) auf essentiellem Niveau sichert, muss unter den dargestellten verfassungsrechtlichen Vorgaben als unzureichend gelten. Das Bundesarbeitsgericht relativiert den von ihm verwendeten Begriff des "Hungerlohns" dadurch, dass es für eine entsprechende Bewertung die "Berücksichtigung aller Umstände des räumlichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereichs des Tarifvertrags sowie der im Geltungsbereich des Tarifvertrags zu verrichtenden Tätigkeiten" verlangt. Der Begriff verliert dadurch nicht nur jede Klarheit. Das BAG verkennt dabei, soweit es für die Feststellung eines auffälligen Missverhältnisses in seiner Entscheidung maßgeblich darauf abstellen will, dass es auf den Wert der Arbeitsleistung ankomme, die grundgesetzliche Grenzziehung. Diese geht gerade davon aus, dass die Arbeitsleistung für den Einzelnen einen durch unsere Rechtsordnung vorgegebenen Mindestwert hat. Dieser entspricht bei vollschichtiger Tätigkeit einer sozialstaatlich-menschenwürdigen Existenzsicherung. An dieser Grenze hört nach den Vorgaben des Grundgesetzes die marktgesteuerte Preisbildung auf. Mit diesem Gedanken beschäftigt sich das BAG nicht ansatzweise.

Die Höhe des soziokulturellen Existenzminimums hängt von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten Mindestbedarf ab. Diesen einzuschätzen ist Aufgabe des Gesetzgebers (BVerfG Beschluss vom 25.09.1992, Az. 2 BvL 5/91 - BVerfGE 87, 153). Soweit der Gesetzgeber jedoch im Sozialhilferecht den Mindestbedarf bestimmt hat, den der Staat bei einem mittellosen Bürger im Rahmen sozialstaatlicher Fürsorge durch Staatsleistungen zu decken hat, ist an diesen anzuknüpfen (BVerfG ebd. und BVerfG Beschluss vom 29.05.1990, Az. 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 Abs. 124 - BVerfGE 82, 60). Der Gesetzgeber hat mit dem BSHG (noch wirksam im hier maßgeblichen Zeitraum), nunmehr durch die Bestimmungen des SGB II und SGB XII den soziokulturellen Mindestbedarf bestimmt und dafür einen Regelbedarf zur Grundlage der Bestimmung des individuellen Existenzminimums vorgesehen. Gesetzliche Funktion des sozialhilferechtlichen Regelbedarfs ist, in typisierender Weise den notwendigen Lebensunterhalt zu garantieren, dessen der Einzelne zur Führung eines menschenwürdigen Lebens bedarf (BVerfG Beschluss vom 26.04.1988 Az. 1 BvL 84/86 - BVerfGE 78, 104). Andere gesetzliche Regelungen, die eine Anknüpfung für die hier zu entscheidende arbeitsrechtliche Frage erlauben, bestehen nicht. Insbesondere bestehen keine arbeitsrechtlichen Vorgaben, etwa im Sinne gesetzlich geregelter Mindestlöhne oder durch Allgemeinverbindlicherklärung maßgebende Tarifvorgaben (diese bestehen nur in vom vorliegenden Fall nicht betroffenen Wirtschaftsbereichen). Es scheiden aber auch die steuerrechtlichen (Steuerfreibetrag), unterhaltsrechtlichen (Selbstbehalt), prozessrechtlichen (Prozesskostenhilfe, Pfändungsfreigrenzen) oder anderen sozialrechtlichen Existenzschutzregelungen als Maßstab aus, weil sie über die Betrachtung der Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums hinaus auch noch andere Regelungszwecke verfolgen. Der Rückgriff auf das sozialhilferechtliche Existenzminimum für arbeitsrechtliche Bewertungen kann auch nicht deshalb abgelehnt werden, weil den Betroffenen durch die Sozialhilfe bzw. nunmehr durch die Grundsicherung das Existenzminimum, ggf. andere Einkünfte (z.B. Arbeitsentgelt) ergänzend, gewährleistet wird (so angedeutet BAG Urt. vom 24. März 2004). Eine solche Argumentation verkennte die doppelte rechtliche Funktion der Bestimmung der Sozialhilfe durch den Gesetzgeber. Diese besteht zum einen in der Begründung subjektiver Rechte gegen den Staat dadurch, dass über das BSHG bzw. SGB II und SGB XII durch staatliche Gewährung unter Betrachtung des tatsächlichen Zuflusses von Einkünften ohne Berücksichtigung bestehender Ansprüche das jeweils aktuelle Existenzminimum gesichert wird. Zum anderen bestimmt der Gesetzgeber mit der Sozialhilfe/Grundsicherung den Maßstab für die Bestimmung des soziokulturellen Existenzminimums als sozialstaatlich-menschenwürdeorientierten Grenzwert, der für alle Rechtsgebiete Bedeutung hat (vgl. BVerfG Beschluss vom 29.05.1990, Az. 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 Abs. 124 - BVerfGE 82, 60 und BVerfG Beschluss vom 25.09.1992, Az. 2 BvL 5/91 - BVerfGE 87, 153). Dass beide rechtlichen Funktionen eng miteinander zusammenhängen, darf nicht dazu führen, ihre rechtliche Funktion nicht zu differenzieren. Die soziale Schutzfunktion der Sozialhilfe/Grundsicherung zielt genau auf die Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums in jeder Lebenslage des Betroffenen, die den Rückgriff auf die staatliche Unterstützung fordert. Gerade deshalb ist sie als Maßstab der Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 1, 2 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG geeignet. Mit ihr hat der Gesetzgeber die auch für die arbeitsrechtliche Bewertung des soziokulturellen Existenzminimums erforderlichen Bewertungen vorgenommen. Die Anspruchsfunktion mit der Maßstabsfunktion zu verwechseln bedeutet in der Konsequenz auch die Subsidiarität des Sozialhilfeanspruches bei der Klärung vorrangiger Ansprüche außer Acht zu lassen. So gehen die Ansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, der seine arbeitsvertraglichen Zahlungspflichten nicht erfüllt und soweit deshalb Sozialleistungen erforderlich werden auf den Leistungsträger über (§ 115 Abs. 1 SGB X). Zahlt der Arbeitgeber einen Wucherlohn und wird deshalb der Arbeitnehmer grundsicherungsbedürftig, hat der Leistungsträger – im Umfang der gezahlten Sozialleistung – den Arbeitgeber notfalls arbeitsgerichtlich in Anspruch zu nehmen. Es handelt sich dann nicht um einen Wucherlohn, weil der Arbeitnehmer ergänzende Sozialleistungen bezieht, sondern weil der Lohn gegen elementare Werte der Verfassungs- und Rechtsordnung verstößt. Der Bezug der Grundsicherungsleistung ist dann bei vollschichtiger Beschäftigung nur Indiz, nicht Tatbestandsvoraussetzung der arbeitsrechtlichen Einwendung. Den Anspruch auf Sozialhilfe der Klärung des Arbeitsentgelts entgegen zu halten, verdrehte schlicht die gesetzliche Rangfolge der Ansprüche. Die unterhaltssichernden Leistungen der Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt) und auch der Grundsicherung nach SGB II und SGB XII sind nach ihrer bisherigen Struktur und Zielsetzung ausschließlich Leistungen an Hilfebedürftige mit dem alleinigen Zweck der Absicherung des soziokulturellen Existenzminimums, bis der Betroffene insbesondere durch Erwerbstätigkeit wieder für sich selbst sorgen kann. Dies gilt für den gesamten Leistungsumfang unterhaltssichernder Leistungen, soweit die Freibeträge ausgeblendet werden, die der Motivation zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit dienen. Insoweit sind die Leistungen nicht (verdeckte) Strukturförderungsmaßnahmen für Betriebe oder Wirtschaftsbereiche, die aufgrund niedriger Arbeitsproduktivität und/oder ungünstiger Marktverhältnisse das vom Grundgesetz vorausgesetzte existenzsichernde und – bezogen auf die Arbeitskraft – werterhaltende Entgelt zumindest teilweise substituieren. Dies folgt insbesondere aus dem Abstandsgebot (§ 22 Abs. 4 BSHG, nunmehr § 28 Abs. 4 SGB XII, an welches auch der Regelsatz des SGB II anknüpft). Der Gesetzgeber geht mit dieser Vorgabe ausdrücklich davon aus, dass die Nettoarbeitsentgelte der unteren Lohngruppen bei vollschichtiger Arbeit die sozialhilferechtlichen Durchschnittsleistungen für Familien mit drei Kindern (!) sogar unter Berücksichtigung des Erwerbstätigen-Freibetrages nach § 82 Abs. 3 SGB XII übersteigen. Daher kann angesichts des gesamten Regelungssystems der Sozialhilfe/Grundsicherung einschließlich des Abstandsgebotes nicht ansatzweise angenommen werden, der Gesetzgeber gehe davon aus, dass eine durchschnittliche vollschichtige Erwerbstätigkeit selbst in Beschäftigungen der unteren Lohngruppen nicht die eigene Existenz des Arbeitnehmers (also ohne halbschichtig tätigen Ehegatten und drei Kinder) sichern könne. Nur daran aber orientiert sich die Kammer. Von der hier vorgenommenen Argumentation wird gerade berücksichtigt, dass unter Umständen bei erheblichen Unterhaltsverpflichtungen, bei nur arbeitszeiteingeschränkter Erwerbstätigkeit im Niedriglohnsektor, Arbeitslosigkeit oder aber bei ausbleibenden Zahlungen trotz bestehender Ansprüche eine tatsächliche Existenzsicherung nicht erfolgen muss und staatliche Transferleistungen beansprucht werden können. Dass bei schlicht unzureichendem Mittelzufluss (ungeachtet etwa der arbeits- oder familienrechtlichen Anspruchslage) zum Zwecke der Existenzsicherung Sozialleistungen erbracht werden, lässt jedoch keinerlei Schluss gegen eine verfassungsrechtliche absolute Untergrenze für die vertragliche oder tarifliche Entgeltgestaltung zu. Im Gegenteil: Soweit der Gesetzgeber (gerade zur Förderung bestimmter Wirtschaftsstrukturen) nicht ausdrücklich anderes gestattet, sind Vereinbarungen, die keine ausreichende Existenzsicherung für den Arbeitnehmer bei Vollzeitbeschäftigung erlauben, als unwirksame Verträge zu Lasten Dritter, nämlich der Solidargemeinschaft des freiheitlichen Sozialstaates, zu behandeln. Selbstverständlich ist der Gesetzgeber frei, durch verschiedene Maßnahmen im arbeits-, sozial- oder auch steuerrechtlichen Bereich (Kombilohn, Magdeburger Modell, Mindestlohnfestlegungen usw.) unmittelbar Grenzen zu ziehen, durch welche der Rückgriff auf den Maßstab der Grundsicherung überflüssig würde. Diese Regelungen muss er jedoch ausdrücklich vornehmen. Sie fehlen bisher. Sollte er einen Mindestlohn festlegen, der unter der bisherigen, durch das sozialhilferechtlich festgelegte Existenzminimum geregelten Grenze liegt, träfe er damit eine Entscheidung dahingehend, dass die Löhne hinsichtlich der entsprechenden Differenz staatlich subventioniert würden. Auch dies wäre sicherlich zulässig, setzt aber auch die ausdrückliche Entscheidung durch den Gesetzgeber voraus. Der hier vertretenen Ansicht kann nicht entgegen gehalten werden, dass die Sozialhilfe/Grundsicherung in ihrer Höhe von den Mietkosten und den Unterhaltsverpflichtungen abhängt (so der argumentative Ansatz des BAG vom 24. März 2004). Da die Kammer ausschließlich auf die Existenzsicherung nur des Erwerbstätigen selbst und auf sozialhilferechtlich angemessene Mietkosten abstellt und auch Teilzeitarbeit und sonstige Besonderheiten ausblendet, die eine durchschnittliche Arbeitsleistung verhindern, greift eine solche Argumentation ins Leere. Insofern sei darauf hingewiesen, dass bereits das ArbG Bremen (Urteil vom 30. August 2000, Az. 5 Ca 5152, 5198/00) diese Prämissen aufgestellt hatte, die vom BAG dann allerdings schlicht ignoriert wurden, obwohl dieses ausdrücklich gerade gegen die Entscheidung des ArbG Bremen argumentiert.

Zur Beurteilung der Übereinstimmung einer arbeitsvertraglichen oder tariflichen Arbeitsentgeltregelung ist mangels anderer gesetzgeberischer Vorgaben deshalb auf den sozialhilferechtlichen Regelbedarf abzustellen. Weil es um den untersten verfassungsrechtlich zulässigen Grenzwert geht und weil der grundgesetzliche Schutz der Tarifautonomie eigene Angemessenheitserwägungen des Gerichts ausschließt, legt die Kammer einen strengen Maßstab an die Auslegung der vom Gesetzgeber für die Bestimmung des Existenzminimums vorgegebenen Regelungen an. Deshalb lässt die Kammer das in § 22 Abs. 4 BSHG, nunmehr § 28 Abs. 4 SGB XII geregelte Abstandsgebot (abweichend von ArbG Bremen Urteil vom 30. August 2000, Az. 5 Ca 5152, 5198/00), unberücksichtigt. Nach diesem muss die Regelsatzbemessung gewährleisten, dass bei Haushaltsgemeinschaften von Ehepaaren mit drei Kindern die Regelsätze zusammen mit Durchschnittsleistungen nach §§ 29 und 31 SGB XII und unter Berücksichtigung eines durchschnittlich abzusetzenden Betrages nach § 82 Abs. 3 SGB XII unter den erzielten monatlichen durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelten unterer Lohngruppen bleiben. Damit will der Gesetzgeber einen Abstand zwischen Sozialhilfe und unteren Einkommen gewährleisten. Berücksichtigt man die verfassungsrechtliche Funktion der Sozialhilfe als Maßstab des soziokulturellen Existenzminimums folgt daraus auch die Vorstellung des Gesetzgebers, dass untere Lohn- und Gehaltsgruppen immer noch einen ausreichenden Abstand vom Existenzminimum einhalten. Das Abstandsgebot ist deshalb nicht nur an den Verordnungsgeber der Regelsätze sondern wegen der besonderen Intention des Gesetzgebers auch an die zur Entgelt-Preisbildung Berufenen adressiert. Da das Abstandsgebot keinen Regelungsgehalt hinsichtlich der Bestimmung der absoluten Höhe des Existenzminimums enthält und hier ein strenger Maßstab anzulegen, darf es bei der hier vorzunehmenden Betrachtung jedoch nicht berücksichtigt werden. Die Kammer lässt (abweichend von ArbG Bremen a.a.O. und Spindler in info also 2003, 56, 59) weiter außer Betracht, dass mit § 76 Abs. 2a BSHG bzw. nunmehr § 82 Abs. 3 SGB XII und § 30 SGB II ein Freibetrag für Erwerbstätige auch mit dem Ziel der Motivation der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gewährt wird. Zu den zwei Funktionen des Freibetrages nach § 76 Abs. 2a BSHG hat das Bundesverwaltungsgericht bestätigt, "dass der abzusetzende Betrag zum einen der Deckung eines durch Erwerbsarbeit entstehenden zusätzlichen Bedarfs und zum anderen als Anreiz zu Erwerbsarbeit dient" (BVerwG Urteil vom 21.12.2001, Az. 5 C 27/00). Es handele sich nicht mehr (im Vergleich zum früheren Recht) um eine Mehrbedarfsleistung, sondern um einen "Einkommensabsetzungsbetrag". Das BVerwG hielt einen Einkommensfreibetrag für angemessen, der ausgehend von einem Achtel des Regelsatzes (Grundfreibetrag) zuzüglich zehn Prozent des übersteigenden Einkommens (Steigerungsbetrag) und der Gesamtsumme nach begrenzt auf höchstens 1/3 des Regelsatzes zu bestimmen war (BVerwG ebd.). Die Neuregelungen in SGB II und SGB XII räumen deutlich großzügigere Freibeträge ein. Die Kammer berücksichtigt, weil der gesetzgeberische Zweck eines Anreizes zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht auf die Sicherstellung des Existenzminimums abzielt, nur den angemessenen Anteil des Freibetrages, der pauschal erhöhte Aufwendungen durch die Erwerbstätigkeit, soweit sie nicht bereits durch andere Freibeträge berücksichtigt werden, ausgleichen soll. Bei dem Teil des Absetzungsbetrages, der dem Ausgleich des durch Erwerbsarbeit entstehenden zusätzlichen Bedarfs dienen soll, ist jedoch zu beachten, dass die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen notwendigen Ausgaben bereits nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG abzusetzen waren. "Da die Aufzählung solcher Ausgaben in § 3 Abs. 4 der Verordnung zur Durchführung des § 76 BSHG nicht abschließend ist ("vor allem"), sind bereits nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG eigentlich alle notwendigen Aufwendungen wegen des durch Erwerbstätigkeit entstehenden zusätzlichen Bedarfs abzusetzen. Deshalb verbleiben für den Absetzungsbetrag nach § 76 Abs. 2a Nr. 1 BSHG nur diejenigen erwerbsbedingten (kleineren) Mehraufwendungen, deren Einzelnachweis unverhältnismäßig aufwändig wäre". (BVerwG Urteil vom 21.12.2001, Az. 5 C 27/00). Nach der Methode der Ermittlung des Freibetrages, wie sie vom BVerwG ausdrücklich bestätigt wurde, entspricht der Grundfreibetrag von einem Achtel des Regelsatzes der Abdeckung des durch Erwerbstätigkeit entstehenden zusätzlichen Bedarfs und die prozentual an der Höhe des Einkommens bemessene Erhöhung um den Steigerungsbetrag der Anreizfunktion. Die Kammer wird deshalb den Steigerungsbetrag (der deutlich höhere Anteil am Freibetrag nach § 76 Abs. 2a Nr. 1 BSHG) nicht berücksichtigen. Sie wird den Grundfreibetrag zur Hälfte berücksichtigen, um sicherzustellen, dass nur diejenigen erwerbsbedingten (kleineren) Mehraufwendungen, deren Einzelnachweis unverhältnismäßig aufwändig wäre, in die Feststellung des Existenzminimums bei Erwerbstätigkeit einfließen. Ein Sechzehntel des Regelsatzes betrug 2004 in Berlin 18,50 Euro.

Bei Anwendung eines strengen Maßstabes geht die Kammer für 2004 von einem Betrag des arbeitsrechtlich maßgeblichen Existenzminimums für alleinstehende Erwerbstätige in Berlin in Höhe von 780,20 Euro aus. Dieser setzt sich zusammen aus dem Regelsatz einschließlich typischer notwendiger Einmalleistungen, den Kosten einer angemessenen Unterkunft (§ 12 BSHG) und den vom Einkommen abzusetzenden Ausgaben, Aufwendungen wegen der Erwerbstätigkeit und Beiträgen zu öffentlichen oder privaten Versicherungen, soweit die Beiträge nach Grund und Höhe angemessen sind (§ 76 Abs. 2 Nr. 3, 4, Abs. 2a BSHG). Nach der Regelungsstruktur zählen zwar die von § 76 Abs. 2 Nr. 3, 4, Abs. 2a BSHG erfassten Positionen nicht zum notwendigen Lebensunterhalt nach § 12 BSHG. Sie reduzieren jedoch das erzielbare Nettoeinkommen und dienen teilweise (§ 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG) der Absicherung existenzieller Bedürfnisse des Erwerbstätigen. Sie müssen deshalb zum notwendigen Lebensunterhalt hinzugerechnet werden, um einen Maßstab für das arbeitsrechtlich maßgebliche minimale Nettoeinkommen zu ermitteln.

Der Regelsatz betrug 2004 (wie auch 2006) unter Berücksichtigung von einmaligen Sozialhilfeleistungen 345,00 Euro. Dieser Wert ergibt sich aus dem Regelsatz des Arbeitslosengeldes II, wie er 2004 bereits durch Bekanntmachung des SGB II im Dezember 2003 verkündet war.

Für die Kosten der angemessenen Unterkunft berücksichtigt die Kammer einen Wert von 297,00 Euro. Dem liegt eine Nettokaltmiete von 197,10 Euro zugrunde. Dabei geht die Kammer von der durchschnittlichen Wohnfläche eines Einpersonenhaushalts mit geringstem verfügbarem Einkommen, wie sie im 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mitgeteilt wurde, aus: 45 m². Die Kammer berechnet die Nettokaltmiete für eine solche Wohnfläche mit einem unteren Mittelwert für einfache Wohnlagen in Berlin nach dem maßgeblichen Mietspiegel 2005 (4,38 Euro pro m²). Nebenkosten und Heizung errechnet die Kammer nach den aktuellen Orientierungswerten für das SGB II mit 2,22 Euro pro m² (Stand: 7. Juni 2005). Damit geht die Kammer von der Unterkunft eines durchschnittlichen Grundsicherungsempfängers aus und nicht von den Vorgaben für eine angemessene Unterkunft nach den 2004 geltenden sozialhilferechtlichen Ausführungsvorschriften in Berlin (vom 16. Juni 2003), die eine (um 10 Prozent überschreitbare – Nr. 2.2. der Ausführungsvorschriften) Nettokaltmiete von immerhin ca. 225 Euro (Bruttowarmmiete: 335 Euro) noch als angemessen angesehen haben. Derzeit gilt in Berlin für alleinstehende Berechtigte nach dem SGB II ein Richtwert von 360 Euro (warm), der ggf. um 10 Prozent überschritten werden darf. Zwar hält es die Kammer für zulässig, die Kosten für angemessenen Wohnraum an den zugelassenen Höchstwerten zu orientieren (das Existenzminimum lag bei einem solchen Maßstab für 2004 bei 813 Euro [entspricht Bruttolohn von 1060 Euro; 2006: 835 Euro Existenzminimum, 1100 Euro Monatsbruttolohn, entspricht bei 38-Stunden-Woche einem Stundenlohn von 6,71 Euro]). So ist jedenfalls eine durchschnittliche Unterkunft eines Sozialhilfeberechtigten für die Bestimmung des Grenzwertes das unterste Kriterium für die hier anzustellende Betrachtung. Eine unterdurchschnittliche Unterkunft, wobei der Durchschnitt bereits auf Sozialhilfeempfänger bezogen wird, kann nach Auffassung der Kammer nicht mehr maßgeblich sein. Da die Kammer einen strengen Maßstab anlegt, soll der Durchschnittswert und nicht die Richtwerte für angemessenen Wohnraum angewandt werden. Das BVerfG hält sogar eine Orientierung am Durchschnitt für eher ungeeignet, wenn dadurch in einer größeren Zahl von Fällen das Existenzminimum nicht gedeckt wird (BVerfG Beschluss vom 29.05.1990, Az. 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 Abs. 117 - BVerfGE 82, 60). Auch dies spricht dafür, dass die Kammer hier einen eher zu strengen Maßstab anlegt.

Als mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Aufwendungen nach § 76 Abs. 2 Nr. 4 BSHG setzt die Kammer die BVG-Monatskarte mit 64 Euro (2006: 67 Euro) und den Pauschalbetrag nach § 3 Abs. 5 der Verordnung zur Durchführung von § 76 BSHG für Arbeitsmittel von 5,20 Euro an. Als Beiträge zu öffentlichen oder privaten Versicherungen oder ähnlichen Einrichtungen im Sinne des § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG wertet die Kammer die auf das Einkommen bezogenen förderungsfähigen Beiträge zur "Riester-Rente" mit 20,20 Euro und Beiträge zu den existenzsichernden Versicherungen, die als angemessen zu betrachten sind (Haftpflicht, Unfall, Hausrat) in Höhe von 30,30 Euro. Die Abzugsfähigkeit der "Riesterrente" als ähnliche Einrichtung (Beiträge 2004 2 % des Bruttoverdienstes: 20,20 Euro; 2006 3 %: 30,30 Euro) ergibt sich nach §§ 82 Abs. 2 Nr. 3 SGB XII und 11 Abs. 2 Nr. 4 SGB II unmittelbar aus dem Gesetz. Sie muss wegen der Verkündung des SGB II im Dezember 2003 auch im Rahmen des § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG im Jahre 2004 als angemessen beurteilt werden. Der Wert für die Beiträge der Versicherungen lehnt sich an § 3 Abs. 2 Arbeitslosenhilfe-VO 2002 an, wonach ein Satz von 3 Prozent des Bruttoeinkommens als angemessen galt. Die "Angemessenheit" von Vorsorgeaufwendungen beurteilt sich sowohl danach, für welche Lebensrisiken (Grund) und in welchem Umfang (Höhe) Bezieher von Einkommen knapp oberhalb der Sozialhilfegrenze solche Aufwendungen zu tätigen pflegen (BVerwG Urteil vom 27.06.20025 C 43/01 - BVerwGE 116, 342). Das BVerwG hat als durch die Aufgabe der Sozialhilfe im Rahmen von § 76 Abs. 2 Nr. 3 BSHG gerechtfertigt angesehen, wenn die Versicherung im Ergebnis, wenn auch nicht notwendig zum Wegfall, so doch wenigstens zu einer Entlastung der Sozialhilfe führt. Dabei hat das BVerwG es genügen lassen, dass eine Verbesserung irgendwann eintreten kann (BVerwG ebd.). Die Kammer berücksichtigt ausschließlich existenzsichernde Versicherungen, wie Haftpflicht-, Unfall- und Hausratversicherung, die die Absicherung existenzieller Risiken, insbesondere auch im Hinblick auf die Risiken der Erwerbstätigkeit, und der hauswirtschaftlichen Absicherung (Hausrat) dienen und auch bislang dem Grunde nach abzugsfähig erschienen. In diesem Betrag mag sich auch der Beitrag für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft oder eine arbeitsrechtliche Rechtsschutzversicherung wiederfinden. Entsprechende Beiträge sind mithin dem Grunde nach berücksichtigungsfähig. Der Ansatz der Kammer ist auch hinsichtlich der Höhe gerechtfertigt, weil die der Festlegung der Dreiprozentregelung der Arbeitslosenhilfe-VO 2002 zugrunde liegenden Werte bereits 1998 erhoben wurden (also vor Einführung der "Riester-Rente"). Überdies zeigt der Streit um den Prozentwert (der letztendlich zur Aufhebung der Regelung durch das BSG führte, Urteil vom 9.12.2004, B 7 AL 24/04 R), dass der Wert streng gesetzt war, für den Zweck der hier anzustellenden Betrachtung also noch geeignet erscheint. Schließlich ist der Freibetrag nach § 76 Abs. 2a Nr. 1 BSHG in Höhe von 18,50 Euro zu berücksichtigen (s.o.).

Es ergibt sich der Gesamtbetrag von 780,20 Euro (345 + 297 + 64 + 5,2 + 20,2 + 30,3 + 18,5) für ein Existenzminimum in Berlin 2004 (2006: 795). Es handelt sich dabei um einen äußerst strengen Wert, der nach Auffassung der Kammer nicht mehr (für Berliner Verhältnisse) unterschritten werden darf (siehe den Hinweis bei den Unterkunftskosten auf BVerfG Beschluss vom 29.05.1990, Az. 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 Abs. 117 - BVerfGE 82, 60). Im Hinblick auf die Berücksichtigung der anderen Werte hält die Kammer den Betrag von 780,20 Euro für gerade noch verfassungsgemäß. Dem entsprach ein Bruttogehalt von 1010 Euro (netto: 782,84 Euro; 2006: 1050 Euro brutto = 796,69 Euro netto) bei einem Krankenversicherungsbeitrag von 14,3 Prozent, wie ihn § 133 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB III zu Grunde legt, und Steuerklasse I (für Alleinstehende ohne Kinder). Diesem Bruttogehalt entspricht ein Stundenlohn von 6,16 Euro (2006: 6,40 Euro) im Rahmen einer 38-Stunden-Woche (Bundesdurchschnitt ist eine Wochenstundenzahl von 37,7). Bei einer 40-Stunden-Woche beträgt der Stundenlohn für dieses Bruttogehalt 5,84 Euro (2006: 6,07 Euro) und bei einer 35-Stunden-Woche 6,64 Euro (2006: 6,91 Euro).

Der Klägerin war bei einer nach Tarifvertrag vollschichtigen Beschäftigung mit einer 35-Stunden-Woche bei einem Stundenlohn von 5,93 Euro ein monatlicher Bruttoverdienst von 899,38 Euro angeboten worden. Dieser Monatslohn erreicht nicht das von der Kammer streng bemessene Existenzminimum von 1010 Euro. Es handelt sich deshalb um ein sittenwidriges Lohnangebot. Der Arbeitgeber kann sich insofern auch nicht auf den Tarifvertrag vom 29. Mai 2003 – Entgelttarifvertrag Zeitarbeit (IGZ und DGB-Gewerkschaften) berufen. Dieser Tarifvertrag sah in § 2 als Eingangsstundenlohn für die geringste Entgeltgruppe 6,85 Euro vor. Dieser Stundenlohn liegt über sämtlichen für 2004 errechneten Stundenlöhnen auf Existenzsicherungsebene, ist insofern also nicht zu beanstanden. Er verstößt nicht gegen die wesentlichen Verfassungsprinzipien. Nach § 3 des Tarifvertrages wurde ein Abschlag in Höhe von 13,5 Prozent auf die Entgelte der Eingangs-, Haupt- und Zusatzstufe für Arbeitnehmer, die in Betriebe in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen überlassen werden, vereinbart. Bei uneingeschränkter Wirksamkeit dieser Vorschrift würde sich eine Reduzierung des Stundenlohnes der Eingangsstufe der geringsten Entgeltgruppe auf die der Klägerin angebotenen 5,93 Euro ergeben. Nach Auffassung der Kammer ist § 3 des Tarifvertrages vom 29. Mai 2003 derart auszulegen, dass die Absenkung nur insoweit erfolgen darf, als für Arbeitnehmer aus Berlin bei vollschichtiger Beschäftigung ein Monatsbruttolohn von 1010 Euro und für Arbeitnehmer aus den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen ein Bruttomonatslohn von 950 Euro gesichert wird. Der Grenzwert von 950 Euro ergibt sich dabei aus einer entsprechenden Anwendung der oben entwickelten Grundsätze. (Regelsatz von 331 Euro, Unterkunftskosten von 277,20 Euro [42 m² - siehe 2. Armutsbericht], Versicherungen 28,5 Euro, Riester-Rente 19,00 Euro, Fahrtkosten und Arbeitsmittel unverändert, Freibetrag nach § 76 Abs. 2a BSHG von 17,75 Euro – ergibt 742,65 Euro, entspricht brutto: 950 Euro, Stundenlohn bei 38-Stunden-Woche: 5,79 Euro.) Das der Klägerin unterbereitete Angebot liegt demnach selbst unter dem relevanten "ostdeutschen" Existenzminimum. Eine solche Auslegung erscheint aus den folgenden Gründen möglich und im Ergebnis dann auch notwendig. Nach § 4 Abs. 3 Var. 2 TVG sind Abweichungen zu Gunsten des Arbeitnehmers stets möglich. § 3 des Tarifvertrages kann also in Verbindung mit § 4 Abs. 3 Var. 2 TVG als Maximalreduzierung für das Beitrittsgebiet gelesen werden, die dem Arbeitgeber einen Spielraum im Sinne einer Sollvorschrift einräumt. Danach wäre die Absenkung regelmäßig vorzunehmen, im Ausnahmefall, dass das Existenzminimum nicht erreicht würde, dürfte nur allerdings nur eine eingeschränkte Absenkung anzuwenden. Dass die Tarifvertragsparteien keine sittenwidrige Vereinbarung treffen wollten, ergibt sich aus den geregelten Stundenlöhnen bezogen auf die typische Wochenarbeitszeit von 38 Stunden, wobei im Beitrittsgebiet die durchschnittliche Arbeitszeit bei 40 Stunden liegt. Unter diesen Voraussetzungen liegen selbst die abgesenkten Werte sogar der niedrigsten Entgeltgruppe in der Eingangsstufe regelmäßig über dem Existenzminimum. Es lässt sich mithin der Wille der Tarifvertragsparteien zu einer verfassungskonformen Entlohnung feststellen. Unter diesen Umständen gebietet sich eine geltungserhaltende Auslegung auch für den Fall, dass allein wegen der Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf die vom Tarifvertrag vorgesehene Untergrenze von 35 Wochenstunden für eine vollzeitige Beschäftigung das verfassungsrechtlich gebotene Existenzminimum nicht erreicht würde. Dabei ist auf den Bruttomonatslohn abzustellen, weil gerade bei Leiharbeit in Vollzeit die zeitliche Flexibilität des Arbeitnehmers in besonderem Maße gefragt ist und sich regelmäßig eine zusätzliche Nebentätigkeit verbietet. Die Bewertung der Tarifvertragsparteien, dass eine 35-Stunden-Woche bei Leiharbeit einer Vollzeittätigkeit entspreche, ist von der Kammer nicht zu beanstanden. Dies gilt insbesondere, wenn man die Besonderheiten der Leiharbeit (wechselnde Entleiher, unterschiedliche Fahrtwege usw.) berücksichtigt.

Kann sich der Arbeitgeber hinsichtlich des Lohnangebotes nicht auf den Tarifvertrag stützen, erscheint sein Angebot nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig, verstieß damit gegen gesetzliche Vorgaben im Sinne von § 121 Abs. 2 Var. 1 SGB III. Die Beklagte durfte der Klägerin das Angebot deshalb nicht unterbreiten. Die Klägerin war nicht Gewerkschaftsmitglied, so dass der Tarifvertrag ohnehin nicht für das Arbeitsverhältnis im Sinne von § 121 Abs. 2 Var. 2 SGB III zwingend gewesen wäre.

Die Beschäftigung war der Klägerin nach Auffassung der Kammer aber auch aus personenbezogenen Gründen nach § 121 Abs. 3 Satz 1 SGB III nicht zuzumuten. Das angebotene Arbeitsentgelt war erheblich niedriger als das der Bemessung des Arbeitslosengeldes zugrunde liegende Arbeitsentgelt von 11,80 Euro pro Stunde. Zwar scheint Satz 3 der Vorschrift gegen eine personenbezogene Unzumutbarkeit zu sprechen, weil das angebotene Nettoentgelt abzüglich der notwendigen Aufwendungen deutlich über dem der Klägerin gewährten Arbeitslosengeld lag. Indes würde § 121 Abs. 3 Satz 1 SGB III zur bloßen Leerformel ohne regulativen Gehalt (so allerdings Valgolio in Hauck/Noftz: SGB III, § 121 Rn. 43: es handele sich um einen nichts sagenden Programmsatz), wollte man in ihr nicht eine Auffangregelung im Sinne einer Generalklausel erblicken. Als solche kann § 121 Abs. 3 Satz 1 SGB III insbesondere dann zu Geltung kommen, wenn schwerwiegende Gründe dafür sprechen, die Regelung des Satzes 3 für den Betroffenen günstiger auszulegen. Eine solche günstigere Auslegung kommt insbesondere in Betracht, wenn der Arbeitslosengeld-Anspruch durch Teilzeitarbeit erworben wurde, während nach Wegfall der Gründe für die Beschränkung auf Teilzeitarbeit wieder eine vollschichtige Tätigkeit des Arbeitslosen in Betracht kommt. (Vgl. zur Notwendigkeit günstigerer Auslegung des § 121 im Hinblick auf Art. 12 GG: Steinmeyer in Gagel: SGB III, § 121 Rn. 23 ff.) Dies gilt gerade in Fällen, in denen alleinerziehende Mütter von einer Teilzeitbeschäftigung ihre Erwerbstätigkeit auf Vollzeitbeschäftigung steigern. In solchen Fällen erscheint es auch im Hinblick auf das europarechtliche Gleichbehandlungsgebot bedenklich, wenn man es bei dem von § 121 Abs. 3 Satz 3 SGB III geforderten Vergleich von Nettoeinkommen abzüglich Werbungskosten zur Leistung belassen wollte. Bei strenger Anwendung von § 121 Abs. 3 Satz 3 SGB III wären damit regelmäßig Frauen darauf verwiesen, Vollzeitbeschäftigungen mit erheblich geringeren Stundenverdiensten als zumutbar hinzunehmen. Insofern erscheint die hier bevorzugte Auslegung unter Rückgriff auf den in Satz 1 geregelten Grundsatz geeignet, eine indirekte Diskriminierung von Frauen zu vermeiden, ohne dass Wortlaut und Regelungssystematik des § 121 Abs. 3 SGB III überstrapaziert würden. Insofern lässt sich auf einen fiktiven Leistungsbezug unter Zugrundelegung einer vollschichtigen Vorbeschäftigung abstellen, der sodann mit den Bedingungen der angebotenen Vollzeit-Tätigkeit verglichen werden kann. Nach diesen Grundsätzen war die angebotene Arbeit der Klägerin nicht zuzumuten. Die alleinerziehende Klägerin betreute zwei minderjährige Söhne. In der Erziehungsleistung ist ein hinreichender Grund zu sehen, lediglich einer Erwerbstätigkeit in Teilzeit nachzugehen und sodann auf eine Vollzeit-Beschäftigung zu wechseln. Die Klägerin war seit 1994 stets in Teilzeitbeschäftigungen von maximal 25 Wochenstunden mit einem regelmäßigen Stundenlohn von 10,00 Euro, in der letzten Beschäftigung von 11,80 Euro tätig. Nachdem die Söhne ein aus Sicht der Klägerin entsprechendes Alter erreicht hatten, war die Klägerin zur Aufnahme einer Vollzeitbeschäftigung bereit. Zum Ende ihrer letzten Tätigkeit war ihr jüngster Sohn inzwischen 14 Jahre alt geworden. Bei einer vollschichtigen Beschäftigung als Grundlage des Arbeitslosengeld-Anspruches mit einem Umfang von 35 Wochenstunden hätte die Klägerin eine Leistung von ca. 824 Euro erhalten. Das der Klägerin angebotene Arbeitsverhältnis lag mit seinem Nettolohnangebot deutlich darunter, wie sich auch aus dem Vergleich der Stundenlöhne ergibt (bei solchem Vergleich handelt sich praktisch eine Halbierung). Diese erscheint im Lichte von § 121 Abs. 3 Satz 1 SGB III unzumutbar.

Es konnte deshalb beginnend am 20. Juli 2004 keine Sperrzeit wegen Ablehnung des Stellenangebotes des Arbeitgebers eintreten. Gesundheitliche personenbedingte Gründe für eine Unzumutbarkeit der Arbeitsstelle konnte die Kammer nicht annehmen, weil sich ein entsprechender medizinischer Sachverhalt nicht feststellen ließ. Ausweislich des Befundberichtes der behandelnden Hausärztin hatte die Klägerin medizinische Hilfe bereits seit März 2003 nicht mehr in Anspruch genommen. Dies spricht gegen eine Gefährdung durch eine entsprechende Tätigkeit auf dem von der Klägerin behaupteten Niveau. Inwieweit Nachtdienste der Klägerin im Hinblick auf die Betreuung ihrer Söhne nicht zuzumuten waren, kann die Kammer wegen der Unzumutbarkeit der Beschäftigung nach § 121 Abs. 2 SGB III offen lassen.

Für den Zeitraum vom 18. August bis 7. September 2004 ist eine Sperrzeit eingetreten, weil die Klägerin durch ihr Verhalten das Zustandekommen des Arbeitsverhältnisses mit der Anbieterin vereitelt hatte. Sie hatte sich insbesondere zu spät bei der Anbieterin gemeldet. Einen wichtigen Grund für die Verspätung hatte sie nicht. Insoweit folgt die Kammer der zutreffenden Begründung des Widerspruchsbescheides und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Allerdings verkürzt sich die Dauer der Sperrzeit nach § 144 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 lit. c) SGB III auf drei Wochen, weil es sich um die erstmalige Ablehnung einer Arbeit handelte. Die Ablehnung des Angebotes des Arbeitgebers kann hierbei nicht berücksichtigt werden. Es handelt sich um die kürzeste gesetzlich vorgesehene Sperrzeitdauer bei Arbeitsablehnung, so dass die Gründe der Klägerin für die verspätete Vorstellung bei der Anbieterin unberücksichtigt bleiben müssen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den überwiegenden Erfolg der Rechtsverteidigung. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache war die Berufung für die Beklagte zuzulassen. Sofern die Klägerin sich auf die durch die "Probearbeit" gestützte Erwartung der Einstellung auf das zweite Stellenangebot zur Vermeidung der zweiten Sperrzeit beruft, sieht die Kammer ebenfalls eine grundsätzliche Bedeutung der Angelegenheit und lässt auch für die Klägerin die Berufung zu.
Rechtskraft
Aus
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