B 3 KR 4/05 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 KR 287/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 97/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 KR 4/05 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Verordnungsfähigkeit von Dauermessungen des Blutzuckerwertes bei Diabetespatienten als Maßnahme der häuslichen Krankenpflege.
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. November 2004 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die 1918 geborene, bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin leidet an einer insulinpflichtigen Diabeteserkrankung, die ua zu einer hochgradigen Sehbehinderung und Taubheitsgefühlen in den Fingern geführt hat. Da sie allein in ihrer Wohnung lebt und krankheitsbedingt nicht in der Lage ist, die notwendigen medizinischen Maßnahmen zur Diabetesbehandlung selbst durchzuführen, wird sie von einem Krankenpflegedienst versorgt. Ihr Hausarzt verordnete am 18. Januar 2002 für die Zeit bis zum 31. März 2002 zur Sicherung des Ziels der ambulanten ärztlichen Behandlung häusliche Krankenpflege nach § 37 Abs 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in Form von zweimal täglich durchzuführenden Blutzuckermessungen und Insulininjektionen zur Ersteinstellung. Die Beklagte bewilligte die Insulininjektionen insgesamt, die Blutzuckermessungen aber nur bis zum 14. Februar 2002, weil nach den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (jetzt: Gemeinsamer Bundesausschuss) über die Verordnung von häuslicher Krankenpflege (HKP-RL) nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 und Abs 7 SGB V vom 16. Februar 2000 (BAnz Nr 91 vom 13. Mai 2000 S 8878) diese Leistung bei der Erst- und Neueinstellung der Blutzuckerwerte grundsätzlich nur für 28 Tage verordnet werden dürfe (Bescheid vom 25. Januar 2002). Ein Widerspruch ist hiergegen nicht eingelegt worden. Ungeachtet dessen hat der Pflegedienst die verordneten Blutzuckermessungen auch in der Zeit vom 15. Februar 2002 bis zum 31. März 2002 erbracht. Für das zweite Quartal 2002 verordnete der Hausarzt am 23. März 2002 wiederum täglich zwei Blutzuckermessungen und Insulininjektionen. Die Beklagte bewilligte die Maßnahmen bis zum 14. April 2002 insgesamt, danach aber nur noch die Injektionen, weil nach den HKP-RL das routinemäßige Dauermessen der Blutzuckerwerte nach der Erst- oder Neueinstellung nur zur Fortsetzung einer sog "intensivierten Insulintherapie" verordnungsfähig sei, die hier nicht durchgeführt werde (Bescheid vom 9. April 2002). Der Widerspruch der Klägerin vom 19. April 2002 blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15. August 2002). In der Folgeverordnung des Hausarztes vom 28. Juni 2002 für das dritte Quartal 2002 waren nur noch täglich zwei Insulininjektionen (sowie erstmals tägliche Medikamentengaben), nicht aber mehr die Blutzuckermessungen aufgeführt. Die Beklagte hat diese Leistungen ohne Einschränkung bewilligt. Der Pflegedienst hat in diesem Quartal auch keine Blutzuckermessungen mehr durchgeführt und das Insulin nach dem ärztlich angeordneten Schema ohne Kenntnis der konkreten Blutzuckerwerte verabreicht (sog "konventionelle Insulintherapie"). Die Klägerin hat in der Zeit vom 15. April bis zum 30. Juni 2002 53 Blutzuckermessungen auf eigene Kosten durchführen lassen und dem Pflegedienst dafür 102,82 Euro (53 x 1,94 Euro) bezahlt. Mit der Klage hat sie von der Beklagten die Erstattung dieser Kosten verlangt und die Feststellung der Sachleistungspflicht zur häuslichen Diabetesbehandlung auch für die Zukunft begehrt. Wegen des sehr schwankenden Blutzuckerspiegels und der Gefahr der Unterzuckerung seien die Blutzuckermessungen über den 14. April 2002 hinaus erforderlich gewesen. Dies gelte auch für die Zukunft. Sie könne wegen ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen die Messungen selbst nicht vornehmen.

Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten vom 9. April 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2002 im angefochtenen Umfang aufgehoben und die Beklagte verurteilt, "der Klägerin die nachgewiesenen Aufwendungen für die seit 15. April 2002 beschafften Fremdleistungen zur täglichen Messung und Ausgleichung der Diabeteserkrankung entsprechend der ärztlichen Verordnung von Dr. S zu erstatten". Es hat ferner "festgestellt, dass die Beklagte gemäß § 27 SGB V zur Erbringung von Sachleistungen zur Krankenbehandlung der Diabeteserkrankung verpflichtet ist" (Urteil vom 11. März 2003). Die regelmäßigen Blutzuckermessungen seien Maßnahmen der Behandlungspflege, die als Teil der erforderlichen Insulintherapie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung, Verschlimmerungen der Diabeteserkrankung und ihrer Folgen zu verhüten, medizinisch erforderlich seien. Die HKP-RL seien zwar für die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringer verbindlich, könnten jedoch nicht den gesetzlichen Leistungsanspruch der Versicherten ausschließen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat nur über den Kostenerstattungsanspruch für den Zeitraum vom 15. April 2002 bis zum 30. Juni 2002 entschieden, weil Blutzuckermessungen im dritten Quartal 2002 vom Hausarzt nicht mehr verordnet seien und etwaige spätere Verordnungen jedenfalls nicht mehr zur Bewilligung vorgelegt worden seien, so dass es insoweit an anfechtbaren Entscheidungen der Beklagten fehle. Über die vom SG getroffene Feststellung hat das LSG ebenfalls nicht entschieden, nachdem die Beklagte in der mündlichen Verhandlung am 25. November 2004 klargestellt hatte, dass sie sich gegen die "allgemeine Feststellung der Sachleistungspflicht" nicht wende. Das LSG hat die Berufung der Beklagten gegen die Verurteilung zur Kostenerstattung nach § 13 Abs 3 SGB V zurückgewiesen (Urteil vom 25. November 2004). Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die HKP-RL zwar verbindlich seien, sich deren Funktion aber darauf beschränke zu regeln, welche medizinische Leistungen unter welchen Voraussetzungen vom Arzt auf nichtärztliche Fachkräfte delegiert werden dürften. Werde eine Behandlungsmaßnahme von den HKP-RL nicht erfasst, sei sie aber dennoch - wie hier die weiteren regelmäßigen Blutzuckermessungen - zur wirksamen Therapie einer Krankheit notwendig, bleibe es beim Anspruch auf Durchführung der Maßnahme - ggf im Wege des Hausbesuchs - durch den Vertragsarzt. Auf wirtschaftliche Gesichtspunkte komme es dabei nicht an. Für die Kosten der vom Pflegedienst im Auftrag der Klägerin erbrachten ärztlichen Leistung habe die Beklagte einzustehen.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§§ 13, 37, 92 SGB V). Das LSG habe den Kostenerstattungsanspruch ohne Rechtsgrundlage zuerkannt. Für Versäumnisse des Arztes habe sie nicht einzustehen. Zudem weiche das LSG mit seiner Entscheidung über die Funktion der HKP-RL von mehreren Urteilen des BSG ab. Die HKP-RL regelten abschließend die Verordnungsfähigkeit von häuslichen Blutzuckermessungen zu Lasten der Krankenkassen. Fehle es an der Verordnungsfähigkeit einer bestimmten Maßnahme, weil der Bundesausschuss sie als medizinisch nicht notwendig einstufe, wie es für regelmäßige Blutzuckermessungen bei konventioneller Insulintherapie der Fall sei, entfalle die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Das LSG habe unter Verletzung der Pflicht zur Amtsermittlung nach § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Blutzuckermessungen ab 15. April 2002 für medizinisch notwendig erachtet, weil es sich dabei nicht allein auf die Auskunft des Hausarztes vom 16. Mai 2002 habe stützen dürfen.

Die Beklagte beantragt, die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. November 2004 und des Sozialgerichts Nürnberg vom 11. März 2003 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Revision mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Beklagte verurteilt wird, an sie 102,82 Euro zu zahlen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil als zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nach den §§ 165, 153 Abs 1, 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.

II

Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Ob die Vorinstanzen den Kostenerstattungsanspruch für den Zeitraum vom 15. April 2002 bis zum 30. Juni 2002 zu Recht zuerkannt haben, lässt sich nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht abschließend entscheiden. Das LSG wird zu ermitteln haben, ob die Blutzuckermessungen im fraglichen Zeitraum medizinisch notwendig gewesen sind. Die Auskunft des Hausarztes vom 16. Mai 2002 ist verfahrensfehlerhaft als insoweit ausreichend angesehen worden.

Die auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachtenden Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor. Das LSG hat zu Recht eine Entscheidung in der Sache getroffen. Die Berufung der Beklagten war auch ohne ausdrückliche Zulassung dieses Rechtsmittels zulässig, weil das SG entsprechend dem erstinstanzlichen Klagebegehren nicht nur über einen - damals noch nicht bezifferten - Kostenerstattungsanspruch für zweieinhalb Monate bis zum 30. Juni 2002 entschieden hat, sondern über einen zeitlich nicht ausdrücklich begrenzten und damit die Zeit vom 15. April 2002 bis zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 11. März 2003 (11 Monate) erfassenden Kostenerstattungsanspruch sowie einen die Folgezeit (ab 12. März 2003) betreffenden, zeitlich unbegrenzten Feststellungsanspruch über eine Sachleistungspflicht der Beklagten für die notwendigen häuslichen Behandlungspflegemaßnahmen. Die zunächst unbeschränkt eingelegte Berufung der Beklagten betraf daher einen Anspruch auf "wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr" und war deshalb unabhängig von der Höhe der aufgewendeten Kosten auch ohne Zulassungsausspruch durch das SG nach § 144 Abs 1 Satz 2 SGG zulässig. Dass Kosten für Blutzuckermessungen in der Zeit ab 1. Juli 2002 nicht angefallen sind, ist für die Zulässigkeit der Berufung ebenso unerheblich wie die nachträgliche Ausklammerung des Feststellungsanspruchs aus dem Berufungsbegehren der Beklagten, weil es insoweit gemäß § 202 SGG iVm § 4 Abs 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) nur auf den Umfang der sozialgerichtlichen Entscheidung und das anfängliche Berufungsbegehren des Rechtsmittelführers ankommt (BSGE 16, 134, 135 und 37, 64, 65; BSG SozR 1500 § 146 Nr 6; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, Vor § 143 RdNr 10 b und § 144 RdNr 19).

Die Vorinstanzen haben es verfahrensfehlerhaft unterlassen, den Kostenerstattungsanspruch für die Zeit bis zum 11. März 2003 (so das SG) bzw bis zum 30. Juni 2002 (so das LSG) konkret beziffern zu lassen, wie es nach § 106 Abs 1 SGG geboten gewesen wäre, wonach der Vorsitzende darauf hinzuwirken hat, dass "sachdienliche Anträge" gestellt werden. Geht es um Kostenerstattungsansprüche oder sonstige Zahlungsforderungen, müssen diese soweit als möglich beziffert werden, um der Gefahr von Folgeprozessen über die Höhe dieser Forderung vorzubeugen und ggf die Zwangsvollstreckung zu ermöglichen. Eine solche Bezifferung ist für die Vergangenheit, dh im Einzelfall ggf auch für die Zeit bis zur mündlichen Verhandlung, in aller Regel möglich und dann auch prozessual geboten. Die Bezifferung des hier nur noch streitigen Kostenerstattungsanspruchs für die Zeit vom 15. April 2002 bis zum 30. Juni 2002 hat der erkennende Senat nachholen lassen. Es handelt sich um die Klarstellung eines von Anfang an erhobenen Zahlungsbegehrens, die nach § 99 Abs 3 Nr 1 und 2 SGG nicht als Klageänderung gilt und deshalb nicht gegen das Verbot der Klageänderung im Revisionsverfahren (§ 168 SGG) verstößt.

Das notwendige Vorverfahren ist durchgeführt worden (§ 78 SGG). Bei sachgerechter Auslegung betrifft der Widerspruchsbescheid vom 15. August 2002 nur das zweite Quartal 2002, in dem die hier streitigen Kosten angefallen sind, und nicht das erste Quartal 2002, obgleich er nach dem Wortlaut nur den das erste Quartal betreffenden Bescheid vom 25. Januar 2002 und die Zeit ab 15. Februar 2002 erwähnt, nicht aber den Bescheid vom 9. April 2002, der das zweite Quartal 2002 betrifft. Der Widerspruch vom 19. April 2002 bezog sich nach dem Gesamtzusammenhang nur auf das zweite Quartal 2002, über den im Bescheid vom 9. April 2002 entschieden worden ist. Die unrichtigen Daten des Widerspruchsbescheids beruhen ersichtlich auf einem Versehen. In der Sache ist zutreffend über die Blutzuckermessungen des zweiten Quartals entschieden worden. Da die Klägerin ausdrücklich nur gegen den Ablehnungsbescheid vom 9. April 2002, der das zweite Quartal 2002 betrifft, nicht aber gegen den Ablehnungsbescheid vom 25. Januar 2002 Widerspruch eingelegt hat und sie mit der Klage auch nur einen Kostenerstattungsanspruch für die Zeit ab 15. April 2002, nicht aber auch für die Zeit vom 15. Februar 2002 bis zum 31. März 2002 geltend gemacht hat, kann offen bleiben, ob die vom Pflegedienst in dieser Zeit ebenfalls erbrachten Blutzuckermessungen von der Klägerin oder doch noch von der Beklagten bezahlt worden sind, nachdem der Pflegedienst die notwendige Fortsetzung der Ersteinstellung des Blutzuckerspiegels mitgeteilt hatte. Ein Kostenerstattungsanspruch für die Zeit vom 15. Februar 2002 bis zum 31. März 2002 ist nicht Streitgegenstand.

In der Sache erweist sich die Revision der Beklagten im Sinne der Zurückverweisung der Sache als begründet. Der Kostenerstattungsanspruch kann zwar nach § 13 Abs 3 SGB V iVm § 37 Abs 2 SGB V gerechtfertigt sein. Dazu bedarf es aber weiterer Feststellungen zur medizinischen Erforderlichkeit der Blutzuckermessungen ab 15. April 2002.

Nach § 13 Abs 3 SGB V sind von der Krankenkasse Kosten in der entstandenen Höhe zu erstatten, wenn sie eine unaufschiebbare notwendige Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte (1. Variante) oder eine notwendige Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (2. Variante) und dadurch dem Versicherten für die Selbstbeschaffung der Leistung Kosten entstanden sind. Die Voraussetzungen der 2. Variante liegen hier vor, wenn die mit den angefochtenen Bescheiden abgelehnten vertragsärztlich verordneten Blutzuckermessungen für die Zeit ab 15. April 2002 medizinisch notwendig waren, für deren Durchführung die Versicherte 102,82 Euro aufgewendet hat.

Mit der Rechtsauffassung des LSG lässt sich ein Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte allerdings nicht begründen, weil diese danach die Leistung nicht zu Unrecht abgelehnt hätte. Das LSG hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe sich auf die - für Ärzte, nichtärztliche Leistungserbringer, Versicherte und Krankenkassen gleichermaßen verbindlichen - HKP-RL berufen dürfen, nach denen die Blutzuckermessungen unter den hier gegebenen Umständen nicht verordnungsfähig seien. Da die Messungen deswegen nicht auf einen Krankenpflegedienst übertragen werden dürften, sie andererseits aber medizinisch notwendig seien, bleibe weiterhin der Arzt für diese Behandlungsmaßnahme zuständig, obgleich dies wirtschaftlich gesehen unsinnig erscheine. Die Nichterbringung einer notwendigen, nicht auf einen Krankenpflegedienst übertragbaren ärztlichen Behandlungsmaßnahme durch einen Vertragsarzt kann allenfalls zu einer Kostenerstattungspflicht oder Schadensersatzpflicht des Vertragsarztes oder der für ihn zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung führen, weil die Leistung über die Gesamtvergütung (§ 85 SGB V) bereits abgegolten ist, nicht aber zu einer Kostenerstattungspflicht der Krankenkasse.

Rechtsgrundlage des Sachleistungsanspruchs der Klägerin ist § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V. Danach erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Blutzuckermessungen sind bei Diabetikern krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen und zählen damit zum Bereich der Behandlungspflege. Sie dienen der ärztlichen Therapie bei Diabetes und haben den Zweck, die medizinische Behandlung zu sichern sowie die weitere Verschlimmerung der Krankheit und Spätschäden zu verhüten.

Der Einwand der Beklagten, die HKP-RL sähen die hier streitigen regelmäßigen Blutzuckermessungen bei konventioneller Insulintherapie nicht vor, ist zutreffend und führt zum Ausschluss von der Leistungspflicht der Krankenkassen, wenn die HKP-RL sich im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung zur Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots bewegen (§ 92 Abs 1 Satz 1 SGB V), was aufgrund der bislang getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilt werden kann.

Bei der Behandlung des Diabetes mellitus wird zwischen zwei Formen der Insulintherapie unterschieden. Gegenstand der "konventionellen Insulintherapie", die bei der Klägerin angewandt worden ist, ist in der Regel ein starres Schema von zwei bis drei Injektionen einer vorgegebenen Mischung aus Intermediärinsulin (verzögernd wirkend) und Normalinsulin (rasch wirkend) morgens, eventuell mittags und abends, wobei es sich um die nicht optimal auf Schwankungen des Blutzuckerwerts abstimmbare Therapievariante handelt. Gegenstand der "intensivierten Insulintherapie" ist die zweimalige Injektion eines Intermediärinsulins morgens und spät abends nach dem Basis-Bolus-Prinzip (Imitation der Basalsekretion von Insulin des Gesunden) und zusätzlich eines Normalinsulins zu den Mahlzeiten (angepasst an den Kohlehydratgehalt der Nahrung und vor der Mahlzeit gemessene Blutzuckerwerte) oder mit Insulininfusionssystemen (vgl Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl 2002, Stichwort Insulintherapie).

In Abschnitt I Nr 3 der HKP-RL heißt es, die verordnungsfähigen Maßnahmen seien in der Anlage aufgeführt; dort nicht genannte Maßnahmen seien als häusliche Krankenpflege nicht verordnungsfähig. In der Nr 11 der Anlage wird die Blutzuckermessung ("Ermittlung und Bewertung des Blutzuckergehaltes kapillaren Blutes mittels Testgerät, zB Glucometer") nur dann als verordnungsfähig bezeichnet, wenn sie der Erst- oder Neueinstellung eines insulin- oder tablettenpflichtigen Diabetes dient. Routinemäßige Dauermessungen, um die es hier geht, werden ausdrücklich nach der "Bemerkung" zu Nr 11 der Anlage als nur zur Fortsetzung der "intensivierten Insulintherapie" verordnungsfähig bezeichnet, wobei die Häufigkeit der Blutzuckermessung nach Maßgabe des ärztlichen Behandlungsplanes in Abhängigkeit von der verordneten Medikamententherapie erfolgt und bei der Folgeverordnung der HbA 1 c-Wert zu berücksichtigen ist. Die routinemäßigen Dauermessungen sind dabei nur bei solchen Patienten verordnungsfähig, (1) die unter einer so hochgradigen Einschränkung der Sehfähigkeit leiden, dass es ihnen unmöglich ist, das kapillare Blut zu entnehmen, auf den Teststreifen zu bringen und das Messergebnis abzulesen oder (2) die unter einer so erheblichen Einschränkung der Grob- und Feinmotorik der oberen Extremitäten leiden, dass sie das kapillare Blut nicht entnehmen und auf den Teststreifen bringen können oder (3) die unter einer so starken Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit leiden, dass sie zu schwach sind, das kapillare Blut entnehmen und auf den Teststreifen bringen können (zB moribunde Patienten) oder (4) bei denen eine so starke Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit und Realitätsverlust eingetreten ist, dass die Compliance bei der Diagnostik nicht sichergestellt ist. Diese persönlichen Voraussetzungen für die Verordnungsfähigkeit routinemäßiger Dauermessungen des Blutzuckerwertes müssen aus der ärztlichen Verordnung hervorgehen.

Da die Ersteinstellung bei der Klägerin abgeschlossen und eine intensivierte Insulintherapie nicht verordnet worden war, hatte sie danach keinen Anspruch auf routinemäßige Blutzuckermessungen durch einen Pflegedienst. Die unterbliebene Aufführung einer bestimmten Behandlungspflegemaßnahme in den HKP-RL steht dem Anspruch eines Versicherten allerdings nicht unter allen Umständen entgegen. Zwar handelt es sich bei den Richtlinien nach § 92 Abs 1 SGB V um untergesetzliche Normen, die auch innerhalb des Leistungsrechts zu beachten sind (grundlegend BSGE 78, 70 = SozR 3-2500 § 92 Nr 6 und BSGE 81, 73 = SozR 3-2500 § 92 Nr 7; im Anschluss daran etwa BSGE 82, 41 = SozR 3-2500 § 103 Nr 2 und BSGE 81, 240 = SozR 3-2500 § 27 Nr 9). Ein Ausschluss einer im Einzelfall medizinisch gebotenen Behandlungspflegemaßnahme verstieße aber gegen höherrangiges Recht. Ebenso wenig wie der Gemeinsame Bundesausschuss ermächtigt ist, den Begriff der Krankheit in § 27 Abs 1 SGB V hinsichtlich seines Inhalts und seiner Grenzen zu bestimmten (BSGE 85, 36 = SozR 3-2500 § 27 Nr 11), ist er befugt, medizinisch notwendige Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege aus der Verordnungsfähigkeit nach § 37 SGB V auszunehmen, wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 17. März 2005 - B 3 KR 35/04 R - BSGE 94, 205 = SozR 4-2500 § 37 Nr 4; Urteil vom 10. November 2005 - B 3 KR 38/04 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; Beschluss vom 17. August 2005 - B 3 KR 22/05 B). Die HKP-RL binden insoweit die Gerichte nicht.

Die HKP-RL stellen keinen abschließenden Leistungskatalog über die zu erbringenden Leistungen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege dar. Soweit dies aus den einleitenden Formulierungen geschlossen werden könnte, würde eine solche Auslegung von der gesetzlichen Ermächtigung nicht gedeckt. Nach § 92 Abs 1 Satz 1 SGB V beschließen die Bundesausschüsse die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten. Sie sollen insbesondere Richtlinien beschließen über ua die Verordnung von Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, Krankenhausbehandlung, häuslicher Krankenpflege und Soziotherapie (Satz 2 Nr 6 der Vorschrift). Damit ist im Unterschied zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (§ 135 SGB V) und Heilmitteln (§ 138 SGB V) keine Ermächtigung des Bundesausschusses eingeräumt, den Umfang der von den Krankenkassen zu erbringenden Leistungen der häuslichen Krankenpflege abschließend festzulegen. Nach Abs 7 Satz 1 der Vorschrift ist in den Richtlinien "insbesondere" zu regeln (1.) die Verordnung der häuslichen Krankenpflege und deren ärztliche Zielsetzung sowie (2.) die Zusammenarbeit des verordnenden Vertragsarztes mit den Leistungserbringern. Der Auftrag an den Bundesausschuss beschränkt sich - wie es dem Wesen von Richtlinien entspricht - auf die Konkretisierung und Interpretation des Wirtschaftlichkeitsgebots für die Regelfälle der häuslichen Krankenpflege, schließt aber ein Abweichen davon im Einzelfall nicht aus. Für eine Ausgrenzung notwendiger Leistungen aus dem Versorgungsauftrag der Krankenkassen, ihre Zuweisung zum Aufgabenbereich der Pflegekassen oder in die Eigenverantwortung der Versicherten (dh Selbstbeteiligung; dazu Peters in Kasseler Komm § 2 SGB V RdNr 3) - wie es die Beklagte sieht - hat der Bundesausschuss keine Ermächtigung. Demzufolge bleiben Maßnahmen der Behandlungspflege, die im Einzelfall erforderlich und wirtschaftlich sind, auch außerhalb der HKP-RL in der Leistungsverpflichtung der Krankenkassen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um die Behandlung einer akuten oder chronischen Erkrankung handelt.

Voraussetzung für die Nichtverbindlichkeit der HKP-RL bezüglich einer bestimmten Maßnahme der Behandlungspflege ist aber stets die Feststellung, dass der Bundesausschuss die besondere Fallgestaltung nicht bedacht, die Rechtsbegriffe der Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit unzutreffend ausgelegt oder die Bewertung der Notwendigkeit oder Wirtschaftlichkeit einer Behandlungsmaßnahme evident fehlerhaft vorgenommen hat (vgl BSGE 88, 62 = SozR 3-2500 § 27a Nr 3 bei Maßnahmen der künstlichen Befruchtung; BSGE 85, 132 = SozR 3-2500 § 27 Nr 12 bei Maßnahmen der medizinischen Fußpflege; BSGE 94, 205 = SozR 4-2500 § 37 Nr 4 zu nicht von der Krankengymnastik erfassten Bewegungsübungen; Urteil vom 10. November 2005 - B 3 KR 38/04 R - zur Krankenbeobachtung rund um die Uhr bei lebensbedrohlichen Krankheitszuständen).

Ob dem Bundesausschuss eine solche Fehleinschätzung beim Ausschluss routinemäßiger Dauermessungen des Blutzuckerwertes im Falle einer konventionellen Insulintherapie unterlaufen ist, lässt sich nach den getroffenen Feststellungen des LSG nicht abschließend beantworten. Der Regelungszusammenhang der Nr 11 der Anlage zu den HKP-RL lässt immerhin vermuten, dass die in Frage kommenden Fallgestaltungen vollständig erfasst worden sind. Der Bundesausschuss erklärt Blutzuckermessungen einerseits bei der Erst- oder Neueinstellung des Blutzuckerspiegels - und insoweit unabhängig von der Art der Insulintherapie und von besonderen persönlichen Voraussetzungen des Diabetespatienten - für verordnungsfähig. Andererseits behandelt er den Komplex der routinemäßigen Dauermessungen der Blutzuckerwerte und lässt diese nur bei Fortsetzung der "intensivierten Insulintherapie" zu, und zwar auch nur bei Diabetespatienten, die wegen konkreter Leistungseinschränkungen körperlicher oder geistiger Art nicht in der Lage sind, die Messungen zuverlässig selbst durchzuführen. Diese detaillierte Regelung deutet darauf hin, dass der Bundesausschuss die Problematik der Blutzuckermessungen umfassend geprüft und alle Messungen, die nicht in der Nr 11 der Anlage genannt sind, entweder als medizinisch nicht notwendig oder als selbst durchführbar eingestuft hat. Dies betrifft Blutzuckermessungen außerhalb der Erst- oder Neueinstellung bei "konventioneller Insulintherapie" generell, weil es dort um Insulingaben nach Schema geht, die nicht vom aktuellen Blutzuckerwert abhängen, sowie um die Messungen bei "intensivierter Insulintherapie", die von den Patienten noch selbst zuverlässig vorgenommen werden können. Im Hinblick darauf, dass hier der Vertragsarzt die Blutzuckermessungen dennoch als notwendig bezeichnet hat, erscheint es nicht ausgeschlossen, dass im Einzelfall routinemäßige Dauermessungen nach Abschluss der Erst- oder Neueinstellung für einen gewissen Zeitraum auch bei "konventioneller Insulintherapie" noch angezeigt sein könnten.

Die Beklagte rügt aber zu Recht, dass die Feststellung des LSG, die Maßnahme sei im streitigen Zeitraum "notwendig" gewesen, verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist. Der Hausarzt Dr. S hat zwar in seiner ärztlichen Auskunft vom 16. Mai 2002, auf die sich das LSG bezogen hat, die Notwendigkeit der Blutzuckermessungen bestätigt und mit den diversen krankheitsbedingten Funktionseinschränkungen der Klägerin begründet. Es ist auch einzuräumen, dass die Beklagte die Notwendigkeit dieser Maßnahme weder vorprozessual noch prozessual in erster und zweiter Instanz ausdrücklich bestritten hat. Die Leistungsablehnung erfolgte nicht mit der Begründung fehlender medizinischer Notwendigkeit der Blutzuckermessungen, sondern wegen fehlender Verordnungsfähigkeit nach den HKP-RL. Bei der gebotenen Prüfung der HKP-RL, insbesondere der Nr 11 der Anlage, hätte das LSG aber zu dem Schluss gelangen müssen, dass die fehlende Verordnungsfähigkeit der routinemäßigen Dauermessungen der Blutzuckerwerte bei "konventioneller Insulintherapie", um die es hier geht, darauf zurückzuführen sein kann, dass der Bundesausschuss diese Leistung als nicht "notwendig" und damit unwirtschaftlich (§§ 12, 37, 70 SGB V) eingestuft hat. Die Leistungsbewilligung bis zum 14. April 2002 beruhte - ohne dass dies im Bescheid erläutert worden ist - offenbar auf der Regelung in Teil V Nr 23 der HKP-RL, wonach die Krankenkasse die vom Vertragsarzt verordneten und vom Pflegdienst erbrachten Leistungen der häuslichen Krankenpflege bis zur Entscheidung über den Genehmigungsantrag (gemeint: bis zur Bekanntgabe dieser Entscheidung gegenüber dem Versicherten) grundsätzlich auch dann - aus Gründen des Vertrauensschutzes - zu übernehmen hat, wenn der Antrag abgelehnt wird. Bei dieser Sachlage war das LSG gehalten, von Amts wegen weitere Ermittlungen zur Notwendigkeit der Blutzuckermessungen durchzuführen, auch ohne dass die Beklagte bis dahin ausdrücklich geltend gemacht hatte, die Blutzuckermessungen seien ab 15. April 2002 nicht mehr notwendig gewesen. Das LSG durfte in Anbetracht der Einschätzung des Bundesausschusses als eines mit Fachleuten besetzten Gremiums sein Urteil über die Notwendigkeit der Blutzuckermessungen nicht allein auf eine Auskunft des verordnenden Arztes stützen. Bei den weiteren Ermittlungen kann es sich anbieten, zunächst Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) und des Gemeinsamen Bundesausschusses einzuholen, bevor ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben wird.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Rechtskraft
Aus
Saved