S 21 KR 444/06 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
21
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 21 KR 444/06 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Krankenkassen müssen auch Kosten für nicht zugelassene Behandlungsformen (Off-Label-Use) übernehmen, wenn bei fortschreitendem Krankheitsverlauf mit anhaltenden massiven Behinderungen zu rechnen ist und die Behandlung aufgrund besonderer ärztlicher Fachkunde befürwortet wird.
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragsstellerin vorläufig für die Dauer von 12 Monaten eine Therapie mit dem Arzneimittel Interferon alfa 2a (Roferon A) zu gewähren.

2. Die Antragsgegnerin hat der Antragsstellerin deren außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die 1954 geborene Antragstellerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie leidet an einem massiven chronischen zystoiden Makulaödem des rechten Auges bei beidseitiger Uveitis intermedia mit Bulbushypotonie im Rahmen eines Morbos Behcet. Sie wurde zunächst in der Augenklinik der Städtischen Kliniken F. mittels intravitreale Volo-A-Injektion am rechten Auge behandelt. Die damaligen Klinikärzte erwarteten unter Fortsetzung dieser Behandlung keine Befundbesserung mehr und stellte die Antragstellerin zur Durchführung einer systemischen Therapie in der Augenklinik des Universitätsklinikums T. vor (Arztbrief vom 13.05.2004). Eine dort durchgeführte systemische Immunsuppression zeigte keine Wirkung. Die in der Augenklinik des Städtischen Klinikums F. erfolgte Behandlung mit intravitrealen Steroidinjektionen wurde nicht fortgeführt, da sie nicht mehr ansprach und wegen der Bulbushypotonie weitere Injektionen in das rechte Auge als nicht hilfreich angesehen wurden. Im Behandlungsverlauf der Universitätsklinikum T. zeigte sich, dass das Makulaödem im rechten Auge nur noch auf so hohe Dosen an systemischen Steroiden und Acetazolamid ansprach, die aufgrund ihren Nebenwirkungen nur für eine kurzeitige Verabreichung in betracht kämen. Mit Schreiben vom 02.11.2004 beantragte der Funktionsoberarzt Dr. D. des Universitätsklinikums T. für die Antragstellerin eine Kostenübernahme der Antragsgegnerin für eine Interferon alfa-2a (Roferon-A) -Therapie, da man als auf entzündliche Augenerkrankungen spezialisierte Klinik keine anderen Alternativen mehr zu Behandlung des Makulaödems bei der Antragstellerin sehe. Die Antragsgegnerin holte daraufhin ein sozialmedizinisches Gutachten beim MDK H. ein, das die Augenärztin Frau von T.-B. aufgrund der Aktenlage in schriftlicher Form unter dem 18.01.2005 erstellte. Sie führte darin aus, es sei fraglich, ob die Antragstellerin als austherapiert anzusehen wäre und ob tatsächlich ein Therapieversuch mit hoch dosiertem Kortison und Acetazolamid erfolgt sei. Hierauf lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 31.01.2005 die Kostenübernahme für die beantragte Interferon-Therpaie ab. Den Widerspruch der Antragstellerin wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 09.06.2005 als unbegründet zurück.

Die Antragstellerin erhob hiergegen am 13.07.2005 Klage (S 18/4 KR 571/05) und beantragte an gleichen Tage, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr eine Kostenübernahme für die Interferon-Therapie zu gewähren (S 4 KR 570/05 ER). Sie legte einen Bericht der Augenklinik des Universitätsklinikum T. vom 05.08.2005 vor, in dem dargelegt wird, die Antragstellerin sei ab 19.05.2004 mit einer systemischen Kortisontherapie bei gleichzeitiger Gabe von Acetazolamid und ab 27.05.2004 überlappend mit einer systemischen Immunsuppression mit ZellCept behandelt worden. Eine am 16.06.2004 durchgeführte Kontrolluntersuchung habe zunächst eine Befundbesserung ergeben. Bei der nächsten Kontrolluntersuchung am 19.08.2004 sei das Makulaödem allerdings erneut wieder rezidiviert und die Sehschärfe wieder abgesunken gewesen. Angesichts dieses Befundes müsse von einer Therapieresistenz im Hinblick auf dieses Behandlungskonzept ausgegangen werden. Man sehe nur in einer Interferon-Therapie eine Behandlungsmöglichkeit mit Erfolgsaussicht. Mit dieser neuen Therapieform habe man bereits acht Patienten behandelt und Erfahrungen gesammelt, die in einem bei der Fachzeitschrift R. eingereichten und beigefügten Manuskript niedergelegt seien. Die Antragsgegnerin holte eine weitere Stellungnahme de MDK H. nach Aktenlage ein, die Dr. L. unter dem Datum vom 15.09.2005 erstellte. Er führte darin aus, bei der Antragsstellerin bestehe eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Die bei diesem Krankheitsbild konventionelle antiinflammatorische Therapie sei fehlgeschlagen. Hinsichtlich der streitgegenständlichen Interferon-Therapie lägen derzeit keine Forschungsergebnisse vor, die erwarten ließen, dass dieses Arzneimittel für betreffende Indikation zugelassen werden könne. Allerdings erforsche die Augenklinik des Universitätsklinikums T. diese Behandlungsmethode und es lägen positive erste Ergebnisse aus Pilotstudien mit kleiner Fallzahl vor. Im Falle der Antragsstellerin, sei zu bedenken, dass ein irreversibeler Visusverlust drohe. Bei chronischem Verlauf sei eine Erblindung nicht selten.

Mit Beschluss vom 31.10.2005 hat die 4. Kammer des Sozialgerichtes die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 30.06.2006 eine Therapie mit dem Arzneimittel Interferon alfa-2a zu gewähren und die Vollziehung dieser einstweiligen Anordnung davon abhängig gemacht, dass die Antragsstellerin bis dahin Sicherheit in Höhe von 7000,- Euro leiste. Diese Sicherheitsleistung hat die Antragstellerin bereitgestellt, worauf die Antragsgegnerin die im einstweiligen Rechtschutzverfahren zugesprochene Leitung gewährte. Die Therapie mit Interferon alfa-2a begann am 05.12.2005 in der Universitäts-Augenklinik T ... Es kam zur Nachuntersuchung in 4 – 6 wöchigen Abständen. Laut dem vom Gericht eingeholten Befundbericht des Oberarztes Dr. D. vom 18.07.2006 konnte eine nahezu vollständige Rückbildung des zystoiden Makulaödems des rechten Auges und damit ein Anstieg der Sehschärfe von 0,3 vor Therapie auf nunmehr 0,6 erreicht werden. Die Interferondosis habe im Behandlungsverlauf von anfänglich 6 Mio. IE täglich auf derzeit 3 Mio. IE jeden zweiten Tag reduziert werden können. Auch die vorbestehende Therapie mit Diamox und Immunssupressivum CellCept habe in der Dosis halbiert werden können. Ein Absetzen des Medikaments Interferon alfa-2a würde im Falle der Antragstellerin mit aller größter Wahrscheinlichkeit ein Rezidiv nach sich ziehen. Seit dem Antragsschreiben an die Antragsgegnerin habe sich keine Behandlungsalternative ergeben. Die Daten und Erfahrungen aus der Behandlung der ersten 8 Patienten in der Uni-Augenklinik T. wegen eines chronischen Makulaödems bei Uveitis seien in eine Publikation zusammengefasst, die voraussichtlich im September in R. veröffentlich werde und von der die Druckfahnen beigefügt wurden.

Die Antragsstellerin hat am 08.06.2006 unter Hinweis auf den Ablauf der zeitlichen Befristung der einstweiligen Anordnung des Sozialgerichtes vom 31.10.2005 bei noch laufendem Hauptsacheverfahren (S 18 KR 571/05) einen neuen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Sie verweist zur Begründung auf den Bericht der Universität- Augenklinik T. vom 18.07.2006 und im Hinblick auf die rechtliche Seite auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 06.12.2005 (1 Bv R 347/98).

Die Antragstellerin beantragt,
1. die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr die Kostenübernahme für die weitere zeitlich unbegrenzte Interferon-Therapie (Interfon-alfa-2a-Roferon-A) gemäß Antrag von 02.11.2004 durch Herrn Dr. D., Universitäts- Augenklinik T., ab 30.0.62006 zu gewähren,

2. die Entscheidung des Gerichts unabhängig von der Stellung von Sicherheiten zu treffen,

3. hilfsweise, monatliche Ratenzahlungen in angemessener Höhe zu Erbringung von Sicherheit zuzulassen,

4. der Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag zurückzuweisen, hilfsweise im Falle des Erlasses einer einstweiligen Anordnung deren Vollziehung von einer angemessenen Sicherheitsleistung der Antragstellerin abhängig zu machen.

Sie trägt vor, es fehle an einem Anordnungsanspruch. Die Antragsstellerin habe keine überwiegende Aussicht auf Erfolg in dem Hauptsacheverfahren. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgericht in dessen Beschluss vom 06.12.2005 bezögen sich nur auf den Anspruch auf Krankheitsbehandlungen in der Fallkonstellation, dass eine lebensbedrohliche oder sogar regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vorliege, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorlägen. Diese Voraussetzungen seien im Falle der Antragstellerin nicht gegeben. Weiter sei zu berücksichtigen, dass die von ihr gewählte Behandlungsmethode keine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspreche.

Die für das neue einstweilige Anordnungsverfahren zuständige 21. Kammer des Sozialgerichts Frankfurt am Main hat die Akte des noch anhängigen Hauptsachestreitverfahrens und die Akte aus dem abgeschlossenen ersten einstweiligen Anordnungsverfahren beigezogen. Es hat von der Universitäts-Augenklinik T. den Befundbericht des Oberarztes Dr. D. vom 18.07.2006 eingeholt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akten einschließlich der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet. Die Antragsstellerin hat einen Anspruch auf vorläufige Gewährung der umstrittenen Behandlung mit Interferon alfa-2a.

Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes (Anordnungsanspruch) des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Anordnungsgrund; Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Die hier in Betracht kommende Regelungsanordnung (Satz 2) ist zu bejahen, weil sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden sind (§ 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung -ZPO-).

Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der Notwendigkeit einer baldigen Fortsetzung der streitgegenständlichen Therapie, da – dessen Wirksamkeit unterstellt - ein längeres Pausieren nach dem Bericht der Universitätsaugenklinik vom 18.07.2006 mit allergrößter Wahrscheinlichkeit unmittelbar ein Rezidiv nach sich ziehen würde. Zudem wird in der für die Antragsgegnerin erstellten Stellungnahme des MDK vom 15.09.2005 hervorgehoben, dass im Falle der Antragstellerin ein irreversibler Visusverlust, der bis zur Erblindung gehen kann, droht.

Auch ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht worden. Ein solcher besteht in der Regel dann, wenn eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten des Widerspruchs- bzw. Klageverfahrens ergibt, dass ein Anspruch eines Antragsstellers auf die beantragte Therapie besteht. Jedoch kann nicht in allen Fällen eine derartig positive Prognose der Erfolgsaussichten verlangt werden. Das in Artikel 19 Abs. 4 GG gewährte Grundrecht auf lückenlosen gerichtlichen Rechtsschutz gegen geltend gemachte rechtswidrige Eingriffe der öffentlichen Gewalt in Rechte des Bürgers gebietet es nach ständiger Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts bei Vornamesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtschutz zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen liegen, die mit der Versagung des vorläufigen Rechtschutzes verbunden sind, um so weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden (vgl. die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes vom 22.11.2002, NJW 2003, S.1236 f. und vom 19.03.2004, NJW 2004, S. 310).

Die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten des Hauptsachebegehrens der Antragsstellerin ergibt, dass von deren Obsiegen in der Hauptsache auszugehen ist. Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i. V. m. § 31 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetz – Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) ist eine Krankenkasse zur Versorgung des bei ihr versicherten Mitglieds mit den für eine Krankenbehandlung notwendigen Arzneimitteln verpflichtet. Der Behandlungs- und Versorgungsanspruch eines Versicherten unterliegt allerdings den sich aus §§ 2 Abs. 1, 12 Abs. 1 SGB V ergebenden Einschränkungen. Er umfasst hiernach nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen. Der Gesichtpunkt der Gewährleistung optimaler Arzneimittelsicherheit gebietet es aber, dass Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit, also die Einhaltung der Mindestsicherheits- und Qualitätsstandards in einem dafür vorgesehenen Verfahren nachgewiesen worden sind (vgl. BSG, Urteil vom 18.05.2004 - B 1 KR 21/02 R -, SGb 2004, S. 415). Das hier in Rede stehende Medikament Roferon R ist als Fertigarzneimittel in Deutschland durch die Arzneimittelbehörde zur Behandlung der Haarzell-Leukämie, des progressiven asymptomatischen Karposi-Sarkoms bei Aids-Patienten, der Philadelphia-Chromosomen-positiven chronischen myeloischen Leukämie in der chronischen Phase, des cutanen T-Zell-Lymphomes, der chronischen Hepatitis B und C, des follikuären Non-Hodgkin-Lymphomes, des fortgeschrittenen Nierenzell-Karzinoms und des malignen Melanoms zugelassen. Keine arzneimittelrechtliche Zulassung liegt indessen für die Therapie von Patienten mit Uveitis in der Bundesrepublik Deutschland vor. Eine solche Zulassung besteht auch ansonsten nicht in Europa.

Es steht somit die Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels durch Vertragsärzte im Rahmen der Versorgung von gesetzlichen krankenversicherten Patienten für nicht zugelassene Indikationen in Rede, mithin ein so genannter Off-Label-Use. Für dieses Feld hat mittlerweile der Gesetzgeber in § 35 b Abs. 3 Satz 1 SGB V (§ 35 b SGB V ist mit Wirkung vom 01.01.2004 durch das Gesetz vom 14.11.2003, BGBI I. S. 2190, Gesundheitsmodernisierungsgesetz, eingefügt worden) bestimmt, dass vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung berufene Expertengruppen, die beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte angesiedelt sind, Bewertungen zum Stand der wissenschaftliche Erkenntnis über die Anwendung von zugelassenen Arzneimitteln für Indikation und Indikationsbereiche, für die sie nach dem Arzneimittelgesetzen nicht zugelassen sind, abgegeben. Diese Bewertungen sind in geeigneten Abständen zu überprüfen und erforderlichenfalls anzupassen. Sie sind nach § 35 b Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 2 SGB V dem für den Erlass von Arzneimittelrichtlinien zuständigen Gemeinsamen Bundesausschuss (§§ 91, 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V) als Empfehlung zur Beschlussfassung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 zuzuleiten. Damit ist der Weg eröffnet, diese Bewertungen der Expertengruppen zum Off-Label-Use in die Arzneimittelrichtlinien zu übernehmen, womit die Voraussetzungen für den Anspruch von Versicherten auf Arzneimittel außerhalb zugelassener Indikationen geschaffen werden. In Anwendung dieser Regelungen sind bereits erste Empfehlungen der Expertengruppen zu Off-Label-Use Indikation ergangen, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss beraten und dahingehend umgesetzt worden sind, dass eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinien durch Beschluss vom 18.04.2006 (BAnz Nr. 135, S. 5122 vom 20.07.2006) erfolgte. Nach dem bisherigen Abschnitt G ist ein neuer Abschnitt H eingefügt worden, in dem allgemein die Voraussetzungen für die Verordnung von zugelassenen Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten aufgeführt sind. Zum Zwecke der Konkretisierung ist diesem Abschnitt H und dessen Nummern 24 und 25 eine Anlage 9 angefügt worden, in der unter Teil A diejenigen Arzneimittel aufgezählt werden, die unter Beachtung der dazu gegebene Hinweise in den nachfolgend aufgelisteten nicht zugelassenen Anwendungsgebieten (Off-Label-Use) verordnungsfähig sind. In Teil B werden sodann für die aufgelisteten zulassungsüberschreitenden Anwendungen (Off-Label-Use) als nicht verordnungsfähig angesehene Wirkstoffe aufgeführt. Der hier in Rede stehende Arzneimittelwirkstoff Interferon alfa 2a erscheint weder in Teil A noch in Teil B der neuen Anlagen 9 der Arzneimittelrichtlinie. Dies bedeutet, dass seitens des zuständigen Gemeinsamen Bundesausschusses eine verbindliche Entscheidung zur Frage der Bewertung des Nutzens und der Wirtschaftlichkeit eines Einsatzes von Interferon alfa 2a für das bei der Klägerin bestehende Krankheitsbild eines chronischen Makulaödems bei Uveitis nicht vorliegt.

Dies besagt aber nicht, dass ein so genannter Off-Label-Use im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung damit völlig ausscheidet. Vielmehr ist in den von den neu gefassten Arzneimittelrichtlinien nicht erfassten und geregelten Fällen eines Off-label-Uses zunächst auf die Grundsätze abzustellen, welche das Bundessozialgericht aufgestellt hat. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 19.03.2002 (B 1 KR 37/00 R, BSGE 89, 184 ff.) Kriterien für eine in der vertragsärztlichen Versorgung mögliche zulassungsüberschreitende Anwendung eines Medikaments (Off-Label-Use) entwickelt. Danach kommt ein zulassungsüberschreitender Einsatz von Arzneimitteln dann in Betracht, wenn eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, keine andere Therapie verfügbar ist und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg – kurativ oder palliativ - erzielt werden kann.

Das Problem liegt in dem letzten vom Bundessozialgericht aufgestellten Kriterium. Es wird insbesondere in der Praxis der gesetzlichen Krankenkassen dahingehend verstanden, dass die Behandlung im Rahmen eines sogenannten Off-Label-Uses nur dann zu gewähren ist, wenn bereits gesicherte medizinstatistische Daten über die Wirksamkeit des eingesetzten Arzneimittels bei der vorliegenden Grunderkrankung vorliegen, die eine Zulassungserweiterung durch die Arzneimittelbehörde "erwarten lassen". Da im Zulassungsverfahren bei der Arzneimittelbehörde regelmäßig nur sogenannte "prospektive, randomisierte doppel-blinde und kontrollierte Studien" als Wirksamkeitsnachweis akzeptiert werden, wird die so genannte "höchste Evidenzstufe" zum Maßstab, d. h. eindeutig gesicherte medizin-statistische Daten. An solchen fehlt es jedoch in der Regel in Studien, die die Wirksamkeit einer zugelassungsüberschreitenden Therapie erforschen sollen. Dies hängt damit zusammen, dass in Fällen eines Off-Label-Uses dem zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln noch Versuchscharakter anhaftet. Er wird aber dennoch von den Experten des betreffenden medizinischen Fachgebietes befürwortet, da er deren Auffassung nach Aussicht auf Heilung oder Linderung verspricht, wobei sich diese Einschätzung zumeist auf eine bloße Beschreibung von einzelnen Krankheitsverläufen, Hypothesen über Wirkungsmechanismen sowie eigener ärztlicher Erfahrung aus der Behandlung eines kleinen Kollektivs von Erkrankten speist, deren Zahl wiederum so niedrig ist, dass Phase 2 –Studien oder gar Phase 3- Studien nicht in Betracht kommen. Überträgt man jedoch die Kriterien aus dem Arzneimittelzulassungsverfahren für den Wirksamkeitsnachweis, so zählt nur der Heilungserfolg als statistische Größe bei einer Vielzahl von Fällen, nicht hingegen ein solcher in einzelnen Anwendungsfällen (vgl. Goecke, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Leistungspflicht der Krankenkassen bei Off-Label-Use von Arzneimitteln, NZS 2006, 291, 292).

Hinsichtlich der bei der Antragstellerin bestehenden Erkrankung besteht im Sinne der Vorgaben des Bundessozialgerichts kein empirisches Datenmaterial von so hoher Evidenz, das eine medizinstatistisch abgesicherte Prognose zulässt, die stattfindende Behandlung mit Interferon alfa 2a werde zwar nicht zu einer Heilung aber doch zu einer so weitgehenden Befundbesserung und Stabilisierung führen, dass ein weitgehender Verlust des Sehvermögens des rechten Auges der Antragstellerin über längere Zeit hinweg verhindert werden könne. Nach den vom Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 19.03.2002 für den zulässigen Off-Label-Use aufgestellten Kriterien wäre damit die verlangte hohe Evidenzstufe für den Wirksamkeitsnachweis nicht erbracht und die Antragstellerin auf die Selbstfinanzierung der Behandlung mit dem Medikament Roferon R zu verweisen. Ein solches Ergebnis ist jedoch nach dem jüngsten Beschluss des 1 Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 von Verfassungswegen nicht hinzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung ausgeführt, dass es einer besonderen Rechtfertigung vor Artikel 2 Abs. 1 GG i.V. m. dem Sozialstaatsprinzip bedürfe, wenn einem Versicherten Leistungen für die Behandlung einer Krankheit und insbesondere einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung durch gesetzliche Bestimmungen oder durch deren fachgerichtliche Auslegung und Anwendung vorenthalten würden. Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsrechtes der gesetzlichen Krankenversicherung und seiner fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung im Einzelfall seien darüber hinaus auch die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Gestaltung des Leistungsrechtes der gesetzlichen Krankenversicherung habe sich an der objektiv- rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. Dies gelte insbesondere in Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung. Denn das Leben stelle einen Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung dar. Behördliche und gerichtliche Verfahren müssen dieser Bedeutung und der im Grundrecht auf Leben enthaltenden grundlegenden objektiven Wertentscheidung gerecht werden und sie bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechtes berücksichtigen. Aus diesen Gesichtspunkten hat das Bundesverfassungsgericht hergeleitet, dass eine Einstandspflicht der gesetzlichen Krankenkassen für Behandlungsmethoden – im entschiedenen Fall ging es um die Anwendung der Bioresonanztherapie bei Duchenne´scher Muskeldystrophie -, die nicht dem allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechen und die sich als Behandlungsmethode auch nicht in der medizinischen Praxis durchgesetzt hätten, nicht mit der Begründung verneint werden könne, deren Wirksamkeit sei nicht hinreichend nachgewiesen. In solchen Fällen müsse auch auf einem niedrigeren Evidenzniveau der Nachweis der Wirksamkeit der strittigen Behandlungsform geführt werden können. Dabei müsse allerdings die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Bedeutsam sei insoweit insbesondere auch die fachliche Einschätzung der Wirksamkeit der Methode im konkreten Einzelfall durch die Ärzte des Erkrankten. Hinweise auf die Eignung der im Streit befindlichen Behandlung könnten sich auch aus der wissenschaftlichen Diskussion ergeben.

Auch wenn die dem Senatsbeschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 06.12.2005 zugrunde liegende Fallkonstellation nicht deckungsgleich ist mit der hier zur Entscheidung anstehenden, sind dieser aktuellen Verfassungsgerichtsentscheidung doch aus den zitierten Grundrechten hergeleitete Vorgaben für die Auslegung und Anwendung der leistungsrechtlichen Vorschriften des SGB V zu entnehmen, die eine Ausweitung der bislang vom Bundessozialgericht aufgestellten Kriterien für einen zulässigen Off-Label-Use erfordern. Auch für den Nachweis einer Wirksamkeit von Arzneimitteln, die außerhalb der Indikationslage, für die sie nach dem Arzneimittelgesetz zugelassen worden sind, eingesetzt werden sollen, muss eine niedrigere Evidenzstufe ausreichen als die vom Bundessozialgericht verlangte. Es kann nicht mehr allein abgestellt werden auf das Vorhandensein von auf den jeweiligen Anwendungsbereich bezogener Studien oder veröffentlichter Forschungsergebnissen, aufgrund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen des streitigen Arzneimitteleinsatzes besteht. Vielmehr kann auch ein Wirksamkeitsnachweis durch ärztliche Erfahrung grundsätzlich ausreichen, sofern gewährleistet ist, dass das positive Votum für einen Off-Label-Use auf besonders ausgewiesener ärztlicher Fachkunde beruht.

Auf ein solches Votum kann sich die Antragsstellerin für die von ihr zur Senkung des Rezidivrisikos begehrte Behandlung mit dem Arzneimittel Roferon-A R berufen. Die entsprechende Therapieempfehlung stammt von einer Universitätsaugenklinik. Ein diagnostischer und therapeutischer Schwerpunkt dieser Einrichtung bezieht sich auf die Erkrankung an zystoiden Makulaödemen und in diesem Sektor insbesondere auf die Entwicklung innovativer Therapiekonzepte. Aus den Berichten der Universitätsaugenklinik T. geht hervor, dass derzeit zwar nur eine geringe Anzahl von Patienten mit diesem Therapieschema behandelt wird, bislang 8 Personen, womit eine statistisch untermauerte Beweisführung der Wirksamkeit des neuen Behandlungsverfahrens nicht erbracht werden kann. Dem steht aber gegenüber, dass die möglichen Verlaufsbeobachtungen so ermutigend sind, dass der Einsatz von Interferon alfa 2 a bei Uveitis mit Makularödem von den wissenschaftlich tätigen Ärzten dieses Universitätsklinikums der Fachwelt vorgestellt wird. Darauf, dass ein Abdruck eines entsprechenden Berichtes über dieses Behandlungsverfahren in der einschlägigen wissenschaftlichen Fachzeitschrift erfolgen wird, lassen die vorgelegten Kopien von den Druckfahnen schließen. Weiter ist im Falle der Antragstellerin in Rechnung zu stellen, dass ausweislich der Behandlungsberichte des Universitätsklinikum T., die auch in der Stellungnahme des Dr. L. vom 15.09.2005 für den MDK als nachvollziehbar eingeschätzt werden, die konventionelle antiinflammatorische Therapie bei der Klägerin fehlgeschlagen ist und keinen weiteren Erfolg mehr verspricht. Somit besteht keine weitere Behandlungsoption. Weiter hat Dr. L. in seiner gutachterlichen Stellungnahme zu bedenken gegeben, dass bei der Grunderkrankung der Antragstellerin mit einem irreversiblen Visusverlust, bis hin zur Erblindung, zu rechnen ist. Es liegt damit zwar keine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor, aber doch eine eindeutig schwerwiegende Erkrankung, da im Falle des weiteren Krankheitsprogresses mit einem massiven Verlust des Sehvermögens, bis hin zur Erblindung zu rechnen ist, zumal die Grunderkrankung beide Augen erfasst hat.

Damit sind im Falle der Antragstellerin auch die Kriterien erfüllt, welche das Bundessozialgericht laut dem bislang vorliegenden Termin-Bericht Nummer 19/06 in seinem Urteil vom 04.04.2006 (B 1 KR 7/05 R die Entscheidungsgründe liegen bislang noch nicht vor) für den Bereich des Off-Label-Uses im Hinblick auf die Vorgaben aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 für einen Behandlungsanspruch im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung aufgestellt hat. In dieser Entscheidung wird davon ausgegangen, dass die Grundsätze der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu ärztlichen Behandlungsmethoden auch auf die Arzneimitteltherapie anzuwenden sind, wobei der vom Bundessozialgericht entschiedene Fall die Erkrankung an einem lebensbedrohlichen Darmkarzinom betraf. Nach Überzeugung des erkennenden Sozialgerichtes sind die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus den oben aufgezeigten Gründen auch auf schwere, nicht lebensbedrohliche Krankheiten eines Versicherten, zu übertragen, sofern diese den Versicherten in seiner Lebensführung nicht nur deutlich beeinträchtigen, sondern bei weiterem Fortschreiten des Krankheitsverlaufes zu ganz massiven körperlichen und/oder geistigen Funktionsverlusten führen werden. Eine solch gravierende Krankheitsfolge stellt jedenfalls eine drohende Erblindung dar. Dafür spricht auch, dass die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum zugelassenen Off-Label-Use diese Fallkonstellation einbezog.

Angesichts des Umstandes, dass die Antragstellerin bereits in Umsetzung des Beschlusses des Sozialgerichtes vom 31.10.2005 eine hohe Sicherheitsleistung erbracht hat und nach ihrem glaubhaften Vorbringen, damit an die Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit gelangt ist, hat das Gericht davon abgesehen, von ihr die Bereitstellung einer weiteren Sicherheitsleistung zu verlangen.

Nach alledem war dem Antrag stattzugeben. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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