S 21 AS 133/06 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
21
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 21 AS 133/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende in Höhe von 638,70 EUR monatlich ab dem 19.07.2006 (Eingang des Antrags bei Gericht) bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens zu gewähren. Die Antragsgegnerin erstattet dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten.

Gründe:

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG – Kommentar, 8. Auflage, § 86 b Rdnrn. 27 und 29 m. w. N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. zuletzt Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05).

Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O., Rdnrn. 16 b, 16 c, 40).

Ausgehend von diesen Grundsätzen war die Antragsgegnerin zur vorläufigen Bewilligung der beantragten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu verpflichten.

Nach § 7 Abs. 1 SGB II erhalten Leistungen Personen, die

1.das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben,

2.erwerbsfähig sind,

3.hilfebedürftig sind und

4.ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Hilfebedürftige).

Nach § 9 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt, seine Eingliederung in Arbeit und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem nicht

1.durch Aufnahme einer zumutbaren Arbeit,

2.aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält.

Zwischen den Beteiligten ist allein die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers streitig. Die Antragsgegnerin vertritt zu Unrecht die Auffassung, sie dürfe Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ganz verweigern, wenn der Antragsteller die Vorlage von Kontoauszügen der letzten drei Monate zur Aufklärung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse ablehnt.

Nach § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB I hat derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen. Beweisurkunden im Sinne dieser Vorschrift sind auch Kontoauszüge (LSG NRW, Beschluss vom 12.07.2006 (nicht rechtskräftig) AZ L 9 B 48/06 AS ER). Die Vorlage von Kontoauszügen ist aber nur gerechtfertigt, wenn ein begründeter Verdacht auf Leistungsmissbrauch besteht (so wohl auch LSG NRW a. a. O.). Bloße Anhaltspunkte, die die Antragsgegnerin veranlassen, einem möglichen Leistungsmissbrauch nachzugehen, reichen dafür nicht aus. Nach Auffassung des Gerichts müssen Erkenntnisse vorliegen, aus denen sich ein Leistungsmissbrauch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ergibt. Das ist hier nicht der Fall.

Wenn der Antragsteller nach 18 Monaten Leistungsbezug für die Abschnitte I bis VI des von der Antragsgegnerin ausgehändigten Fragebogens "keine Änderungen" ankreuzt und darüber hinaus keine Unterlagen zum Beweis der von ihm behaupteten unveränderten wirtschaftlichen Verhältnisse beifügt, mag dies zu Zweifeln Anlass geben, ob der Vortrag des Antragstellers der Wahrheit entspricht. Ein begründeter Verdacht auf Leistungsmissbrauch ergibt sich daraus jedoch nicht.

Daran ändert auch die von der Antragsgegnerin geäußerte Vermutung, der Antragsteller habe Büroräume angemietet, nichts, denn die Antragsgegnerin hat es versäumt, den von ihr vorgetragenen Sachverhalt auszuermitteln. Leistungen ohne weitere Nachfrage bei dem potentiellen Vermieter der Räume einzustellen, verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Dass der Antragsteller mehrfach als Fahrer eines Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen 000000 gesehen wurde, kann ebenfalls nicht die Vorlage von Kontoauszügen rechtfertigen. Zwar könnte durch diese eventuell bewiesen werden, dass der Antragsteller das Kraftfahrzeug gekauft hat. Es ist aber ebenso gut möglich, dass ihm der Wagen geliehen, geschenkt, vererbt, oder sonst aus einem anderen Rechtsgrund zur Nutzung überlassen wurde. Über diese Umstände geben die verlangten Kontoauszüge keinen Aufschluss. Auf die bloße Vermutung der Unrichtigkeit von Angaben des Antragstellers kann die Antragsgegnerin nicht die Herausgabe persönlicher sensibler Daten, wie sie in Kontoauszügen offenbart werden, verlangen, denn der überwiegende Teil dieser Daten hat mit der erstrebten Information überhaupt nichts zu tun.

Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn mit überwiegender Wahrscheinlichkeit der begründete Verdacht der Antragsgegnerin auf Leistungsmissbrauch durch die Vorlage der Kontoauszüge zu erhärten wäre. Dies könnte nach Ansicht des Gerichts zum Beispielangenommen werden, wenn sich die Antragsgegnerin auf eine Zeugenaussage beriefe, aus der hervorginge, dass der Antragsteller das Auto gekauft hat.

Der Vortrag der Antragsgegnerin, der Antragsteller sei mit Schreiben vom 22.06.2006 unter Fristsetzung bis zum 27.06. aufgefordert worden, durch geeignete Unterlagen seine wirtschaftlichen Verhältnisse aufzuklären, ist nicht plausibel. Unter dem angegebenen Datum hatte die Antragsgegnerin dem Antragsteller noch gar nicht mitgeteilt, worauf sich die von ihr geäußerten Zweifel an der Hilfebedürftigkeit des Antragstellers gründen. Dies geschah erst im Verlauf des Eilverfahrens.

Zu Unrecht hat die Antragsgegnerin schließlich vermutet, dem Antragsteller hätten ab März 2006 zusätzliche Mittel zur Verfügung gestanden, denn er habe keine Mietschulden gemacht. Nach dem glaubhaften Vortrag des Antragstellers war dieser mit zwei Monatsmieten in Rückstand geraten, so dass ihm seine Wohnung fristlos gekündigt worden sei und er Stromrechnungen nicht mehr habe bezahlen können.

Einen begründeten Verdacht auf Leistungsmissbrauch vermag das Gericht bei summarischer Prüfung des Sachverhaltes nicht zu erkennen.

Der Antragsteller stützt sich zu Recht auf sein Sozialgeheimnis im Sinne des § 35 SGB I, dass nämlich die ihn betreffenden Sozialdaten im Sinne des § 67 Abs. 1 SGB X von den Leistungsträgern nicht unbefugt erhoben werden dürfen. Um solche Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse des Antragstellers (Sozialdaten) geht es jedoch vorliegend. Sie dürfen gemäß § 67 a Abs. 1 SGB X nur erhoben werden, wenn ihre Kenntnis zur Erfüllung der Aufgaben der erhebenden Stelle erforderlich ist, und sind vom Grundsatz her gemäß § 67 a Abs. 2 SGB X beim Betroffenen zu erheben. Das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Grundgesetzes, Art. 2 Abs. 1 GG, und der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung lässt Einschränkungen nur im überwiegenden allgemeinen Interesse zu, die zudem einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage bedürfen und dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entsprechen müssen (Bundesverfassungsgericht – Urteil vom 15. Dezember 1983 BVerfGE 65, 1 ff.). Eine derartige Rechtsgrundlage zur Datenerhebung – nicht Mitwirkung an sich - ist von der Antragsgegnerin nicht dargetan worden und für das Gericht im Übrigen nicht ersichtlich. Es steht aber nicht im Belieben der Verwaltung, Umfang und Reichweite der Mitwirkungspflichten von Antragstellern ohne konkrete rechtliche Grundlage festzulegen und bei deren Nichterfüllung sogar die Sanktion der Leistungsversagung zu verhängen. Zur Verhinderung des Leistungsmissbrauchs hat der Gesetzgeber u. a. den automatisierten Datenabgleich gemäß § 52 SGB II und besondere Anzeige- und Mitwirkungspflichten gemäß §§ 56 ff. SGB II eingeführt, die jedoch dem Ag keinerlei Handhabe für sein Verlangen auf Vorlage der Kontoauszüge bieten, das vorliegend also auch unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung des Leistungsmissbrauchs jeglicher Legitimation entbehrt. Etwas anderes folgt auch nicht etwa aus dem Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 20 SGB X, denn die Regelungen des Datenschutzes gehen nach § 37 Satz 3 SGB I vor (vergl. zum Ganzen: Hessisches Landessozialgericht Beschluss vom 22.08.2005).

Der Anordnungsgrund ergibt sich aus der drohenden Wohnungslosigkeit des Antragstellers, seiner gänzlichen Mittellosigkeit sowie des fehlenden Krankenversicherungsschutzes.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG in entsprechender Anwendung.
Rechtskraft
Aus
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