S 29 AY 6/06 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
29
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 29 AY 6/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
beschlossen:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verflichtet, der Antragstellerin für die Zeit ab dem 09.08.2006 bis zum 30.11.2006 vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) entsprechend dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) unter Anrechnung der bereits erbrachten Leistungen zu gewähren. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

Der am 09.08.2006 sinngemäß gestellte Antrag hat Erfolg. Der Antrag war im tenorierten Sinne auszulegen. Zunächst ist der Antrag am 09.08.2006 bei Gericht eingegangen, weshalb erst ab diesem Zeitpunkt eine gegenwärtige Notlage als Voraussetzung eines Einstweiligen Anordnungsverfahrens zur Entscheidung des Gerichts stand. Zugleich hat die Antragstellerin Leistungen "ab Antragstellung" geltend gemacht. Weiterhin ist es angezeigt, keine Asylbewerberleistungen für zukünftige Zeiträume zuzusprechen, da es sich bei Asylbewerberleistungen – wie bei Sozialhilfe nach dem BSHG und nach dem SGB XII – nicht um rentengleiche Dauerleistungen handelt. Da schon in Kürze geänderte Verhältnisse Grundlage einer Änderung des Anspruchs der Antragstellerin sein können (Arbeitsaufnahme, Ausreise, veränderter ausländerrechtlicher Status etc.), ist es Rechtsprechung der zuvor zuständigen nordrhein-westfälischen Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie des zuständigen 20. Senats des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG NRW), Leistungen lediglich bis zum Ende des Monats zuzusprechen, in dem das Gericht entscheidet. Da das Monatsende unmittelbar bevorsteht, hält das Gericht eine Verpflichtung bis Ende des Monats November für sachgerecht und legt das zukunftsbezogen nicht mit einer Begrenzung versehene Begehren entsprechend aus. Das Gericht kann zur Regelung eines vorläufigen Rechtszustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis einstweilige Anordnungen treffen, wenn die Regelung - etwa um wesentliche Nachteile abzuwenden - nötig erscheint, § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Dabei sind die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen des zu sichernden Rechtes (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen, § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO). Die einstweilige Anordnung dient ausschließlich dazu, unzumutbare künftige Nachteile abzuwenden, die dem Antragsteller drohen, wenn seinem Begehren nicht stattgegeben wird. Sie ist hingegen nicht dafür gedacht, dem Betreffenden schneller, als dies in einem Klageverfahren möglich ist, zu seinem (vermeintlichen) Recht zu verhelfen, sofern nicht eine besondere Dringlichkeit gegeben ist, die es unzumutbar erscheinen lässt, den Ausgang eines Klageverfahrens abzuwarten. In Bezug auf die geforderte Glaubhaftmachung ist der Nachweis der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erforderlich; trotz der Möglichkeit des Gegenteils dürfen Zweifel nicht überwiegen. Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Auflage, III. Kapitel, Rdn. 157. Dies ist im Rahmen einer summarischen Prüfung zu ermitteln, vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG NRW), Beschlüsse vom 19.01.2006 – L 1 B 17/05 AS ER –, vom 29.11.2005 – L 19 B 84/05 AS ER – und vom 26.07.2005 – L 9 B 44/05 AS ER –. Bei der Beurteilung des Anordnungsanspruchs hat sich das Gericht an den Grundsätzen zu orientieren, die das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) aufgestellt hat. Danach dürfen sich die Gerichte bei einer Ablehnung von existenzsichernden Sozialleistungen nicht auf eine bloße summarische Prüfung der Erfolgsaussichten beschränken und die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller nicht überspannen; ist eine Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht möglich, hat eine Folgenabwägung stattzufinden. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 –; ebenso LSG NRW, Beschlüsse vom 06.01.2006 – L 1 B 13/05 AS ER – und vom 28.02.2006 – L 9 B 99/05 AS ER –. Dabei gilt das grundsätzliche Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt nur, wenn der Leistungsberechtigte eine existenzielle Notlage glaubhaft macht, die ein sofortiges Handeln erfordert, beispielsweise, wenn die Führung eines menschenwürdigen Lebens in Frage steht. Es muss zur Vermeidung schlechthin unzumutbarer Folgen für den betreffenden Antragsteller notwendig sein, dass das Gericht die begehrte einstweilige Anordnung erlässt. LSG NRW, Beschlüsse vom 01.12.2005 – L 9 B 22/05 SO ER –, vom 02.05.2005 – L 19 B 7/05 SO ER –, und vom 20.04.2005 – L 19 B 2/05 AS ER –. Die Antragstellerin hat für ihr Begehren Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 2 Abs. 1 AsylbLG. Nach dieser Vorschrift erhalten Leistungsberechtigte im Sinne von § 1 AsylbLG abweichend von §§ 3 bis 7 AsylbLG Leistungen entsprechend dem SGB XII, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 erhalten haben und die Dauer ihres Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Zwischen den Beteiligten steht außer Streit, dass die Antragstellerin Leistungsberechtigte gemäß § 1 AsylbLG ist und die Dauer ihres Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst hat. Sie streiten allein um die Frage, ob in die 36-Monats-Frist nach § 2 Abs. 1 AsylbLG auch Zeiten des Bezugs von Sozialhilfe nach dem BSHG einzubeziehen sind. Dies ist von entscheidender Bedeutung, weil die Antragstellerin unstreitig bisher weit davon entfernt ist, Grundleistungen nach § 3 AsylbLG über einen Zeitraum von insgesamt 36 Monaten bezogen zu haben. Unter Einbeziehung der Zeiten des BSHG-Sozialhilfe- Bezugs ist diese Frist aber ohne weiteres überschritten. Die Voraussetzung, dass der Leistungsberechtigte über einen Zeitraum von 36 Monaten Leistungen nach § 3 erhalten haben muss, ist erfüllt. Das Gericht geht in Übereinstimmung mit dem zuständigen 20. Senat des LSG NRW davon aus, dass in die Berechnung der 36-Monats-Frist nach § 2 Abs. 1 AsylbLG auch Zeiten des Bezugs von Sozialhilfe nach dem BSHG einzubeziehen sind, die vor dem Inkrafttreten der neuen Fassung des § 2 Abs. 1 AsylbLG am 01.01.2005 liegen. Der 20. Senat hat entschieden, dass es eine übertriebene Förmelei darstellen würde, wenn allein darauf abzustellen wäre, dass die Antragsteller Leistungen nach § 3 AsylbLG bezogen haben, und deshalb Zeiten des Sozialhilfebezugs auszuklammern wären, vgl. Beschluss vom 27.04.2006 - L 20 B 10/06 AY ER -. Auch wenn der Antragsgegnerin zuzugeben ist, dass der Wortlaut des § 2 Abs. 1 AsylbLG für ihre entgegengesetzte Auffassung streitet, so ist die Kammer mit dem LSG NRW der Auffassung, dass die Vorschrift unter Berücksichtigung der Absicht des Gesetzgebers und des Gesetzeszwecks erweiternd auszulegen ist.

Die konkrete Absicht des historischen Gesetzgebers der mit dem Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (ZuwanderungsG) eingefügten Neufassung des § 2 Abs. 1 AsylbLG lag darin, das Bundessozialhilfegesetz wie zuvor grundsätzlich für alle Leistungsberechtigten im Sinne von § 1 AsylbLG nach 36 Monaten zur Anwendung kommen zu lassen und davon nur die Fälle auszunehmen, in denen der Ausländer die Dauer seines Aufenthalts rechtsmissbräuchlich (z. B. durch Vernichtung des Passes, Angabe einer falschen Identität) selbst beeinflusst hat. Es war die Intention des Gesetzes, insofern zwischen denjenigen Ausländern zu unterscheiden, die unverschuldet nicht ausreisen können, und denjenigen, die ihrer Ausreisepflicht rechtsmissbräuchlich nicht nachkommen. Vgl. Begründung zum Gesetzentwurf des ZuwanderungsG, BTDr. 15/ 420, S. 121, Zu Nummer 3. Grund für die leistungsrechtliche Privilegierung, die § 2 Abs. 1 AsylbLG bewirkt, ist nach Auffassung des Gesetzgebers die Akzeptanz des Umstandes, dass bei einem längeren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und noch nicht absehbarer weiterer Dauer des Aufenthalts nicht mehr auf einen geringeren Bedarf abgestellt werden kann, wie er bei einem in der Regel nur kurzen, vorübergehenden Aufenthalt entsteht. Dann seien auch Bedürfnisse anzuerkennen, die auf eine stärkere Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse und auf bessere soziale Integration gerichtet seien. Vgl. Begründung zur entsprechenden Vorschrift des § 1 a AsylbLG a. F., BTDr. 12/ 5008, S. 15. Zugleich sollte mit der durch das ZuwanderungsG ab Anfang 2005 geschaffenen Fassung sichergestellt werden, dass vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer und Asylbewerber sowie Asylfolgeantragsteller keine Leistungen auf Sozialhilfeniveau erhalten sollten, um so den Anreiz zur missbräuchlichen Asylantragstellung einzuschränken und letztlich eine Reduzierung der Asylanträge und dadurch Verfahrensbeschleunigung herbeizuführen. So der Referentenentwurf zum ZuwanderungsG (Schily I), zitiert nach Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG (GK-AsylbLG), Stand Juli 2006, § 2, Rn. 10; ähnlich BTDr. 15/ 420, S. 120, Zu Artikel 8. Abgesehen davon, dass viel dafür spricht, Zeiten des Sozialhilfebezugs erst recht in die 36-Monats-Frist nach § 2 Abs. 1 AsylbLG einzubeziehen, wenn der Bezug von Grundleistungen nach § 3 AsylbLG hierfür Voraussetzung ist, so entspricht dies weiterhin der dargestellten Intention des Gesetzgebers, die mit dem objektiven Zweck des § 2 Abs. 1 AsylbLG, wie ihn das Gericht versteht, ebenfalls übereinstimmt. Die Absicht des Gesetzgebers, dass nur solche Leistungsberechtigte im Sinne von § 1 AsylbLG von den Leistungen auf Sozialhilfeniveau nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ausgeschlossen sein sollen, die rechtsmissbräuchlich die Dauer ihres Aufenthalts verlängern bzw. ihre Ausreise verhindern, wird durch die Verständnisweise des Gerichts nicht weniger verwirklicht, als bei der engeren von der Antragsgegnerin bevorzugten Auslegung. In beiden Fällen ist kumulatives Tatbestandsmerkmal, dass die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich von den Leistungsberechtigten beeinflusst worden sein darf. Dies ist zum einen somit gesondert zu prüfen, zum anderen haben soweit ersichtlich nur solche Asylbewerber und andere Ausländer, die nunmehr Leistungsberechtigte gemäß § 1 AsylbLG sind, vor dem 01.01.2005 Leistungen nach dem BSHG bezogen, die über einen ausländerrechtlichen Status verfügten, der voraussetzte, dass sie die Dauer ihres Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst hatten. So war es anscheinend auch im Fall der Antragstellerin, deren BSHG-Bezug auf ihrer Eigenschaft als "de-Facto-Flüchtling" fußte, die ihr eine Aufenthaltsbefugnis verschafft hatte. Es ist insofern nicht nur abstrakt, sondern auch konkret auf die Antragstellerin bezogen kein Grund ersichtlich, warum ihr unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks keine Leistungen auf Sozialhilfeniveau zugestanden werden sollten. Der Sinn des Wortlauts des § 2 Abs. 1 AsylbLG ("Grundleistungen nach § 3 erhalten haben") dient dabei der Abgrenzung zum einen von den Leistungen nach § 4 bis 6 AsylbLG, die nicht ausreichen sollen, und zum anderen von den noch stärker abgesenkten Leistungen mit Sanktionscharakter nach § 1 a AsylbLG. Vgl. GK-AsylbLG, a. a. O., Rn. 36 ff. Gerade in Bezug auf den Ausschluss rechtsmissbräuchlich handelnder Leistungsberechtigter nach dem AsylbLG liegt hier eine Überschneidung mit dem Tatbestandsmerkmal "keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer" vor. Das Gericht geht davon aus, dass es dem Gesetzgeber des ZuwanderungsG nicht darum ging, Fälle wie den der Antragstellerin aus dem Bezug von Sozialhilfeleistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG auszuschließen, sondern dass es sich eher um eine vom Gesetzgeber übersehene Konstellation handelt. Insofern versteht das Gericht die dargestellte Absicht des Gesetzgebers bei der Novellierung des § 2 Abs. 1 AsylbLG insbesondere dahingehend, dass rechtsmissbräuchlich ihren Aufenthalt beeinflussende Leistungsberechtigte vom Bezug der dem SGB XII entsprechenden Leistungen ausgeschlossen werden sollten, jedoch für nicht rechtsmissbräuchlich handelnde Leistungsberechtigte keine Veränderung gegenüber dem bisherigen Zustand bewirkt werden sollte. Für die Antragstellerin würde es aber eine Verschlechterung bedeuten, wollte man der Auffassung der Antragsgegnerin folgen: Sie wäre für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr auf ein Leistungsniveau verwiesen, wie es das AsylbLG "Neuankömmlingen" in provisorischen Lebensverhältnissen zumutet. Es bedarf hier keiner Entscheidung, ob andere Fälle, wie sie die Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 31.08.2006 anführt, ebenfalls in die 36-Monats-Frist einzubeziehen wären. Fälle der Unabhängigkeit von Sozialleistungen aufgrund von anderweitigem Einkommen, familiärer Unterstützung oder Verpflichtungserklärungen sind eventuell anders gelagert und hier nicht einschlägig. Es ist auch ein Anordnungsgrund im oben genannten Sinne gegeben, da der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung zur Abwendung unzumutbarer Nachteile geboten ist. Das Gericht folgt auch insofern der Rechtsprechung des 20. Senats des LSG NRW, wonach die Leistungen nach § 2 AsylbLG den Regelfall bilden sollen, weshalb es Leistungsberechtigten lediglich im begründeten Einzelfall zumutbar sein dürfte, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens mit den niedrigeren Leistungen nach § 3 AsylbLG zu wirtschaften. Vgl. LSG NRW, a. a. O. Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht ersichtlich. Auch wenn das Gericht den zusprechenden Tenor auf das Ende des in Kürze beginnenden Monats November begrenzt hat, geht es jedoch davon aus, dass bei nicht rechtskräftigem Abschluss des Hauptsacheverfahrens und im übrigen unveränderten Verhältnissen die Antragsgegnerin der Antragstellerin auch über den 30.11.2006 hinaus Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erbringen wird. Die Kostenentscheidung folgt aus einer analogen Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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