L 9 KR 66/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 88 KR 1941/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 66/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. Februar 2004 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Versorgung mit einem behindertengerechten Dreirad.

Der 1984 geborene und bei der Beklagten familienversicherte Kläger leidet u. a. an einer Fehlbildung der größeren Gelenke. Sie sind in der Beweglichkeit erheblich eingeschränkt. Er ist kleinwüchsig und adipös. 1996 ist er von der Beklagten mit einem behindertengerechten Dreirad versorgt worden. Im Juli 2002 beantragte er unter Vorlage einer Verordnung der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. B. K vom 4. Juni 2002 sowie eines Kostenvoranschlages der Firma P vom 2. Juli 2002 die Übernahme der Kosten für ein behindertengerechtes Dreirad in Höhe von 1.322,44 EUR. Zur Begründung dieses Antrages machte der Kläger geltend, dass er das ihm gewährte Dreirad wachstumsbedingt nicht mehr nutzen könne. Mit Bescheid vom 9. Juli 2002 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab. Nur Kinder hätten Anspruch auf die Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel. Jugendliche und Erwachsene hätten einen solchen Anspruch nicht.

Den hiergegen gerichteten Widerspruch, den der Kläger im Wesentlichen damit begründete, dass es ihm mit dem ihm zuvor gewährten Dreirad möglich gewesen sei, selbstständig zu trainieren sowie seinen Kreislauf und seine Gliedmaßen zu belasten, wies die Beklagte mit Wider-spruchsbescheid vom 10. Oktober 2002 zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass das Radfahren bei Jugendlichen und Erwachsenen wie dem Kläger nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen zähle, sondern dem Bereich der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung zuzurechnen sei. Die Stabilisierung des Kreislaufes und die Belastbarkeit der Gelenke könne der Kläger auch anderweitig erreichen.

Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger vorgetragen, dass er zu 60 v. H. behindert sei, keine längeren Strecken zu Fuß zurücklegen könne und deswegen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sei, wenn er nicht mit dem begehrten Hilfsmittel versorgt werde. Aufgrund der Versagung der Versorgung mit dem begehrten Rad werde er auch den bisher erreich-ten Grad der Selbstständigkeit verlieren, weil er wachstumsbedingt das bisher vom ihm gefahrene Rad nicht mehr nutzen könne. Mit diesem habe er selbstständig im Alltagsleben seinen Kreislauf und seine Gliedmaßen belasten und trainieren können.

Das Sozialgericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes einen ärztlichen Bericht der den Kläger behandelnden Fachärztin eingeholt. In dieser undatierten Stellungnahme hat die Ärztin ausgeführt, dass das Dreirad dem Kläger besonders im Hinblick auf sein jugendliches Alter eine eigenständige Mobilität ermögliche. Es fördere seine sozialen Kontakte. Die Fortbewegung auf dem Fahrrad sei zudem für den Erhalt der Muskel- und Gelenkfunktionen wichtig. Es helfe, auch der Adipositas Einhalt zu gebieten. Für den weiteren Lebensablauf und die soziale Integration sei die eigenständige Mobilität mit dem Fahrrad dringend erforderlich und helfe fort-schreitender Pflegebedürftigkeit vorzubeugen.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 13. Februar 2004 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der sich das Gericht anschließe, ausschließlich Jugendliche einen Anspruch auf die Versorgung mit dem begehrten behindertengerechten Dreirad hätten. Der Anspruch auf Hilfsmittelversorgung erstrecke sich für diesen speziellen Personenkreis auf das Grundbedürfnis der sozialen Integration. Erwachsene hätten hingegen einen solchen Anspruch nicht. Die geltend gemachten therapeutischen Effekte (Stärkung der Muskulatur, Verhinderung von Rückenleiden, Beseitigung der Adipositas) könnten nicht als Gesichtspunkte gewertet werden, die eine Hilfsmittelversorgung rechtfertigen würden. Sofern solche Probleme in medizinischem Ausmaß bestünden, müsse der Versicherte die hierfür speziell vorgesehenen Behandlungsmaßnahmen ergreifen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Die Gewährung eines behindertengerechtes Dreirades sei für seine soziale Integration erforderlich. Er stehe als Heranwachsender einem Jugendlichen gleich. Die Voraussetzungen der Rechtsprechung für die Versorgung mit dem begehrten Dreirad seien daher erfüllt. Auch um eine Abnutzung des Bewegungsapparates über Gebühr zu vermeiden, sei davon auszugehen, dass hier die Gehfähigkeit nicht bestehe, sodass er auf das Fahrrad angewiesen sei.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. Februar 2004 und den Bescheid der Beklagten vom 9. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Kläger mit einem behindertengerechten Dreirad entsprechend dem Kostenvoranschlag der Firma P vom 2. Juli 2002 zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die dem Senat vorgelegen haben und die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht Berlin hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 9. Juli 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 2002 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Versorgung mit dem von ihm begehrten behindertengerechten Dreirad.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Be-hinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Bei dem von dem Kläger begehrten behindertengerechten Dreirad handelt es sich nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, weil es speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen konstruiert und im Einzelfall behindertengerecht ausgestattet wird. Es ist zudem nicht durch die zu § 34 Abs. 4 SGB V erlassene Rechtsverordnung von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen.

Im vorliegenden Fall ist die Frage im Streit, ob das von dem Kläger begehrte Fahrrad zum Ausgleich seiner Behinderung erforderlich ist. Ein Hilfsmittel ist in diesem Sinne zum Behinderungsausgleich erforderlich, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betrifft. Zu diesen Grundbedürfnissen ge-hören die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes, der auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens umfasst (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 46 m. w. Nachw.). Das Radfahren selbst gehört nicht zu diesen Grundbedürfnissen. Die Ermöglichung allein des Radfahrens für einen behinderten Menschen, der ein handelsübliches Fahrrad nicht benutzen kann, fällt daher nicht in die Leistungspflicht der Beklagten (BSG a. a. O.).

Hiervon wird in ständiger Rechtsprechung eine Ausnahme gemacht. Für Kinder und Jugendliche in der Entwicklungsphase, jedenfalls bis zur Vollendung des 15. Lebensjahres, besteht ein Grundbedürfnis in der Teilnahme an der sonstigen üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger als Bestandteil des sozialen Lernprozesses. Der durch die Hilfsmittelversorgung anzustrebende Behinderungsausgleich ist auf eine möglichst weitgehende Eingliederung des behinderten Kindes bzw. Jugendlichen in den Kreis Gleichaltriger ausgerichtet. Er setzt nicht voraus, dass das begehrte Hilfsmittel nachweislich unverzichtbar ist, eine Isolation des Kindes zu verhindern. Denn der Integrationsprozess ist ein multifaktorielles Geschehen, bei dem die einzelnen Faktoren nicht isoliert betrachtet und bewertet werden können. Es reicht deshalb aus, wenn durch das begehrte Hilfsmittel die gleichberechtigte Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft wesentlich gefördert wird.

An diesen Grundsätzen gemessen, hat der Kläger keinen Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten Dreirad. Denn der Kläger stand bereits im Zeitpunkt der Antragstellung, im Juli 2002, kurz vor der Vollendung des 18. Lebensjahres. Er hatte damit zu diesem Zeitpunkt das 15. Lebensjahr bei weitem überschritten Soweit der Kläger vorträgt, dass er das Fahrrad zur Kräftigung seiner Muskulatur und zur Stärkung seiner Gelenke benötige, kann er mit diesem Vorbringen ebenfalls keinen Erfolg haben. Denn dafür ist die Versorgung des Klägers mit einem behindertengerechten Dreirad nicht notwendig. Der Kläger muss die diesem Anliegen zugrunde liegenden Erkrankungen und Leiden ärztlich und krankengymnastisch behandeln lassen. Dies gilt ebenso für seine Adipositas.

Der Kläger kann die Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel schließlich nicht unter dem Gesichtspunkt einer ansonsten erforderlichen Versorgung mit einem Rollstuhl beanspruchen (vgl. Urteil des BSG vom 24. Mai 2006, B 3 KR 16/05 R, zitiert nach juris). Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Versorgung mit einem Rollstuhl hat weder der Kläger vorgetragen noch sind nach Aktenlage derartige Anhaltspunkte ersichtlich. Der Kläger hat bisher keinen Antrag auf die Versorgung mit einem Rollstuhl gestellt. Versorgt wurde er bislang ausschließlich mit orthopädischen Schuhen. Nach dem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversi-cherung Berlin e. V. (MDK) vom 23. Dezember 1998 war auch beim Gehen und Stehen kein Hilfebedarf nachweisbar. In einem vorangegangenen Gutachten vom 31. Juli 1998 hat der MDK festgestellt, dass dem Kläger ein freies Gehen und Stehen möglich ist. Auch in diesem Zusammenhang ist weder ersichtlich noch hat der Kläger vorgetragen, dass insoweit eine Änderung eingetreten ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil Gründe hierfür nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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