L 28 B 676/07 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
28
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 65 AS 6113/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 28 B 676/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 2. April 2007 abgeändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern vorläufig, für Juli 2007, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung von monatlich 442,40 EUR zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat den Antragstellern deren Kosten des gesamten einstweiligen Rechtschutzverfahrens zu erstatten. Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

Die gemäß § 172 Abs. 1 und § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 2. April 2007, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist die Beschwerde unbegründet.

Soweit die Antragsteller für die Zeit vom 1. März 2007 an höhere Leistungen begehren, richtet sich der einstweilige Rechtsschutz nach § 86 b Abs. 2 SGG. Denn der Antragsgegner hat den Antragstellern mit Bewilligungsbescheiden vom 6. Oktober 2006 und 9. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2007 sowie den Änderungsbescheiden vom 14. Februar 2007 und 8. März 2007 Leistungen u. a. für den Bewilligungszeitraum vom 1. September 2006 bis zum 31. Juli 2007 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gewährt und hierbei lediglich die von den Antragstellern bis zum 31. August 2006 aufgewandten Kosten für die Unterkunft und die Heizung in Höhe von 372,40 EUR monatlich statt der nach dem Umzug zum 1. September 2006 tatsächlich aufgewandten Kosten in Höhe von 442,00 EUR monatlich berücksichtigt. Die Antragsteller begehren mit dem einstweiligen Rechtsschutzantrag also eine über die ihnen bereits gewährte Rechtsposition hinausgehende Begünstigung. Dies können sie nur mittels einer Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 SGG erreichen.

Soweit die Antragsteller indes für den Zeitraum vom 1. März 2007 bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senates höhere Leistungen begehren fehlt es an dem nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG notwendigen Anordnungsgrund. Es besteht auch insoweit keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung für die zurückliegenden Zeiträume erforderlich machen würde.

In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer - einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden - besonderen Dringlichkeit ist zwar rechtlich möglich, sie kann jedoch in aller Regel nicht mehr zur Bejahung eines Anordnungsgrundes führen. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im - grundsätzlich vorrangigen - Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 - NJW 2003, S. 1236 und vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, S. 803). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Absatz 4 GG in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen kann, so insbesondere dann, wenn anderenfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine - stattgebende - Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Derartige Umstände haben die Antragsteller insoweit nicht vorgetragen. Dies bedeutet, dass effektiver Rechtsschutz auch insoweit im Hauptsacheverfahren erlangt und ihnen ein Zuwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache zugemutet werden kann.

Für die Zeit ab Beschlussfassung des Senats in diesem Beschwerdeverfahren sind die Grundsätze anzuwenden, die das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zum Zweiten Buch des Sozialgesetzbuch (SGB II) entwickelt hat (Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005,927 ff.). Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden, wobei Art 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt. Soll die Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert werden, ist das erkennende Gericht verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, insbesondere dann, wenn das einstweilige Verfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende regelmäßig der Fall ist, da der elementare Lebensbedarf für die kaum je absehbare Dauer des Hauptsacheverfahrens bei ablehnender Entscheidung nicht gedeckt ist. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand der Folgenabwägung zu entscheiden, die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung grundgesetzlicher Gewährleistungen zu verhindern, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert. Die Sicherung des Existenzminimums (verwirklicht durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende) ist eine grundgesetzliche Gewährleistung in diesem Sinne (vgl. auch Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 12. Dezember 2006 - L 10 B 1052/06 AS ER -).

Im vorliegenden Fall muss sich der Senat nicht auf eine Folgenabwägung beschränken, sondern er kann in der Sache entscheiden. Die Antragsteller haben nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung ihrer tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 442, 40 EUR. Als Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch kommt nur § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in Betracht. Danach werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Die Angemessenheit der Kosten der von den Antragstellern vom 1. September 2006 an bezogenen Wohnung in Höhe von 442,40 EUR ist zwischen den Beteiligten nicht im Streit. Denn diese Kosten liegen unterhalb der in 4 Abs. 2 der Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II vom 7. Juni 2005 in der Fassung der Änderungsvorschriften vom 30. Juni 2006 (AV-Wohnen; veröffentlicht im Amtsblatt für Berlin 2005 3743 und 2006, 2062) genannten und von dem Antragsgegner hiefür herangezogenen Maßstäbe. Danach gilt als Richtwert für einen 2-Personen-Haushalt eine angemessene Brutto-Warmmiete in Höhe von 444,00 EUR.

Soweit sich der Antragsgegner auf den durch das Gesetz vom 20. Juli 2006 (BGBl. I S. 1706) mit Wirkung zum 1. August 2006 in Kraft getretenen § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II beruft, kann er damit keinen Erfolg haben. Danach werden die Leistungen weiterhin nur in der Höhe der vor einem Umzug zu tragenden Aufwendungen erbracht, wenn sich durch den nicht erforderlichen Umzug die angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung erhöhen.

Dabei ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners zunächst nicht Voraussetzung für die Übernahme der tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft und Heizung nach einem Umzug, dass der zuständige Leistungsträger vorab eine entsprechende Zusicherung nach § 22 Abs. 2 SGB II eingeholt hat. Das Sozialgericht hat insoweit zutreffend ausgeführt, dass das Zusicherungsverfahren allein Aufklärungs- und Warnfunktion hat (vgl. Berlit in LPK-SGB II, 2. Auflage 2007, § 22 RdNr. 70 f. und bereits Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom18. Dezember 2006 - L 10 B 1091/06 AS ER-, abrufbar unter www.sozialgerichtsbarkeit.de).

Nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand war der Umzug der Antragsteller aber auch erforderlich. Ob ein Grund vorliegt, der einen Umzug erforderlich macht, ist nach Einschätzung des Senats nach den Verhältnissen des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. Sauer in Jahn, SGB II, § 22 RdNr 41 und im Anschluss daran LSG Berlin-Brandenburg, a. a. O.). Der erwerbsfähige Hilfebedürftige muss hinsichtlich der Aufwendungen für seine Unterkunft zwar Beschränkungen auch dann hinnehmen, wenn er einen Wechsel zwischen Wohnungen beabsichtigt, deren Kosten angemessen sind. Ihm wird auferlegt, auf Gestaltungen, die er als Verbesserung seiner Lebensumstände ansieht, zu verzichten und Wünsche zurückzustellen, auch wenn er nicht mehr anstrebt als bei einem bereits bestehenden oder aus zwingenden Gründen neu abzuschließenden Mietvertrag als Leistung nach §§ 19, 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu erbringen ist. Dies gebietet aber eine Auslegung, die nur maßvolle Beschränkungen mit sich bringt. Das folgt bereits aus dem Wortlaut, wonach nicht etwa zwingende Gründe zu verlangen sind (Beschluss des LSG Berlin- Brandenburg vom 6. Juni 2007 – L 26 B 660/07 AS PKH -). § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II soll eine Kostensteigerung durch Ausschöpfen der jeweils örtlichen Angemessenheitsgrenzen entgegenwirken (Berlit, a. a. O., § 22 RdNr. 44 m. w. Nachw.). An diesen Grundsätzen gemessen war der Umzug der Antragsteller erforderlich. Denn der Umzug der Antragsteller erfolgte nicht, um ohne sachliche und vertretbare Gründe, unter Ausnutzung der Angemessenheitskriterien, eine Verbesserung der Wohnverhältnisse herbeizuführen, sondern die Antragsteller haben während des gesamten Verwaltungs- und dieses einstweiligen Rechtsschutzverfahrens widerspruchsfrei und glaubhaft die für sie untragbaren Zustände in ihrem bisherigen Wohnhaus geschildert. Danach waren die Antragstellerin zu 1), die nach Aktenlage als Pflegehelferin in Wechselschicht arbeitet und daher auch darauf angewiesen ist tagsüber zu schlafen, und ihr drei jähriger Sohn durch zwei "rund um die Uhr schreiende Familien psychisch und physisch an der Grenze ihrer Belastbarkeit angelangt". Die Antragstellerin zu 1) hat insoweit auch ausführlich und glaubhaft dargelegt, dass sie versucht hat, in Gesprächen mit den betroffenen Familien für eine Beruhigung der Situation zu sorgen, diese Bemühungen aber fruchtlos verlaufen sind. Auch die Vermieterin hat sich nicht in der Lage gesehen, Abhilfe zu schaffen, so dass nach dem Vortrag der Antragstellerin zu 1) sie "sofort aus dem Mietvertrag entlassen" worden ist und keine Schönheitsreparaturen durchführen musste. Ein derartiger nicht behebbarer Konflikt mit anderen Hausbewohnern berechtigten den Hilfebedürftigen während des Leistungsbezuges die Wohnung zu wechseln. Eine abschließende Würdigung dieser Fragen muss indes dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Sollte sich erweisen, dass diese Anordnung von Anfang an ganz oder teilweise ungerechtfertigt war, sind die Antragsteller verpflichtet, dem Antragsgegner den Schaden zu ersetzten, der ihm aus der Vollziehung dieser Anordnung entsteht (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 945 ZPO).

Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes kann schließlich insoweit keinen Erfolg haben, als die Antragsteller höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sinngemäß auch über den 31. Juli 2007 hinaus begehren. Mit den genannten Bescheiden vom 6. Oktober 2006 und 9. November 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Februar 2007 sowie den Änderungsbescheiden vom 14. Februar 2007 und 8. März 2007 hat der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen für einen Bewilligungszeitraum gewährt, der am 31. Juli 2007 endet. Nach Aktenlage ist noch kein Bescheid über die Leistungsansprüche der Antragsteller für die Zeit vom 1. August 2007 an ergangen. Sollte der Antragsgegner hierüber aber bereits entschieden haben, ist der Bewilligungsbescheid nicht in entsprechender Anwendung des § 96 SGG Gegenstand des bei dem Sozialgericht Berlin anhängigen Hauptsacheverfahrens geworden. Denn im Rahmen des SGB II ist eine analoge Anwendung des § 96 SGG auf Bewilligungsbescheide für Folgezeiträume wegen der Besonderheiten dieses Rechtsgebietes nicht gerechtfertigt (Urteil des Bundessozialgerichts vom 7. November 2006 - B 7 b AS 14/06 R -, zitiert nach Juris). Bei vernünftiger und sachdienlicher Auslegung des angefochtenen Beschlusses hat das Sozialgericht auch nicht über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes für diesen Folgezeitraum entschieden. Die Antragsteller müssen insoweit gesondert um einstweiligen Rechtsschutz nachsuchen.

Die Beschwerde gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe kann ebenso wie der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren keinen Erfolg haben. Im Hinblick auf den in diesem Beschluss ausgesprochenen Kostenerstattungsanspruch der Antragsteller für das gesamte einstweilige Rechtschutzverfahren besteht kein Rechtsschutzbedürfnis mehr an der Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Die Verfahren haben sich insoweit erledigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung und § 73 a SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 Zivilprozessordnung.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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