L 31 KR 71/07

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
31
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 72 KR 3630/04
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 31 KR 71/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 27. April 2006 und der Bescheid der Beklagten vom 5. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2004 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger mit einem Dreirad der Marke Haverich 26 FEA mit einem Paar Fußfixierpedalen mit Rennhaken, einem Mofasattel und einer Vorderrad-Hydraulikbremse zu versorgen. Die Beklagte hat dem Kläger die gesamten Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Versorgung mit einem behinderten gerechten Dreirad.

Der 1988 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Kläger leidet von Geburt an unter einer Tetraspastik. Er ist mit einem Grad von 100 behindert. In seinem Schwerbehindertenausweis sind die Merkzeichen B, G und H eingetragen. Er kann zu Fuß noch maximal eine Wegstrecke von 800 bis 1000 Metern zurücklegen. Wegen vorhandener Gleichgewichtsstörungen ist er hierbei auf eine Begleitperson angewiesen. Der Kläger ist mit einem Faltrollstuhl versorgt. Da seine Kraft in den oberen Extremitäten deutlich gemindert ist, kann er diesen Rollstuhl aber nicht selbständig fortbewegen. Auch insoweit ist er auf eine Begleitperson angewiesen. Mit Hilfe eines ihm bisher zur Verfügung stehenden Therapie-Rades (Rad mit Stützrädern), welches er aufgrund seiner Größe nunmehr nicht mehr benutzen kann, war er in der Lage, sich selbständig im Nahbereich zu bewegen. Das Rad ermöglichte es ihm, ohne Hilfe anderer Personen Freunde zu besuchen oder Einkäufe zu tätigen. Der Kläger verfügt nicht über die notwendigen feinmotorischen Fähigkeiten, um einen Elektrorollstuhl zu bedienen.

Im Juni 2004 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage einer entsprechenden Verordnung die Übernahme der Kosten in Höhe 2.679,35 EUR (Kostenvoranschlages der V GmbH vom 9. Juni 2004) für eine Versorgung mit einem "Haverich-Dreirad 26 FEA" mit folgenden Zusatzeinrichtungen: Fußfixierpedale mit Rennhaken (ein Paar), Mofasattel und Vorderrad-Hydraulikbremse. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 5. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2004 mit der Begründung ab, ein Therapiedreirad sei für Personen im Erwachsenenalter kein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung. Das Dreirad sei weder erforderlich, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern noch um eine Behinderung auszugleichen. Unter Berücksichtigung der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei das Dreirad auch nicht erforderlich, um eine Behinderung auszugleichen, denn Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung sei allein die medizinische Rehabilitation.

Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger vorgetragen, dass bei ihm eine Entwicklungsverzögerung von zwei Jahren bestehe, so dass er mit einem Fünfzehnjährigen gleichzusetzen sei. Im Übrigen werde durch das begehrte Fahrrad seine Mobilität erheblich erhöht und seine Isolation vermieden.

Das Sozialgericht Berlin hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 27. April 2006 abgewiesen und zur Begründung auf die seines Erachtens zutreffende Begründung der ablehnenden Entscheidung der Beklagten verwiesen.

Gegen das ihm am 24. Mai 2006 zugestellte Urteil richtet sich die am 26. Juni 2006 (Montag) eingegangene Berufung des Klägers, mit der er sein bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 27. April 2006 und den Bescheid der Beklagten vom 5. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn mit einem Haverich-Dreirad 26 FEA mit einem Paar Fußfixierpedalen mit Rennhaken, einem Mofasattel und einer Vorderrad-Hydraulikbremse zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung trägt sie vor, dass die Krankenversicherung nur den "behinderungsgerechten Mehraufwand" einer Versorgung zu übernehme habe. Die Anschaffungskosten des Dreirades an sich seien deshalb vom Versicherten zu tragen, weil es sich bei dem begehrten Rad um ein herkömmliches Fahrrad und damit um einen Gegenstand des täglichen Bedarfs handele. Auch wenn der Kläger einen Elektrorollstuhl nicht bedienen könne und eine Versorgung somit unwirtschaftlich wäre, werde dadurch ein Gegenstand des täglichen Bedarfs nicht zum Hilfsmittel.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die dem Senat vorgelegen haben und die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht Berlin hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 5. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2004 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung mit dem von ihm begehrten behindertengerechten Dreirad nebst Zusatzausrüstung.

Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V).

Im vorliegenden Fall ist die Frage im Streit, ob das von dem Kläger begehrte Dreirad zum Ausgleich seiner Behinderung erforderlich ist. Ein Hilfsmittel ist in diesem Sinne zum Behindertenausgleich erforderlich, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betrifft. Zu diesen Grundbedürfnissen gehören die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes, der auch die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit Anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens umfasst (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 46 m. w. Nachw.).

Im Fall des Klägers ist das allgemeine Grundbedürfnis der Bewegungsfreiheit betroffen, dass bei Gesunden durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens, Stehens sichergestellt wird. Ist die Fähigkeit durch eine Behinderung beeinträchtigt, so richtet sich die Notwendigkeit eines Hilfsmittels in erster Linie danach, ob durch dieses der Bewegungsradius in einem Umfang erweitert wird, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 12).

Zu dieser Fähigkeit, sich im Nahbereich der Wohnung bewegen zu können, zählt beispielsweise das Einkaufen, die Erledigung von Post- und Bankgeschäften sowie der Besuch von Apotheken, Ärzten und Therapeuten (Urteil des BSG vom 19. April 2007 - B 3 KR 9/06 R -, zitiert nach juris). Im vorliegenden Fall ist dem Kläger eine Bewegung im Nahbereich seiner Wohnung wegen seiner Erkrankung lediglich noch in einem sehr begrenzten Umfang möglich. Er kann nur noch etwa 800 bis 1.000 Meter zu Fuß zurücklegen. Der Senat kann offen lassen, ob ein Behinderter, der lediglich noch eine derartige Gehstrecke zurücklegen kann, sich bereits den notwendigen Freiraum selbst erschließen kann, wie die Beklagte meint. Denn jedenfalls kann der Kläger diese Gehstrecke aufgrund seiner Gleichgewichtsstörungen nur in Begleitung einer Person zurücklegen. Aufgrund der Sturzgefahr ist der Kläger daher überhaupt nicht in der Lage, sich selbständig ohne Hilfe einer Begleitperson außerhalb der Wohnung fortzubewegen. Er benötigt daher zur Erschließung des Nahbereichs entweder einen Elektrorollstuhl oder das begehrte Dreirad. Einen Elektrorollstuhl kann der Kläger indes wegen fehlender feinmotorischer Fähigkeiten nicht bedienen. Deswegen ist das begehrte Dreirad das einzig Hilfsmittel, das geeignet ist, die Behinderung des Klägers auszugleichen und das ihn in die Lage versetzt, sich selbständig, mit eigener Muskelkraft, in dem Nahbereich seiner Wohnung selbständig fortzubewegen. Nur das Dreirad ermöglicht es dem Kläger, sein Grundbedürfnis nach Mobilität selbständig zu erfüllen. Im Übrigen nutzte der Kläger auch seit Jahren ein entsprechendes Dreirad erfolgreich, welches er aber nunmehr aufgrund seiner Größe nicht mehr nutzen kann.

Die Beklagte kann dem nicht erfolgreich entgegen halten, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Dreirad um ein herkömmliches Fahrrad und damit um einen Gegenstand des täglichen Bedarfs handelt. Ein solcher allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens ist dann gegeben, wenn der Gegenstand für alle oder wenigstens die Mehrzahl der Menschen unabhängig von Krankheit oder Behinderung unentbehrlich ist. Umgekehrt liegt ein allgemeiner Gebrauchsgegenstand dann nicht vor, wenn die Hauptfunktion medizinisch geprägt ist und lediglich eine Nebenfunktion auf einen Gebrauchsgegenstand hindeutet (Höfler in Kasseler Kommentar (53. EL 2007), § 33 SGB V Rdnr. 22 b m. w. Nachw.). Dementsprechend sind solche Geräte trotz einer großen Verbreitung keine allgemeinen Gebrauchsgegenstände, die für die speziellen Bedürfnisse von Kranken oder Behinderten hergestellt und überwiegend von diesen benutzt werden (Höfler, a.a.O., § 33 SGB V Rdnr. 22 c).

An diesen Grundsätzen gemessen handelt es sich bei dem streitgegenständlichen Dreirad nicht um einen Bedarfsgegenstand des täglichen Lebens. Das Haverich-Rad wird von der Fa. WHGmbH in B ausweislich des Verkaufsprospektes speziell für die Bedürfnisse Behinderter und Rehabilitanden hergestellt und auch so beworben ("Haverich Behinderten- und Rehafahrzeuge"). Die Fahrzeuge werden danach individuell auf die Bedürfnisse des Behinderten abgestimmt. Dabei werden Körpergröße, Gewicht und Art der Behinderung bei der Fahrzeugplanung berücksichtigt. Sie sind danach entscheidende Faktoren für die Sicherheit des Benutzens und den erfolgreichen Therapieverlauf. Das Dreirad dient damit gänzlich den speziellen Bedürfnissen des Behinderten. Es kann daher nicht in einen von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossenen Teil, der den allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens bildet, und einen den Behinderten Ausgleich dienenden Teil, der als Hilfsmittel einzustufen ist und von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst wird, aufgespalten werden.

Soweit die Beklagte sinngemäß die Wirtschaftlichkeit der Versorgung rügt, in dem sie vorträgt, dass es sich bei dem begehrten Dreirad der Marke H um ein Produkt des oberen Preissegments handele, kann sie damit keinen Erfolg haben. Der Vortrag ist insoweit unsubstantiiert und jede weitere Aufklärung würde sich als eine solche ins Blaue hinein darstellen, zu der der Senat nicht verpflichtet ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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