S 4 KR 517/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Würzburg (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 KR 517/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unter Abänderung des Bescheides vom 14.12.2005 und des Widerspruchsbescheides vom 07.04.2006 ein Rollfiets ohne E-Motor als Hilfsmittel zur Verfügung stellen.
II. Die Beklagte hat von den außergerichtlichen Kosten des Klägers 3/4 zu tragen.
III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte dem Kläger einen sog. "Rollfiets" mit Elektroantrieb als Hilfsmittel der Krankenversicherung zur Verfügung zu stellen hat.

Der 1995 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Am 25.11.2005 ging bei der Beklagten eine Verordnung des Facharztes für Kinderkrankheiten R. Z. vom 28.10.2005 und ein Kostenvoranschlag des Sanitätshauses S. vom 07.11.2005 über einen Rollfiets e-bike H Rollstuhl mit Elektrofahrrad-Schiebeantrieb, Typ H., und Zubehör zum Preis von 7.343,93 Euro ein. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 14.12.2005, der keine Rechtsbehelfsbelehrung enthielt, den Antrag ab. Eine Kostenübernahme sei nicht möglich, da es sich nicht um ein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 33 des 5. Buches Sozialgesetzbuch - SGB V -) handele.

Mit Telefax vom 01.02.2006 legte der Kläger durch die von seinen gesetzlichen Vertretern beauftragten Bevollmächtigten Widerspruch ein. Es sei eine ordnungsgemäße ärztliche Verordnung eingereicht worden, aufgrund derer die Beklagte die beantragten Leistungen zu erbringen habe.

Bei der Beklagten lag ein Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit des Klägers nach dem 11. Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) vor, das vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Bayern am 13.04.2004 durch K. S. erstellt worden war. Seinerzeit war als wesentliche Diagnose eine Trisomie 21 mit ausgeprägtem psychomotorischem Entwicklungsrückstand festgehalten worden. Als Hilfsmittel seien ein Kinderpflegebett, ein Rollstuhl mit Therapietisch, ein Rollbrett, ein Stehtrainer, Windelhosen, Kinderschlupfsack und Orthesenschuhe erforderlich und zur Verfügung gestellt. Es bestehe eine Unfähigkeit des Klägers, die eigenen körperlichen und seelischen Gefühle oder Bedürfnisse wahrzunehmen.

Auf Nachfrage der Beklagten teilte der verordnende Arzt ergänzend mit, dass das Hilfsmittel dazu geeignet sei, die Integration des Klägers in den Alltag zu verbessern und die behinderungsbedingt eingeschränkte Entwicklung voranzutreiben. Das Gerät werde durch die Eltern des Klägers geführt werden müssen. Alternativ käme eine Versorgung mit einem derartigen Hilfsmittel ohne Elektroantrieb in Betracht.

Die Beklagte holte eine Stellungnahme vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung B. ein, die am 09.03.2006 durch Dr. W. erstellt wurde: Der Kläger sei zu einer selbständigen Fortbewegung in einem Rollstuhl nicht in der Lage und könne auch keinen Elektrorollstuhl führen. Das Hilfsmittel sei auch nicht zur Teilnahme an Aktivitäten anderer Kinder oder Jugendlicher und zur Integration in die Gruppe Gleichaltriger geeignet. Es könne allenfalls von den Eltern bedient werden, um Ausflüge zu machen. Dies würde die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nicht begründen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 07.04.2006, der am 12.04.2006 zur Post gegeben wurde, wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Die Rechtsprechung fordere von der Krankenversicherung nur die Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums für den Behinderten im Sinne eines Basisausgleichs und nicht im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten eines Gesunden. Das Radfahren gehöre zwar in breiten Bevölkerungsschichten zum normalen Lebensstandard; seine Benutzung sei jedoch nicht existenznotwendig. Auch sei es im Fall des Klägers zweifelhaft, ob das die Funktionen eines Fahrrad ersetzende Hilfsmittel zur sozialen Einbindung eine Gruppe gleichaltriger gesunder Kinder benötigt werde. Es sei nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, die Erschließung des Fernbereichs sicherzustellen. Regelmäßiges Fahrradfahren sei zwar dazu geeignet, den Gesundheitszustand zu stärken; derartige positive Auswirkungen würden sich auch durch weniger aufwändige Geräte erreichen lassen.

Die Bevollmächtigten des Klägers erhoben daraufhin mit Schreiben vom 24.04.2006 am 27.04.2006 Klage zum Sozialgericht Würzburg. Das beantragte Hilfsmittel sei besonders geeignet, um Fortschritte in allen Bereichen der Entwicklung zu ermöglichen, wobei perzeptive und kommunikative Aspekte besondere Bedeutung haben sollten. Die Versorgung mit einer Rollstuhl-Fahrradkombination sei dann angezeigt, wenn eine Alternative zu handbetriebenen Rollstühlen bzw. zu Elektrorollstühlen benötigt werde. Vorgelegt wurde im Weiteren noch eine ärztliche Bescheinigung des behandelnden Arztes R. Z. vom 06.06.2006, wonach durch die Rollstuhl-Fahrradkombination eine Erweiterung des Erfahrungsbereichs des Kindes mit Verbesserung seiner Lebensqualität zu erwarten sei.

Die Beklagte entgegnete, dass es zwar einleuchtend sei, dass der Familie des Klägers durch eine derartige Rollstuhl-Fahrradkombination bessere Möglichkeiten der gemeinsamen Entfaltung gegeben würden. Dies sei jedoch nicht dem Aufgabenbereich der gesetzlichen Krankenversicherung zuzuordnen, da die elementaren Grundbedürfnisse des Klägers auf Fortbewegung bereits durch die geleisteten Hilfsmittel der Beklagten realisiert seien.

Die Klägerseite weist darauf hin, dass der Kläger aufgrund seiner Behinderung nicht über einen Freiraum verfüge, wie er in der Regel durch einen eigenbetriebenen oder eigengesteuerten Rollstuhl eröffnet werde. Insofern diene das beantragte Hilfsmittel zur Sicherstellung der Mobilität. Auch setzte der Behinderungsausgleich nicht voraus, dass das begehrte Hilfsmittel nachweislich unverzichtbar sei, eine Isolation des Kindes zu verhindern. Der Integrationsprozess sei ein multifaktorielles Geschehen, bei dem die einzelnen Faktoren nicht isoliert betrachtet und bewertet werden könnten. Es reiche aus, wenn durch das Hilfsmittel die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft wesentlich gefördert werde.

Der Kläger beantragt:
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Ablehnungsbescheides vom 14.12.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.04.2006 verpflichtet, den Klägern die Kosten für ein Rollfiets-E-Bike H für ihren Sohn M. S. zu übernehmen bzw. diesen zu genehmigen.
2. Die Beklagte hat sowohl die außergerichtlichen als auch die gerichtlichen Aufwendungen des Klägers zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung zu tragen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig. Sie wurde form- und fristgerecht beim örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht erhoben (§§ 51, 54, 57, 87, 90 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Dabei ergibt sich, dass die Klage von den Eltern des Klägers als gesetzliche Vertreter für diesen betrieben wird. Der Klageantrag ist dahingehend auszulegen, dass die Leistung an den Kläger begehrt wird.

Die Klage ist zur Überzeugung des Gerichts auch teilweise begründet. Der Kläger hat Anspruch auf das beantragte Hilfsmittel, jedoch ohne dass hierbei ein Elektromotor für erforderlich angesehen wird.

Nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung u.a. mit orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.

Aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ergibt sich, dass zum Behinderungsausgleich die Erfüllung des Grundbedürfnisses eines "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" gehört. Die Notwendigkeit des Hilfsmittels richtet sich danach in erster Linie auf die Schaffung eines Bewegungsradius, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Zur Ersetzung des Verlustes der Fortbewegungsfähigkeit gehört die Möglichkeit, sich innerhalb der Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen", oder um im Nahbereich der Wohnung alltäglichen Verrichtungen nachzugehen. Das Zurücklegen längerer Wegstrecken im Rahmen der Freizeitgestaltung ist hiervon nicht erfasst (vgl. z.B. Urteil vom 16.09.1999, B 3 KR 8/98 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 31; Urteil vom 16.09.1999, B 3 KR 9/98 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 32).

Im vorliegenden Fall kann der Kläger - wie in einer parallelen Entscheidung des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 03.03.2006 (Az.: L 1 KR 72/05) - sich im Nahbereich seiner Wohnung überhaupt nicht selbst bewegen. Allenfalls werden erste Ansätze davon berichtet, dass er auf kürzesten Distanzen seinen Rollstuhl selbst antreibt. Der Kläger kann auch einen Elektrorollstuhl nicht allein benutzen und ist zur Fortbewegung des handbetriebenen Rollstuhls regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen. Diese Hilfspersonen, d.h. in erster Linie derzeit die Eltern des Klägers, können den Kläger in dem von der Beklagten zur Verfügung gestellten Rollstuhl im Nahbereich schieben und somit entsprechende Grundbedürfnisse der Mobilität sicher stellen.

Durch die Rechtsprechung ist jedoch anerkannt worden, dass im Falle minderjähriger Behinderter zusätzliche Aspekte rechtlich zu berücksichtigen sind (vgl. z.B. hierzu abgrenzend Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 26.02.2003, S 9 KR 142/99; Urteil des Bundessozialgerichts vom 23.07.2002, Az: B 3 KR 3/02 R, SozR 3-2500 § 33 Nr. 46). Der Kläger gehört dem dort genannten Personenkreis von Personen unter 15 Jahren an, die sich noch voll in der Entwicklungsphase befinden und bei denen sich die verschiedenen Lebensbereiche nicht in gleicher Weise wie bei Erwachsenen trennen lassen. Im Rahmen des Behinderungsausgleiches sei eine möglichst weitgehende Eingliederung des behinderten Kindes bzw. Jungendlichen in den Kreis Gleichaltriger anzustreben. Im Übrigen wird ein soziales Integrationsbedürfnis zwischenzeitlich auch bei Erwachsenen im Rahmen des Leistungsumfangs der gesetzlichen Krankenversicherung teilweise akzeptiert (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, a.a.O). Im Fall des Klägers wird durch das begehrte Hilfsmittel dem Kläger zwar nicht ermöglicht, unmittelbar eigenständig den Kontakt mit Gleichaltrigen herzustellen. Er ist hierzu auch weiterhin auf die Unterstützung von Hilfspersonen angewiesen. Jedoch wird die Kontaktaufnahme durch die Ermöglichung einer größeren Mobilität leichter gemacht.

Das Gericht sieht, auch wenn die vorliegenden Unterlagen Hinweise auf eingeschränkte psychosoziale Kontaktmöglichkeiten des Klägers enthalten, keinen Ausschlussgrund für das beantragte Hilfsmittel. Der Kläger ist gegenüber Reizen der Außenwelt und sozialen Kontakten nicht vollständig unempfänglich. Eine Förderung der Kontaktmöglichkeiten führt dazu, dass die gleichbe- rechtigte Teilhabe am Leben der Gemeinschaft gefördert wird. Für das Gericht liegt in der Zurverfügungstellung des Hilfsmittels gerade ein wesentlicher Förderungsaspekt.

Die vom behandelnden Arzt angenommene Förderung der Entwicklungsperspektiven erscheint für das Gericht einleuchtend und überzeugend, da es aus der Entwicklungspsychologie allgemein bekannt ist, dass eine Reizverarmung als Entwicklungshemmnis anzusehen ist und die Entwicklung insbesondere in jungen Jahren, jedenfalls aber bis zu der vom Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 23.07.2002 (a.a.O.) aufgezeigten Grenze von 15 Jahren besonders gefördert werden kann.

Somit ermöglicht die vom Kläger beantragte Rollstuhl-Fahrradkombination ihm eine Erweiterung seines Freiraumes, seiner Kontaktmöglichkeiten und seiner Entwicklungschancen. Sie ersetzt auch die Möglichkeiten, die ein Elektrorollstuhl bieten würde, wenn der Kläger zu einer entsprechenden Bedienung in der Lage wäre.

Dennoch kann aus dieser Gleichsetzung nicht abgeleitet werden, dass dem Kläger auch ein elektrobetriebenes Rollfiets zur Verfügung gestellt werden müsste. Da im Wesentlichen auf soziale Kontaktmöglichkeiten abzustellen ist und nicht etwa auf die Teilnahme an längeren Fahrradausflügen (vgl. hierzu die Entscheidung des LSG Rheinland-Pfalz a.a.O.), war aus Sicht des Gerichtes eine Rollstuhl-Fahrradkombination ohne Zusatzantrieb als ausreichendes Hilfsmittel anzusehen.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass die vom Kläger benötigten Hilfspersonen, d.h. derzeit in erster Linie die Eltern, aufgrund eigener gesundheitlicher Einschränkungen nicht in der Lage wären, eine Rollstuhl-Fahrradkombination ohne Zusatzantrieb zu bedienen.

Dementsprechend waren die angefochtenen Bescheide der Beklagten teilweise aufzuheben und die Beklagte war dazu zu verurteilen, dem Kläger das begehrte Hilfsmittel einschließlich des zur Nutzung erforderlichen Zubehörs, jedoch ohne die Zusatzausstattung eines Elektroantriebes, zur Verfügung zu stellen.

Nachdem der Kläger mit seiner Klage teilweisen Erfolg hatte, ist auch eine anteilige Kostentragung durch die Beklagte angemessen (§ 193 SGG). Das Gericht sah hier eine Kostenübernahme von 3/4 der außergerichtlichen Kosten des Klägers im Klageverfahren und im Widerspruchsverfahren als insbesondere dem Ausmaß des Obsiegens und Unterliegens angemessen an.
Rechtskraft
Aus
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